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Vater Erich gründet eine Kirche
◼ 1989

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Ungefähr zwei Jahre vor Jonathans Eintritt ins Progymnasium, er war etwa zehn, hatte Vater Erich seine Suche nach einer neuen Kirche eingestellt. Keine vertrat die strenge Linie, die er sich gewünscht hatte. Aufgeben kam aber nicht infrage. In der Jüngerschaftsschule war er Menschen begegnet, die seine Ansichten teilten. Ihnen – und sich selbst – wollte er eine Zuflucht bieten. Einen Ort, wo sie einen konsequenten christlichen Glauben leben konnten.

Darum gründete Erich Fischer Ende der Achtzigerjahre seine eigene Kirche. Einen Namen brauchte diese Hausgemeinde nicht. Nur einen Ort, wo sie sich treffen konnte – in seinem Haus in Läufelfingen. Und einen Mann, der sie anleitete – ihn, Erich.

Dieser Idee ordnete Erich fortan alles unter. Er leerte das Zimmer im oberen Stock, in dem er bislang seine Keramikkunst ausgestellt hatte, und richtete dort einen Andachtsraum ein. Seine Töpferei, mit der er ein bescheidenes Einkommen erzielt hatte, gab er zugunsten der Kirche auf. Die Familie lebte jetzt von den Spenden der Mitglieder. Sie gaben, was gerade fehlte: Kleider, Essen, ein altes Auto. Wer ausreichend verdiente, überliess Erich und seiner Familie den »Zehnten« seines Lohns, damit sie versorgt waren. Eine gängige Methode, mit der strenggläubige Christen dafür sorgen, dass jeder genug zum Leben hat.

Die Mitglieder kamen aus der ganzen Nordwestschweiz. Am Wochenende hielt Erich einen Gottesdienst. An den Abenden bot er Gebetskreise und Bibelstunden an. Und daneben Ehetherapien und Lebenshilfe für die Mitglieder. Im Kreis der Gläubigen empfand Jonathan zu Beginn Stolz, dass ausgerechnet sein Vater diese Gemeinde leitete. Er hatte Freude an der musikalischen Begleitung des Gottesdienstes, für die sich die Familienmitglieder zu einer Band formiert hatten und unter der Woche gemeinsam probten. Jonathan sang, die Brüder spielten Gitarre und Akkordeon.

Das Gemeinschaftsgefühl, das ihn beim Musizieren mit der Familie beflügelte, hielt aber nicht lange an. Schon nach wenigen Monaten überwog die Scham. Etwa wenn jemand aus dem Dorf am Wochenende hinter dem Haus vorbeispazierte und zufällig sah, wie Erich im Bach erwachsene Gläubige taufte. Oder wenn der Vater bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu missionieren versuchte. Schnell hatte sich in Läufelfingen herumgesprochen, dass Erich Fischer eine Sekte gegründet hatte.

2019 ◼ Sekte. Das Wort lässt Jonny noch heute zusammenzucken. Er schüttelt den Kopf, als er darüber nachdenkt, wie oft er gefragt worden war, ob sein Vater ein Sektenführer sei. Als Jugendlicher musste er sich dauernd erklären.

Wie hast du die Sektenfrage beantwortet?

Ich sagte, wir seien keine Sekte, sondern die Abspaltung einer Kirche, eine Hausgemeinde.

Damit rechtfertigen viele Sekten ihr Tun. Entscheidend ist nicht das Etikett, sondern ob bestimmte Merkmale zutreffen.

Wer sagt das?

Infosekta, die Informationsstelle für Sektenfragen.

Ich habe mich ein Leben lang darum bemüht, die Glaubensgemeinschaft meines Vaters nach aussen zu verharmlosen. Darum habe ich mich nie wirklich mit Sektenkriterien auseinandergesetzt. Was sind denn das für Merkmale?

Zum Beispiel eine straff hierarchische und doktrinäre Struktur.

Unser Vater war zuoberst, alle Entscheide liefen über ihn. Weitere Merkmale?

Isolation und starke Abgrenzung der Gruppe nach aussen.

Das ergab sich von allein. Mit ihren extremen Ansichten fühlten sich die Mitglieder nur in der Gruppe verstanden. Sie verbrachten Ferien und Freizeit miteinander. Gibt es noch mehr Merkmale?

Einteilung der Welt in Gut und Böse und Absolutheitsanspruch – nur die eigenen Lehren sind richtig.

