Читать книгу Ich bin auch Jonathan - Angela Lembo-Achtnich - Страница 12
Die Kluft zwischen den Welten wird grösser
◼ Ab 1988
ОглавлениеScham. Sie war stets da, als Jonathans neue auf die alte Welt traf. Etwa als die Mutter ihn und seine Teamkollegen zum Fussball fuhr und im Auto betete, ihnen möge nichts geschehen. Oder als die Eltern dafür sorgten, dass er vom Unterricht befreit wurde, weil mit einem fasnächtlichen Schulanlass ein heidnischer Brauch gefeiert oder bei der Aufklärung unzüchtige Bilder gezeigt wurden. Auch dem Religionsunterricht musste Jonathan fernbleiben, da er in den Augen seines Vaters zu wenig streng war. Das brachte den Jungen in Erklärungsnot gegenüber der Klasse. So sehr, dass er immer neue Lügenkonstrukte erdachte, weil er den wahren Grund seines Fehlens nicht preisgeben wollte. Hin und wieder hatte er zu viele erfundene Geschichten parallel am Laufen und verstrickte sich. Er geriet in einen Teufelskreis, denn mit jeder neuen Lüge in der Schule gab es für Jonathan abends einen weiteren Grund, sich bei Gott zu entschuldigen. Sein Sündenregister wurde länger und länger.
Die Kollegen versuchte der Junge so gut wie möglich von seinem Elternhaus fernzuhalten. Dennoch gab es immer wieder Berührungspunkte. Mutter Helen veranstaltete an einem Abend pro Woche eine Bibelstunde für die Kinder aus der Nachbarschaft. Dabei erzählte sie biblische Geschichten und inszenierte mit den Kindern christliche Theaterstücke. Im Anschluss daran stellte der Vater ein Flutlicht auf die Strasse, damit die Buben und Mädchen Unihockey spielen konnten, obschon es bereits eingedunkelt hatte. Die Kinder hatten Spass und kamen gern. Auch Jonathan spielte mit. Aber er schämte sich, weil alle gesehen hatten, wie er lebte, dass überall an den Wänden Bibelverse hingen. Dass er anders war. Und er bemühte sich, ihnen trotzdem zu gefallen.
An einem Wochenende fand wie jedes Jahr im Quartier ein Fest statt. Bislang hatte Erich den Kindern verboten, daran teilzunehmen. Aber nun hatte er in der Jüngerschaftsschule gelernt, dass er das Wort Gottes in die Welt hinaustragen sollte. Das Quartierfest schien ihm eine gute Gelegenheit, zu missionieren. Man hatte gegessen, und die Nachbarn waren vom Alkohol schon ein wenig angesäuselt, als Erich aufstand und um Ruhe bat. Alle sollten still sein, sagte er, er wolle nun beten. Aber es wurde nicht still, sondern alle lachten laut oder grölten. Und da war wieder das Gefühl, vor dem Jonathan im Beisein seiner Eltern stets auf der Hut war. Der Wunsch, wegzulaufen und nicht mehr zu diesen Eltern zu gehören.
Doch wohin gehörte Jonathan? Er wusste es nicht. Je älter er wurde und je weiter weg von zu Hause sein schulischer Weg ihn führte, desto grösser wurde die Kluft zwischen seiner alten und seiner neuen Welt. Als er mit zwölf im zehn Kilometer entfernten Sissach ins Progymnasium kam, kannte kaum einer seine Geschichte. Er hatte darin die Möglichkeit gesehen, neu anzufangen. Doch der Neustart wollte nicht recht gelingen. Immer wieder meinte Jonathan, sich seinen Schulkameraden erklären zu müssen. Warum er am Sonntag nicht Fussball spielen dürfe. Warum sie ihn nicht zu Hause besuchen könnten. Warum er keinen Alkohol probierte. Warum keine Zigarette. Jedes Mal führten ihm solche Fragen vor Augen, dass sein Leben nicht der Norm entsprach. Das verstärkte sein Gefühl, verloren zu sein.
Weil Jonathans Sehnsucht nach Liebe zu Hause nicht gestillt wurde, suchte er, was ihm fehlte, in seiner neuen Welt. Bei den Kameraden und den Lehrern. Er versuchte, wann immer möglich, positiv aufzufallen. Er wollte allen beweisen, dass er ein guter Typ war, und zwar obwohl er aus einem streng religiösen Haus kam.
