Читать книгу Alex und Alexandra - Angela Rommeiß - Страница 12
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ОглавлениеDie ersten drei Wochen nach dem Umzug waren wie im Fluge vergangen.
Der April war ins Land gezogen und hatte mit ein paar warmen Tagen die ersten grünen Spitzen der Tulpen und Osterglocken ans Tageslicht gelockt. An den Haselsträuchern wuchsen die Schwänzchen in die Länge und an den Weiden wurden die grausilbern schimmernden Kätzchen immer dicker. Die Leute hängten bunte Ostereier aus Plastik an die Sträucher.
Die beiden Bewohnerinnen des Sebach-Hauses entdeckten nun auch allmählich ihren Garten. Es war für Alexandra immer noch kaum zu fassen, dass ihr nicht nur ein ganzes Haus, sondern auch dieser große Garten gehören sollte. All diese Bäume, sämtliches Obst, was daran wachsen würde – was sollte sie nur damit machen? Dazu die vielen Sträucher, die sie gar nicht kannte; Alexandra merkte, dass sie Nachholbedarf hatte. Zwar hatte sie sich schon darangemacht, den Vorgarten von den Dornenranken und dem ärgsten Gestrüpp zu befreien, aber zu viel mehr hatte sie noch nicht Zeit gefunden. Sie freute sich darauf, dass sie nun das ganze Jahr über die Natur direkt vor der Haustür haben würde und nicht erst in den Urlaub oder in einen Park fahren musste, wenn sie einmal auf einer grünen Wiese sitzen wollte. Allerdings bekam sie es mit der Angst zu tun, wenn sie an solche Dinge wie Rasenmähen, Obst ernten und Laub kehren dachte. Nun, das würde sich finden. Vielleicht halfen ihr ja die Nachbarn mit guten Ratschlägen.
Alex hatte den Garten auf ihre Art entdeckt. Sie war auf zwei der Bäume geklettert, hatte alle Winkel erforscht und fand den Gedanken, im Sommer auf der Wiese zu liegen und sich zu sonnen, sehr verlockend.
Als sie von ihrer Mutter am Ostersonntag in den Garten gerufen wurde, erwartete Alex fast, dass die ihr wirklich zumuten wollte, Ostereier zu suchen, obwohl sie sich das doch als kindisch und altmodisch verbeten hatte! Tatsächlich stand Mama strahlend auf dem Rasenplatz und forderte sie auf, sich mal im Garten umzusehen.
„Ooch, Mama!“, stöhnte Alex. „Ich will keine Ostereier mehr suchen! Das habe ich dir doch schon tausendmal ges...“
Doch was da plötzlich hinter einem Busch hervorstolperte und auf tapsigen Pfötchen auf sie zugehopst kam, war alles andere als ein Osterei! Es war das süßeste Hündchen, das Alex je gesehen hatte, mit hellbraunem, wuscheligem Fell, einer runden Schnauze und an den Spitzen abgeknickten Ohren.
Ihre Mutter hockte sich hin, streichelte den Hund und sagte grinsend: „Das ist ein kleines Hundemädchen. Sie hat noch keinen Namen, aber vielleicht gibst du ihr einen? Schließlich ist das jetzt dein Hund!“
„Oh Mama!“, schrie Alex und fiel ihrer Mutter noch ungestümer um den Hals als ihrem Vater wegen des Fernsehers. „Danke, danke, danke! Ich hab dich sooo lieb!“
„Aber du musst dich um sie kümmern, ja?“, sagte Alexandra lächelnd. „Füttern, bürsten, und vor allem: Spazieren gehen!“
Alex ging spazieren.