Das Totalitäre machte mich, je älter ich wurde, schier wahnsinnig. Ich war schon damals ein wissensdurstiger Mensch und hätte gern über manche Dinge gesprochen. Mich interessierte die Meinung anderer, ich wünschte mir, zu philosophieren und zu diskutieren. Aber das ging nicht. Mir hatte zum Beispiel »Die Moldau«, eine Komposition von Bedrich Smetana, gefallen. Mein Vater hatte zuerst mitgehört und sich mit mir in der Musik verloren. Das war schön. Als ich das Stück aber wieder und wieder hören wollte, bremste er mich. Er fürchtete, die Musik könnte für mich zu etwas Göttlichem werden. So war es mit allem. Unsere Freude durfte allein dem Allmächtigen gelten. Nur dort durften wir uns »erquicken«.

Ein weiteres Merkmal ist das Elitebewusstsein der Gruppe.

Wir waren Auserwählte.

Erlösungs- und Heilsversprechen.

Klar, tausende. Nicht zuletzt die Taufe. Meine Eltern hatten mich als Baby nicht taufen lassen, weil ich mich eines Tages aus freien Stücken dafür entscheiden sollte. Als ich alt genug war, wollte mir mein Vater das Ritual schmackhaft machen: »Komm, mein Sohn«, sagte er. »Wenn du getauft bist, ist alle Sünde weg, und du kannst neu anfangen. Dann wirst du geliebt und auf Händen getragen werden.«

Und? Hast du dich taufen lassen?

Nein.

Dein Vater hat das einfach so akzeptiert?

Ihm blieb nichts anderes übrig. Eine Taufe funktionierte nur, wenn der Täufling sich freiwillig dazu entschied. Aber meine Zweifel an dem, was der Vater predigte, wurden immer grösser. Darum konnte ich mich unmöglich taufen lassen. Obschon die Taufe für mich der Schlüssel gewesen wäre, um richtig zur Glaubensgemeinde dazuzugehören. Die Versuchung, in den Bach zu steigen, war gross, weil ich damit auch all die Ängste hätte loswerden können, die mich wegen der Entrückung und des drohenden Weltuntergangs umtrieben.

Die Endzeiterwartung ist auch ein Sektenkriterium.

Wir können aufhören mit den Merkmalen. Sie bestätigen nur, was ich schon lange weiss. Und doch habe ich unsere Glaubensgemeinde damals nicht so wahrgenommen. Noch heute würde ich sie nie mit diesem absoluten Etikett »Sekte« versehen. Ich bringe das Wort im Zusammenhang mit der Gemeinschaft meines Vaters nicht über die Lippen. Eine Hausgemeinde mit sektiererischem Hintergrund ist das Äusserste, was ich herausbringe. Und auch dabei schaudert es mich. Denn es geht ja nicht um irgendeine Institution, über die ich hier rede, sondern um die meines Vaters.

Du wolltest – oder konntest – nicht sehen, was er tat?

Mit der Zeit musste ich, denn Erich wurde immer extremer. Auch mit uns.

Wie äusserte sich das?

In schon fast abartigen Vorhaben. Zum Beispiel zeigte er uns einen Film, in dem Menschen an Leitern gebunden, ins Feuer gehalten, hinausgezogen und wieder hineingehalten wurden. Auf diese Weise wollte er uns vorbereiten. Damit wir wüssten, was passieren würde, wenn der Antichrist käme. Damit wir standhaft blieben, wenn wir eines Tages selbst im Feuer hingen. Damit wir auch dann noch sagen würden, wir glaubten an Jesus Christus. Es war schrecklich. Ich schlief nächtelang nicht mehr.

Wie zeigte sich seine extreme Haltung sonst noch?

Er wollte Nächstenliebe demonstrieren. Brachte »Drögeler« heim. Sie schliefen im Gästezimmer und waren am nächsten Morgen weg – und mit ihnen unser Geld. Plötzlich hatten wir ständig Gäste zu Hause. Autostöppler, Menschen ohne Geld. Sie waren ihm wichtiger als wir. Und ich dachte: »Mach doch lieber endlich wieder einmal etwas für uns, deine Kinder.«

Wie hast du das ausgehalten?

Indem ich die Welt meines Vaters immer wieder infrage stellte. Und mit fünfzehn aus seiner Kirche austrat.

Ich bin auch Jonathan

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