Um dieses perfekte Bild von sich zu generieren, leistete er mehr als alle anderen. Er schrieb in fast allen Fächern Bestnoten. Liess die Kameraden daran teilhaben und öffnete bereitwillig seine Hefte, damit sie abschreiben konnten. Er begeisterte die Kollegen mit neuen Spielideen. Wurde im Progymnasium zum Klassenchef gewählt und nahm seine Rolle so ernst, dass er mit allen seinen Mitschülern und -schülerinnen einzeln Gespräche über deren Befindlichkeiten führte.
Was Jonathan anstrebte, war mehr als Normalität. Er wollte herausragen. Ein Anführer sein, der die Dinge anpackte und die Menschen um sich herum mitriss. Er machte überall mehr als alle anderen und entwickelte sich durch seinen Fleiss auf vielen Gebieten zum Überflieger.
Schon als Primarschüler hatte er auf seinem Euphonium geübt, bis sein Zahnfleisch blutete. Schnell war er besser gewesen als alle Gleichaltrigen und im Musikverein mit den Erwachsenen aufgetreten – im weissen Hemd, weil es für seine Grösse noch keine Uniform gab. In der zweiten Konzerthälfte hatte er jeweils ein Solo gespielt. Mit zitternden Händen trug er den Notenständer zu seinem Platz neben dem Dirigenten. Ein kleiner Bub zwischen erwachsenen Männern und Frauen. Seine Töne kamen klar und rein. Er spielte fehlerfrei. Sobald er das Instrument abgesetzt hatte, brandete Applaus auf. Bei jedem Konzert. Jonathan verbeugte sich und spürte, wie die Nervosität aus seinen Gliedern wich und einem anderen Gefühl Platz machte: Erleichterung, Wärme. Dann flossen seine Tränen. Freudentränen. Und das Publikum, gerührt von den Emotionen dieses kleinen Musikgenies, applaudierte noch mehr.
Applaus. Auf der Bühne des Musikvereins und im Schultheater. Anerkennung im Klassenzimmer und auf dem Pausenplatz. Jonathan wurde süchtig danach. Er deutete den Beifall als Zeichen, dass er den Menschen nicht gleichgültig war. Als Zeichen der Liebe.
Doch inzwischen waren Jonathans beide Welten – die zu Hause und die in der Schule – so weit auseinandergedriftet, dass er immer häufiger den Glauben seines Vaters anzweifelte. Was auch immer dieser sagte, Jonathan opponierte. Er realisierte mehr und mehr, dass eine Diskrepanz bestand zwischen dem, was Erich predigte, und dem, was er seinen Kindern vorlebte.
2019 ◼ Auf der Fahrt von Läufelfingen zurück nach Zug erinnert sich Jonny an diese Kluft.
Was passte nicht zusammen?
Mein Vater sagte, er vertraue auf die Gnade und Hilfe Gottes – und war trotzdem oft lebensmüde. Er predigte Nächstenliebe – und schlug dennoch seinen Sohn.
Deine Brüder hat er nicht geschlagen?
Nein. Das lag vermutlich daran, dass ich als Einziger schon so früh rebellierte.
Hast du deinem Vater seine Widersprüche vorgehalten?
Als Bub konnte ich sie noch nicht benennen. Doch ich spürte sie und schrie ihn an: »Du lügst!« Später, als Teenager, konnte ich ihm mit Worten Paroli bieten. Ich war bibelgewandt, wusste genau, wo was stand, und konnte ihm meine Argumente um die Ohren schlagen.
Zum Beispiel?
In der Bibel steht die Geschichte von Noah, der eines Tages nackt und betrunken in seinem Zelt lag. Mein Vater erzählte dazu immer nur, was Noahs Söhne taten. Vom bösen Ham, der Noah nackt in seinem Zelt liegen sah und dessen Blösse nicht bedeckte. Und von den beiden guten, Sem und Jafet, die ihren Vater – aus Scham, ohne hinzublicken – zudeckten. Was zuvor geschehen war, dass Noah nämlich zu viel von seinem selbst angebauten Wein gesoffen hatte, verschwieg mein Vater stets. Ich aber wusste es und brüllte ihn an: »Wie passt das denn bitte schön in deine christliche Welt, dass Noah, der mit seiner Arche die Welt gerettet hat, hackedicht und splitterfasernackt auf dem Boden seines Zeltes landete?« Am liebsten aber hielt ich ihm die Geschichte von König David aus der Bibel vor.