In der Stadt ging man bummeln oder shoppen, aber hier auf dem Land ging man spazieren, so meinte sie jedenfalls. Die Leute, denen sie begegnete, schienen allerdings nicht spazieren zu gehen, die wirkten alle recht geschäftig, als hätten sie etwas Dringendes zu erledigen. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, dass sie alle Leute, die sie traf, höflich grüßen solle, und das war ihr zunächst recht komisch vorgekommen. Sie kannte hier doch überhaupt niemanden! Aber zu ihrer Verwunderung grüßten alle Leute freundlich zurück und viele musterten sie interessiert. Ein Mann mit einem blauen Arbeitskittel und schwarzen Stiefeln eilte mit einer Mistforke an ihr vorüber und grüßte sie, indem er mit zwei Fingern an seine Mütze tippte. Ein Traktor mit Anhänger rumpelte auf dem Feldweg an ihr vorbei und sowohl der Fahrer als auch die Frau, die auf dem Anhänger hin und her geschüttelt wurde, hoben grüßend die Hand. Sogar ein Junge, der etwa zwei Jahre älter als sie sein mochte, nickte ihr grinsend zu. In der Stadt oder in der Schule hätte so ein Junge ein jüngeres Mädchen keines Blickes gewürdigt! Zwei kleine Mädchen fuhren mit Fahrrädern um die Wette und riefen ihr das „Tach“ hastig und atemlos zu. Einmal wurde sie von einer Frau in einer Kittelschürze angesprochen und ausgefragt, ob sie jetzt richtig hier wohnte und wie es ihr denn gefalle und so weiter. Höflich hatte Alex Auskunft gegeben und sich bei erster Gelegenheit verabschiedet.
Alex ging durch die wenigen Gassen und über Feldwege und wunderte sich über die Dorfbewohner. In der Stadt ging man anonym und dadurch nahezu unsichtbar durch die Straßen, obwohl es im Gegensatz zum Dorf vor Menschen nur so wimmelte. Aber niemand grüßte sich, es sei denn, man traf einen Bekannten. Doch hier sagte jeder zu jedem guten Tag und man fühlte sich ständig beobachtet, das war seltsam und verwirrend. Es kam ihr vor, als würde jeder sie kennen, als wäre sie hier schon immer zu Hause gewesen, hatte es aber vergessen. Konnte es sein, dass sie eine Gedächtnisstörung hatte? Vielleicht hatte sie ja einen Unfall gehabt und litt nun unter Erinnerungsschwund? Sie musste ihre Mutter mal fragen, warum jeder hier sie zu kennen schien. Oder war das auf dem Dorf etwa normal?
Langsam dämmerte es Alex, dass sich von jetzt an ihr Leben sehr viel anders gestalten würde als bisher, dass sie nicht nur ihren Wohnort, sondern auch ihren Lebensstil wechseln musste. Bisher war sie ein Großstadtgirlie gewesen, mit all den Dingen, die da eben dazugehörten: Die schicksten Klamotten anhaben, durch die Straßen ziehen, irgendwo eine Party ausfindig machen, mit möglichst vielen und möglichst coolen Freunden abhängen und natürlich: Shoppen, was das Taschengeld hergab! Wenn Alex ganz tief in sich hineinhorchte, musste sie zugeben, dass dieses Leben nicht ganz ihrem Wesen entsprach. Es machte Spaß, sicher, und sie passte sich eben an, aber irgendwo war da immer noch etwas anderes gewesen. Es war, als ob noch etwas fehlte. Oder etwas zu viel war. Alex konnte es nicht genau benennen. Vor ihrer Mutter und ihren Berliner Freunden würde sie es niemals zugeben, aber insgeheim freute sie sich auch ein bisschen auf dieses neue, fremde Leben. Es war so ganz anders, die Leute redeten mit diesem Dialekt, den sie von ihrer Oma kannte und vielleicht würde sie es ja hier finden: Das, was noch fehlte.
Seit drei Wochen wohnten sie jetzt hier in Finkendorf. Eine Ferienwoche und ein Wochenende blieben ihr noch als Galgenfrist, dann stand ihr der Besuch der neuen Schule unweigerlich bevor. Sie hatte einen Horror davor! Lauter fremde Gesichter, die sie mustern und abschätzen würden! Verstohlene Blicke, Getuschel, unverhohlenes Grinsen. Es würde wahrscheinlich genau so sein wie bei den Neuen, die immer mal in ihre alte Klasse gekommen waren: Man würde ihre Klamotten beäugen und über sie lästern, sich über ihre Frisur und ihre Figur lustig machen und sie aus dem Schutz der Gruppe heraus wie nackt dastehen lassen. Die, die es noch am nettesten mit ihr meinten, würden sie neugierig ausfragen und ihr tausend Tipps geben. Sie selbst hatte das oft genug gemacht mit Vivien und Julia, und nun war sie selbst die Neue! Wie schrecklich!
