Читать книгу Petersburg - Andrei Bely - Страница 10
Und indem sie ihn erblickten, weiteten sie sich, begannen zu leuchten, zu glänzen . . .
ОглавлениеIn der grünlichen Beleuchtung des Petersburger Morgens, im rettenden »Als ob« zirkulierte vor dem Senator Ableuchow auch das übliche Phänomen: der Strom von Menschen; wortstumm wurden hier die Menschen; ihre Wogen, wie die ans Ufer schlagenden Wellenfluten — dröhnten, brüllten; das gewöhnliche Ohr aber begriff es nicht im geringsten, daß jene donnernden Wogen menschliche Wogen waren.
Mit der vorderst flutenden Menge verkehrte der greise Senator mit Hilfe der Drähte (der Telegraphen- und Telephondrähte), und der Schattenstrom prägte sich in seinem Bewußtsein wie die ruhig fließende Kunde aus einer hinter Fernen liegenden Welt.
Apollon Apollonowitsch dachte: an die Sterne, an die Unfaßlichkeit der dahinrollenden Donnerwogen; und sich auf seinem schwarzen Polster wiegend, stellte er Berechnungen an über die Stärke der vom Saturn herüberströmenden Lichtkraft.
Plötzlich . . .
— faltete sich sein Gesicht und wurde von einem Zucken entstellt; krampfhaft rollten die steinernen, von Blau umränderten Augen; die mit schwarzem Wildleder bekleideten Hände flogen bis zur Höhe der Brust, als sollten diese Hände ihn schützen. Sein Oberkörper sank zurück und der Zylinder fiel, an die Wand aufschlagend, auf die Knie unter den entblößten Kopf . . .
Die vorübergleitenden Silhouetten betrachtend (Mützen, Hüten, Federn), erblickte Apollon Apollonowitsch unter den Mützen, Hüten, Federn in der Ecke — ein paar wahnsinnige Augen: die Augen zeigten eine unerhörte Eigenschaft; die Augen erkannten den Senator; und indem sie ihn erkannten, wurden sie wahnsinnig; vielleicht hatten die Augen an der Ecke gelauert; und indem sie ihn erblickten, weiteten sie sich, begannen zu leuchten, zu glänzen.
Dieser wahnsinnige Blick war ein bewußt geworfener Blick und gehörte einem unbestimmten Individuum mit schwarzem Schnurrbärtchen, in einem Mantel mit aufgeschlagenem Kragen; wenn sich Apollon Apollonowitsch später in die Einzelheiten des Geschehnisses vertiefte, kam er — eher durch Überlegung als durch Erinnerung — auf noch einen Umstand: in der rechten Hand hielt das Individuum ein in ein nasses Tuch gewickeltes Paket.
Die Sache war ja so einfach: der Strom der Droschken hielt den Wagen an der Straßenkreuzung auf (dort hob eben der Schutzmann sein weißes Stäbchen in die Höhe); die vorbeiziehende Woge von Individuen, gedrängt von den Droschken, die quer den Newskij durchschnitten, diese Woge wurde ganz einfach an den Wagen des Senators gedrängt und zerstört? die Illusion: wenn er, Apollon Apollonowitsch, über den Newskij raste, war er Milliarden von Werst weit weg von dem menschlichen Tausendfüßler, der dieselbe Straße beschritt; beunruhigt rückte Apollon Apollonowitsch dicht an das Fenster heran und sah, daß ihn nur eine dünne Wand und ein vier Werschok breiter Raum von der Menge trennte; hier hatte er das Individuum erblickt; und begann es ruhig zu betrachten; es war etwas Bemerkenswertes in seiner ganzen unansehnlichen Gestalt; und sicher wäre ein Physiognomiker, zufällig in der Straße auf diese Figur stoßend, überrascht stehengeblieben und würde später bei seinen Geschäften an das gesehene Gesicht denken; die Besonderheit des Gesichtes lag nur in der Schwierigkeit, seinen Ausdruck unter irgendeine Kategorie zu bringen — in nichts anderem . . .
