Читать книгу Ich bin auch Jonathan - Angela Lembo-Achtnich - Страница 10
Gott sieht alles
◼ Um 1984
ОглавлениеGott war die höchste Instanz im Hause Fischer. Die Familie war aus der reformierten Kirche ausgetreten und hatte zur Freikirche Chrischona gewechselt. Ihre Kinder zu strenggläubigen Christen zu erziehen, war erste Priorität. Täglich lasen die Eltern noch vor dem Frühstück aus der Bibel vor. Danach machten sie sich mit den drei Söhnen Gedanken zu den Passagen und schlossen die Andacht mit einem Gebet ab. Über Mittag war die Zeit für eine Bibellesung knapp, aber sie reichte, um einen Psalm vorzulesen. Psalm 117 war Jonathans liebster, denn er besteht aus nur zwei Versen: »Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker! Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja!« Psalm 119 dagegen hasste Jonathan, weil er mit 176 Versen der längste war. Am Abend las die Familie jeweils noch eine christliche Geschichte. Und vor dem Zubettgehen war es üblich, zu beten und sich bei Gott für die Sünden des Tages zu entschuldigen.
Davon gab es viele. Jonathan entschuldigte sich nicht nur dafür, dass er den Vater provoziert hatte. Er entschuldigte sich auch, weil er geschwindelt hatte. Weil er keine Lust gehabt hatte auf die Gartenarbeit. Weil er unkeuschen Gedanken nachgehangen hatte. Er fand tausend Gründe, sich schlecht zu fühlen. Denn sündhaftes Verhalten konnte schlimme Folgen haben. Nur wer ohne Sünde sei, käme zu Jesus in den Himmel, hatte der Vater seinen Söhnen eingetrichtert. Die Sündigen müssten zurückbleiben und unter der Herrschaft des Antichristen leben.
So predigten es vor allem in den Achtzigerjahren die Gläubigen im Evangelikalismus, zu dem auch die Freikirche Chrischona gehörte. Sie waren überzeugt, dass das Ende der Welt bevorstehe, und gingen davon aus, dass das Böse, der Antichrist, komme und für sieben Jahre die Weltherrschaft übernehme. Doch zuvor würde die sogenannte Entrückung stattfinden. Das bedeutet: Gläubige Christen kommen zu Jesus in den Himmel, wohingegen Ungläubige und Sünder auf der Erde bleiben und dem Antichristen gegenübertreten müssen. Diese Vorstellung stürzte viele dieser Leute in Nöte. Denn wer hatte sich zum Beispiel nicht schon einmal in einem Termin getäuscht – etwa wegen der Umstellung von Winter- zu Sommerzeit – und stand dann allein am vereinbarten Treffpunkt? Für strenggläubige Christen war dies der Anfang vom Ende. Sie fürchteten, die Entrückung habe bereits stattgefunden und sie seien als einzige Sünder zurückgeblieben.
Auch Jonathan jagten harmlose Ereignisse einen Schrecken ein. Etwa wenn draussen ein Gewitter wütete und das Donnergrollen ihn bis ins Mark erschütterte. Dann kroch die Angst in ihm hoch. Er versteckte sich unter der Decke, dachte, das Ende sei nah.
2019 ◼ Daran erinnert sich Jonny, als er vor dem Haus steht und zu dem Fenster hinaufblickt, das einst zu seinem Kinderzimmer gehört hat.
Wovor genau hast du dich gefürchtet?
Den Kopf unter der Decke hervorzustrecken und meine Brüder nicht mehr zu sehen. Als einziger Sünder zurückzubleiben. Miterleben zu müssen, wie mir die Fingernägel einzeln ausgerissen würden. Wie ich nach jedem Nagel gefragt würde, ob ich noch an Gott glaube. Wie ich verfolgt und verbrannt würde.
Wie warst du zu dieser Vorstellung gekommen?
Die Angst vor der Entrückung war wie ein Gift, das einem langsam eingeflösst wird. Sie wurde damals zu einer Lebensangst. Mein Vater sagte, Gott schaue immer zu. Und er sei mir böse wegen vielem, was ich tat. Weisst du, wie schlimm die Vorstellung ist, jemand schreibe jeden deiner Gedanken mit? Wenn du davon überzeugt bist, nichts bleibe verborgen?
Welche Gedanken eines Kindes könnten so schlimm sein, dass Gott es dafür bestraft?
Ich entschuldigte mich zum Beispiel, weil ich mir im Spiel vorgestellt hatte, ich sei ein König, und damit gelogen hatte. Später ging es oft um Sexualität. Weil ich mit meinem »Pfiifeli« gespielt oder irgendwelche Fantasien gehabt hatte. Nacktheit war ohnehin eine grosse Sünde.
Nacktheit generell oder nur in Zusammenhang mit Sexualität?
Beides. Wir durften nur in Badehosen in die Badewanne, damit wir uns nicht versehentlich zwischen den Beinen berührten. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, an dem ich nackt vor meiner Mutter stand. Das war, nachdem ich fast ertrunken wäre.
Was war geschehen?
Ich war etwa sieben oder acht Jahre alt. Starker Regen hatte zu Überschwemmungen geführt, und der Bach hinter dem Haus war über die Ufer getreten. Er riss alles mit. Wir waren draussen, um dem Nachbarn zu helfen, seine Sachen herauszufischen. Ich erwischte einen zu schweren Balken, der mich ins Wasser zog. Der Bach hatte viel Zug und schoss unter der Brücke hindurch und Richtung Tobel. Ich weiss nicht mehr genau, wie alles geschehen ist. Nur, dass ich mich am Balken festhalten konnte, der sich glücklicherweise an einer Stelle verkantete. Und dass ich dachte, jetzt sei mein Leben zu Ende. Ein Nachbar war meine Rettung. Er zog mich heraus.
Warst du verletzt?
Nein, aber unterkühlt. Meine Mutter zog mir im Haus die nassen Kleider vom Leib und duschte mich warm ab. Ich war verstört; nicht in erster Linie wegen dem, was passiert war, sondern weil ich nackt vor ihr stand. Ich fand das fast noch schlimmer als die Tatsache, dass ich schier gestorben wäre.
Schlimmer als der Tod vor Augen war die Entblössung vor deiner Mutter?
So empfand ich es. Nacktheit und alles, was auch nur im Entferntesten mit Sexualität zu tun hatte, war eine grosse Sünde.
Wie warst du zu dieser Überzeugung gekommen?
Die Eltern hatten es uns gesagt. Und sie lebten es auch vor. Ich kann mich an keinen Augenblick erinnern, in dem meine Eltern Zärtlichkeiten ausgetauscht hätten. Keine liebevollen Berührungen im Alltag. Kein Händehalten. Keine Küsse. Flatterte ein Modekatalog ins Haus, entfernte mein Vater zuerst alle Seiten, auf denen Frauen Unterwäsche präsentierten. Erst dann liess er uns die Hefte anschauen.
Glaubst du noch immer, dass Nacktheit und sexuelles Verlangen sündhaft sind?
Nein. Schon lange nicht mehr. Aber die ständige Angst, etwas Falsches zu tun, hinterlässt bis heute Spuren.
Welche?
Bis ich fünfzehn war, hatte ich mich jeden Abend für mehrere Dutzend Dinge zu entschuldigen, die nicht recht waren. Dass ich auch Gutes getan hatte – für eine Nachbarin den Rasen gemäht beispielsweise oder für eine andere eingekauft –, sah ich nicht mehr. Ich war überzeugt, dass ich nicht gut genug war für Gott.