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Verführerische neue Welt
◼ Ab 1986

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Bis er sechs war, kannte Jonathan keine andere Welt als die christliche seiner Eltern. Er zweifelte sie nicht an. Wie hätte er wissen sollen, dass noch eine andere Welt auf ihn wartete? Seine Zeit hatte er stets mit der Familie oder mit Freunden der Familie verbracht. Die stammten ebenfalls aus christlichen Kreisen. Ferien bedeuteten für ihn und seine Geschwister christliche Lager, wo Lobgesänge und Gebete selbstverständlich dazugehörten. Er hatte keinen Grund zu zweifeln. Das änderte sich allerdings, als Jonathan in den Kindergarten kam.

Die ersten Wochen waren schwer. Jonathan weinte jeden Morgen, weil er seiner vertrauten Umgebung entrissen war. Das Fremde und Neue bereitete ihm Mühe. Er hatte Heimweh und hätte die Mutter am liebsten den ganzen Vormittag bei sich behalten. Aber er musste lernen, allein zurechtzukommen in dieser fremden Welt.

Mit der Zeit keimte erstmals die leise Ahnung auf, dass die anderen Kinder nicht so lebten wie er, und in der Primarschule wurde aus dieser Ahnung Gewissheit. Seine »Gspänli« verbrachten die Ferien am Strand und nicht in christlichen Lagern. Sie kannten Lieder, in denen Gott keine Rolle spielte. Sie beteten nicht mehrmals am Tag und schufteten nicht wie er und seine Brüder bis zur Erschöpfung im Garten oder im Haus.

Ihr Leben war anders. Und dieses andere Leben gefiel Jonathan. Genauso wie Frau Müller, die Primarlehrerin mit den grossen Ohrringen. Er hatte sie gern, brachte ihr hin und wieder einen selbst gepflückten Blumenstrauss. Er wollte, dass auch sie ihn gernhatte. Darum erzählte Jonathan in der Schule nie, wie er zu Hause lebte.

Sein Geheimnis währte aber nicht lange. Nach ein paar Monaten in der ersten Klasse lud die Mutter Frau Müller zum Mittagessen ein. Jonathan zeigte ihr nach dem Unterricht den Weg. Sein Herz wog schwer. Nun würde die Lehrerin sehen, wie es in seinem Zuhause zu- und herging. Er würde auffliegen. Und so war es. Wie bei jedem Mittagessen gaben sich alle die Hand und sangen ein christliches Lied. Der Vater las einen Psalm vor. Die Wahrheit kam ans Licht.

Ob die Gepflogenheiten in seinem Elternhaus Frau Müller schockiert hatten, wusste Jonathan nicht. Er fragte sie nie danach, und im Unterricht behandelte sie ihn wie immer. Aber für Jonathan hatte sich von da an die Beziehung zu Frau Müller geändert. Er fühlte sich klein. Denn er war sich sicher, dass die Lehrerin ihn von nun an anders sah. Und er wollte sich fortan noch mehr bemühen, ihr zu gefallen.

Die Welt vor seiner Haustür war fremd und verführerisch. Als Jonathan zum Teenager herangereift war, wollte er diese Welt kennen lernen, wollte sie verstehen und darin seinen Platz finden. Er schaute genau hin. Die Kameraden hatten ihre Zimmer mit Postern tapeziert. Sie hörten Musik von Jon Bon Jovi und Michael Jackson. Sie mussten am Mittwochnachmittag kein Holz hacken, sondern trafen sich und blätterten im »Bravo«, einer Jugendzeitschrift, von der Jonathan nie gehört hatte. Darin wurde über Stars geschrieben, die er nicht kannte. Bei ihm zu Hause gab es keinen Fernseher. Darum konnte er nicht mitreden, wenn die Kameraden in den Pausen über die neuesten Geschehnisse in der Serie »Knight Rider« diskutierten.

Damit niemand erfuhr, dass er anders war als die anderen, »nicht normal«, wie er es damals nannte, lernte er zu improvisieren. Auf dem Schulweg löcherte er seine Kollegen. »Was ist in der gestrigen Folge von ›Knight Rider‹ geschehen?«, fragte er. »Ich war leider etwas abgelenkt.« Ihre Schilderungen quittierte er mit: »Ah, ja, richtig«, und tat so, als hätte er selber vor dem Fernseher gesessen. Er hörte gut zu. Damit er später auf dem Pausenplatz mitreden konnte.

Jonathan tauchte ein in diese fremde Welt. Sie gefiel ihm nur allzu sehr. Aber sie zwang ihn auch, abends länger mit gefalteten Händen im Bett zu liegen. Denn die Liste seiner Sünden wurde von Tag zu Tag länger.