David, der Goliath mit einer Steinschleuder besiegte?
Genau. Aber es ist nicht diese Geschichte, die ich meinem Vater unter die Nase gehalten habe, sondern eine andere, die ich mir immer so vorstellte: König David entdeckt Batseba beim Baden und denkt: »So eine schöne Frau. Die will ich.« Er holt sie zu sich, schläft mit ihr, sie wird von ihm schwanger. Um den Ehebruch zu vertuschen, versucht David, das Kind Batsebas Ehemann unterzujubeln, was aber misslingt. Also tut er Folgendes: Er schickt Batsebas Mann an die Front, wo passiert, was er beabsichtigte – der Gehörnte stirbt, und König David kann Batseba nach angemessener Trauerzeit heiraten. Wie kaputt ist denn das? Ich sagte zu meinem Vater: »Dein Gott hat diesen Intriganten auserwählt! Und ich soll in die Hölle kommen, weil ich gestern gelogen habe?«
Wie reagierte dein Vater?
Er fühlte sich in die Ecke gedrängt und rastete aus. Aber das war mir egal. Ich dachte: »Du kannst mich jetzt anbrüllen, so lange du willst. Ich habe gewonnen. Punkt.«
Haben deine Geschwister auch aufbegehrt?
Nein, ich war der einzige Rebell. Mit meinem lauten Widerstand nahm ich so viel Platz ein, dass für meine Geschwister keiner übrig blieb. Ihre Abnabelung erfolgte erst viele Jahre später.
Wo war deine Mutter, wenn dein Vater und du jeweils aneinandergeraten seid?
Ich weiss es nicht. Interessanterweise geht es meinen Brüdern heute gleich. Jeder von uns hat seine eigene, schwierige Geschichte mit dem Vater. Und keiner erinnert sich daran, wo die Mutter war.
Woran mag das liegen?
Ich frage mich heute schon, wie eine Mutter nicht mitbekommen kann, dass ihr Kind vom Vater gedemütigt und verhauen wird. Aber als Junge sah ich keinen Grund, ihr Vorwürfe zu machen. Sie lehrte uns schwimmen und Ski fahren, war in all den Tagen für uns da, wenn Vater wegen seiner Krankheit im Zimmer verschwand, und fing alles auf, was er nicht leisten konnte.
Machst du ihr heute Vorwürfe?
Nein, weil ich glaube, dass sie selbst eine Gefangene ihres Glaubens war. Aber ich erlebte in meiner Kindheit Situationen, die ich heute schwer nachvollziehen kann und die in mir die Frage aufkommen lassen: Warum hat sich keiner wirklich um dieses rebellische Kind gekümmert?
An welche Situationen denkst du?
Zum Beispiel die, als mich mein Vater wieder einmal in die Ecke gedrängt und kleingemacht hatte. Ich stapfte in die Küche, holte ein Messer und rannte damit in mein Zimmer. Auf der Treppe schrie ich: »Ich bringe mich um!« Es kümmerte niemanden. Keiner kam mir nach. Ich fühlte mich alleingelassen und ungeliebt. Für mich als Kind war klar: Es war allen egal, ob ich lebe oder sterbe.
Ist Gleichgültigkeit schlimmer als Hass?
Es wäre mir lieber gewesen, einer wäre in mein Zimmer gekommen und hätte eine Tirade losgetreten. Das wäre zumindest eine Reaktion gewesen. Sie hätte mir gezeigt, dass da auch Gefühle waren. Die Gleichgültigkeit aber war schlimmer, denn sie liess nur einen Schluss zu: Keiner liebt mich.
Hast du deiner Mutter je gesagt, dass du dich als Kind von ihr alleingelassen gefühlt hast?
Ja, vor ein paar Jahren. Ich sagte, sie habe mich schon in der Kindheit alleingelassen, sie könne doch nicht sagen, dass sie mein Leiden nicht gesehen habe. Bei solchen Themen weicht sie mir aber immer aus. Vielleicht reagiert sie anders, wenn du sie fragst.