Mimi zerrte an der Leine, wollte an einem Zaun schnuppern. Alex hockte sich hin und kraulte der kleinen Mischlingshündin das braune Wuschelfell. Sie war so süß! Viel süßer als Julias Hase Romeo, um den sie immer so ein Getue machte, weil sie wusste, dass ihre Freundinnen keinen haben durften. Wie würde die staunen, wenn sie Mimi sah! Nächste Woche wollten Julia und Vivien sie hier das erste Mal besuchen, da freute sie sich schon drauf. Hoffentlich waren die nicht entsetzt, wenn sie die Bruchbude von Haus sahen, in dem Alex jetzt wohnte. Allerdings hatte sie einen eigenen Fernseher im Zimmer, so was Tolles hatten die nicht! Papas Abschiedsgeschenk machte schon was her. Alex hätte nicht gedacht, dass Mama das noch überbieten könnte, aber sie hatte es mit Mimi doch geschafft. Vielleicht war so eine Scheidung doch gar nicht so schlecht, sie behielt schließlich beide Eltern und alle beide wollten sich gegenseitig mit Geschenken für ihr einziges Kind übertrumpfen. Außerdem war das ewige Gezanke und Mamas Traurigkeit, wenn Papa wieder gesoffen hatte, endgültig vorbei. Das war ihr doch sehr an die Nieren gegangen, sie hatte sich jedes Mal ganz verloren und unglücklich gefühlt. Wenn sie Mama und Papa jeweils für sich alleine hatte, ging es ihr viel besser.
Natürlich war es schon traurig, wenn Alex an die gemeinsamen Urlaube und Familienausflüge in den Zoo oder auf den Rummel dachte. Sie hatten alle drei miteinander Spaß gehabt, hatten Eis gegessen und herumgealbert. Alex hatte gedacht, dass so eine kleine, glückliche Familie das Normalste von der Welt sei. Aber das war es eben nicht. Die Kindheit und das Familienleben waren vorüber.
Alex wollte schon wieder anfangen, sich ein bisschen selbst Leid zu tun, als sie plötzlich ein Mädchen erblickte, das ihr auf dem Weg entgegenkam. Oder war es ein Junge? Nein, ganz sicher ein Mädchen, obwohl man bei den unförmigen Klamotten, die es trug, zweimal hinschauen musste. Es hatte die blonden Haare zu einem kurzen Bubikopf geschnitten und auf der sommersprossigen Stupsnase saß eine kleine Brille. Sie selbst trug Turnschuhe, Jeans und ein Sweatshirt, was man eben anzog, wenn man nur mit dem Hund auf dem Feldweg spazieren gehen wollte, aber die andere hatte es mit den alten Klamotten eindeutig übertrieben. Über riesigen Gummistiefeln undefinierbarer Farbe beulte sich eine ausgeleierte Jogginghose an den Knien aus. Darüber trug sie einen Kinderanorak, der sicher in den Sechzigern mal modern gewesen war und tatsächlich mit kleinen blauen und grünen Regenschirmen bedruckt war. Darunter hatte das Mädchen einen pinken Strickpullover mit Zopfmustern an, der ihr wie die Gummistiefel mindestens zwei Nummern zu groß war und Alex an ihre ehemalige Geschichtslehrerin erinnerte. Das Mädchen hatte einen Blecheimer in der Hand und trat unbefangen auf Alex zu. Die war von dieser Begegnung so verblüfft, dass sie nur stumm stehen blieb.
Das Mädchen war in ihrem Alter. Wie konnte ein Mädchen mit dreizehn solche Klamotten tragen? Alex konnte es nicht fassen. Vielleicht war es nicht ganz richtig im Kopf? Das hörte man ja, dass es auf kleinen Dörfern, die weitab vom Schuss lagen, immer mal Dorfdeppen gab. Aber im Gesicht sah das Mädchen normal aus, die blauen Augen unter dem blonden Pony blitzten fröhlich und sie sprach Alex ohne Umschweife an.
„Hallo, bist du die Neue? Ich hab schon von dir gehört, aber du lässt dich ja kaum draußen blicken. Du heißt Alex, gell? Ich dachte erst, das wär‘ ein Jungenname!“, sie lachte und musterte ihr Gegenüber. „Wozu hast du dich so schick gemacht? Ich muss in den Hühnerstall zum Füttern, willst du mitkommen? Kannst mir ja mal ein bisschen was von dir erzählen. Ich heiße übrigens Ramona. Ramona Wittke. Aber alle sagen Mona zu mir.“ Sie wuschelte Mimi über den Kopf, die aufgeregt an ihren Beinen hochsprang und wandte sich zum Gehen. Alex folgte ihr neugierig und beschloss, genauso geradeheraus zu sein wie Mona.