Diese Betrachtung wäre durch den Kopf des Senators gehuscht, wenn er auch nur eine Sekunde lang beobachtet hätte; doch es dauerte keine Sekunde. Der Unbekannte hob die Augen und — hinter den Spiegelscheiben des Wagens, in vier Werschok Entfernung von sich, erblickte er — nicht ein Gesicht, sondern . . . einen Totenschädel im Zylinder und ein riesiges blaßgrünes Ohr.
In derselben Viertelsekunde erblickte der Senator in den Augen des Unbekannten — jene Unbegrenztheit des Chaos, aus der die neblige, vielschlotige Ferne und die Wassiljewskij-Insel schon seit jeher zum Haus des Senators hinüberschielte.
Da eben war es, wo sich die Augen des Unbekannten weiteten, zu leuchten, zu glänzen begannen; und da eben flogen hinter dem Wagenfenster, in vier Werschok Entfernung, die Hände des Senators in die Höhe und bedeckten die Augen.
Verschwunden ist der Wagen; mit ihm entschwand auch Apollon Apollonowitsch in die feuchten Fernen; dorthin, wo an klaren Tagen herrlich die goldene Spitze, die Wolken und der purpurne Sonnenuntergang glänzten, wo aber heute schmutzige Wolkenschwärme zogen . . .
Apollon Apollonowitsch litt an Herzerweiterung.
Einen kurzen Augenblick nur hatte all dies gedauert.
Apollon Apollonowitsch setzte mechanisch den Zylinder wieder auf und drückte den wildledernen schwarzen Handschuh ans hüpfende Herz, dann nahm er sein geliebtes Betrachten der Kuben auf, um sich über das Geschehene ruhige und klare Rechnung zu geben.
Apollon Apollonowitsch sah wieder aus dem Fenster des Wagens: was er jetzt sah, verwischte das Frühere: eine nasse, glitschrige Straße, nasse, glitschrige Pflastersteine, die fiebernd glänzten im septemberlichen Tag!
Die Pferde hielten. Der Polizist salutierte. Hinter dem Fenster des Vestibüls, unter dem die Säulen des kleinen Balkons stützenden bärtigen Karyatiden dasselbe Schauspiel wie immer: die schwerköpfige Messingkeule glänzte in der Hand des Portiers; die achtzigjährige Schulter drückte ein dunkler Dreimaster; ein achtzigjähriger Portier schlummerte über dem »Börsenkurier«. So schlummerte er schon vorgestern, gestern. So schlummerte er in jenen verhängnisvollen fünf Jahren . . . So wird er auch weitere fünf Jahre schlummern.
Fünf Jahre sind es her, seit dem Tag, an dem Apollon Apollonowitsch als unverantwortliches Haupt eines Amtes im Amt erschienen war; seit dieser Zeit sind fünf Jahre verstrichen. Und Ereignisse hat es gegeben: China revoltierte, Port Arthur war gefallen. Doch unverändert blieben die Visionen der Zeiten: achtzigjährige Schultern, Livreetressen, ein Dienerbart.
Die Flügeltüre flog auf: die Messingkeule klopfte. Durch die Wagentür trug Apollon Apollonowitsch seinen steinernen Blick in das breite Vestibül hinüber. Dann schloß sich die Tür hinter ihm.
Apollon Apollonowitsch stand und atmete.
»Exzellenz . . . wollen sich doch hinsetzen . . . Siehe doch nur: Exzellenz schöpfen kaum Atem.«
»Immer laufen Exzellenz, als ob Sie noch ein kleiner Junge wären . . .«
»Wollen doch Exzellenz ein wenig sitzen, bis Sie zu sich kommen.«
»So ist es, ja . . .«
»Vielleicht . . . einen Schluck Wasser?«
Aber das Gesicht des ruhmreichen Mannes erhellte sich wieder, kindisch wurde es, greisenhaft, überzog sich mit Fältchen.
Doch das Herz, der Vernunft nicht gehorchend, bebte und pochte; und alles umher schien deswegen so — und wieder auch nicht so . . .