Während sich mit dem Schuleintritt Jonathans Sicht auf die Welt immer mehr geöffnet hatte, wurde jene seines Vaters immer enger. Er suchte nach mehr Strenge in seinem Glauben, zumal er fürchtete, seine Söhne könnten ihm entgleiten. Die Leitplanken, die er ihnen setzte und die den Weg des christlich Vertretbaren wiesen, rückten unerbittlich zusammen. Die Chrischona war ihm nicht mehr streng genug. »Zu sehr Wischiwaschi«, pflegte er zu sagen. Sonntag für Sonntag prüfte er mit Helen und den Söhnen andere Freikirchen für einen möglichen Übertritt. Doch keine schien ihm radikal genug.

Um sich im konsequenten Glauben weiterzubilden, besuchten die Eltern mit ihren Kindern an den Wochenenden und in einigen Intensivwochen eine Jüngerschaftsschule. Im Zentrum dieser »Ausbildung« stand das Bemühen, sein Leben zu hundert Prozent Gott zu verschreiben und es vor den Einflüssen des Bösen zu bewahren. Die Gläubigen lernten, wie sie sich davor schützen konnten. Hatte der Satan schon die Kontrolle ergriffen über einen Menschen, so musste er ihm ausgetrieben werden. Dazu gehörte auch das sogenannte Freibeten. Ein Ritual, das die Eltern in der Jüngerschaftsschule lernten.

2019 ◼ Jonny hat lange nicht mehr über dieses Ritual nachgedacht. Auf der Heimfahrt von Läufelfingen tut er es.

Was geschah denn bei diesem »Freibeten«?

Einer sass in der Mitte. Die anderen formierten sich um ihn, hielten sich an der Hand und beteten ihn frei. Was sie genau taten, weiss ich nicht. Aber der in der Mitte fing an zu schreien, zu zittern und zu sabbern.

Hast du dieses Ritual einmal miterlebt?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals zugesehen habe. Ich vermute es, weil mir die Bilder so präsent sind. Möglicherweise sind sie aber auch bloss in meinem Kopf entstanden.

Wie kann das sein?

Meinen Eltern war wichtig, dass wir Kinder eine Vorstellung hatten von der Macht Satans. Sie haben viel darüber geredet, und ich habe darüber gelesen.

Hast du geglaubt, dass sich der Teufel tatsächlich bei einem Menschen einnisten kann?

Ja. Ich war ein Kind und mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Satan uns Menschen verführen will. Meine Eltern hatten mir jahrelang eingetrichtert, dass der Teufel überall lauert. Mein Vater sagte: »Satan weiss, woran du Freude hast. Er verführt uns mit Farben, mit Alkohol, mit Bum-bum-Musik. Damit ködert er dich. Du hast Freude. Und ohne es zu merken, lässt du Satan herein. Plötzlich bist du besessen.« Als wir ein paar Jahre später mit der Schule im Skilager erstmals eine Disco organisierten, stand ich am Rand und spürte, wie sehr es mir gefiel und wie gern ich mitfeiern würde. Ich erschrak, weil ich dachte: »Jetzt hat Satan mich erwischt.«

Die Gehirnwäsche hat also funktioniert.

Ich würde es nicht als Gehirnwäsche bezeichnen, weil mein Vater es nicht mit Absicht getan hatte. Er war im Glauben gefangen und hatte Angst um seine Kinder. Das Ergebnis allerdings war das gleiche: Ich hatte immer wieder ein schlechtes Gewissen, erst recht als Teenager. Jedes Mal, wenn ich zu Veranstaltungen wie der Disco damals im Lager eingeladen war und mir gefiel, was ich sah und hörte, hatte ich zugleich Angst. Deshalb stand ich immer nur am Rand und beobachtete. Ich tanzte nicht und trank keinen Alkohol.

Das muss seltsam gewesen sein.

Ich fühlte mich hin und her gerissen, oft einsam und alleingelassen. Ich spürte den Wunsch, mitzumachen, mich gehen zu lassen, mit den anderen zu tanzen, zu trinken und zu lachen. Aber es gelang mir nicht.

Weil du gefürchtet hast, dass danach auch dir der Teufel ausgetrieben werden müsste?

Ja. Was ich zu Hause über Satan gelernt hatte, war angsteinflössend. Man hatte mir beigebracht, dass ich die Waffenrüstung Gottes brauchte, um mich gegen ihn zu schützen.

Waffenrüstung Gottes – was ist das?

Eine imaginäre Rüstung mit dem Schild des Glaubens, dem Gurt der Wahrheit, dem Helm des Heils, dem Panzer der Gerechtigkeit und so weiter. Wir mussten sie jeden Morgen anziehen, bevor wir das Haus verliessen. Damit wir draussen in der Welt geschützt waren und uns wehren konnten gegen die Pfeile Satans und die Versuchungen. Dieses Ritual war mir immer peinlich.

Warum? Niemand hat gesehen, dass du die Rüstung anziehen musstest.

Doch. Meine Nachbarin Regy. Als sie mich für die Schule abholte, baten meine Eltern sie herein. Sie musste mitmachen. Ich schämte mich in Grund und Boden.

Ich bin auch Jonathan

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