„Warum hast du solche... solche Sachen an?“
Ramona zuckte die Schultern. „Stallklamotten“, erklärte sie einfach.
„In welche Klasse gehst du?“, fragte Alex.
„In die Siebente.“
„Sieben A oder B?“
„A oder B? Sowas gibt‘s bei uns nicht, nur die Siebente. Wir sind nicht so viele. Ich weiß schon, dass du in meine Klasse kommst, sowas spricht sich schnell rum. Ich bin himmelfroh, dass jetzt ein Mädchen dazukommt, wir haben nämlich viel zu viele Jungs in der Klasse, und meine Freundinnen wohnen alle in anderen Dörfern, das ist doof.“
Ramona blieb an einem der Gärten stehen, der mit Maschendraht eingezäunt war, und öffnete die Gartenpforte. Statt eines Schlosses hatte das Türchen nur einen zum Ring gebogenen Draht, der einfach über den Pfosten des Zaunes gehängt wurde. Alex sah Enten und Hühner und band vorsichtshalber den Hund draußen an.
Die Wiese des Gärtchens sah wie eine Miniaturmondlandschaft aus. Lauter kleine Krater, zwischen denen sich einzelne Grashalme verzweifelt zu behaupten suchten, machten eine Überquerung ohne Fußverstauchung fast zu einer Unmöglichkeit. Braune und weiße Hühner scharrten emsig immer neue Löcher, bis sie des Eimers ansichtig wurden und mit aufgeregtem Gegluckst angerannt kamen. Mona fasste den Eimer oben und unten und schüttete den Hühnern mit Schwung die Essenreste wie Wischwasser hin. Da kamen auch die jungen Enten und andere Vögel angelaufen, die Alex nicht einordnen konnte.
„Wir haben dieses Jahr auch ein paar Truthennen, mal sehen...“, sagte Mona und ließ offen, was sie mal sehen wollte. Vielleicht, ob sie überlebten. Oder wie sie schmeckten.
Alex sah fasziniert den Hühnern zu, wie sie scharrten und pickten. Wenn sie recht überlegte, hatte sie noch nie ein Huhn aus solcher Nähe gesehen, und es waren eigentlich ganz hübsche Tiere. Die meisten waren hellbraun, manche mit etwas weiß, andere waren ganz weiß.
„Legen die braunen Hühner die braunen und die weißen Hühner die weißen Eier?“, fragte Alex. Ramonas glockenhelles Lachen ertönte aus dem Hühnerstall, in dem sie derweil verschwunden war. Alex folgte ihr vorsichtig. Drinnen war es dämmrig. Alex machte Holzkisten aus und eine Stange, die weiter oben befestigt war. Alles war dick mit Stroh und Hühnerkot bedeckt. Ramona machte sich an den Kisten zu schaffen und holte ein großes, braunes Ei hervor.
„Hier, nimm. Das schenke ich dir!“, sagte sie freundlich. „Die Farbe der Hühner hat mit der Eierfarbe nichts zu tun. Manche legen weiße, manche braune, ich hab keine Ahnung, warum. Die Städter wollen immer braune, außer zu Ostern, da sollen sie bitte schön weiß sein, damit sie sich besser färben lassen. Als ob man den Hennen sagen kann: So, die nächsten zwei Wochen bitte sehr nur weiße! Unser Nachbar hat übrigens schwarze Hühner. Ich muss ihn mal fragen, ob er schwarze Eier zum Frühstück isst!“ Sie kicherte.
Alex hielt das Ei in der Hand. „Schön warm!“, meinte sie.
Mona grinste: „Na klar, das war ja vor fünf Minuten noch in einem Hühnerarsch!“
„Iiih!“, rief Alex und ließ das Ei fallen.
Die beiden Mädchen blickten auf das Ei hinab. Es war ins Stroh gefallen und noch heil.
„Bist du doof. Es hätte kaputt sein können“, meinte Ramona verständnislos und hob das Ei behutsam wieder auf. „Wenn du’s nicht willst, bitte schön. Ich muss jetzt den Stall saubermachen.“
Sie legte das Ei zu den anderen in eine Schüssel und nahm einen Besen zur Hand. Alex verstand das als Signal, dass sie besser verschwinden sollte.
„Tut mir leid wegen dem Ei“, murmelte sie noch, aber Ramona fegte emsig und hörte sie nicht. Oder wollte sie nicht hören.
„Blöde Kuh!“, dachte Alex wütend, als sie mit Mimi den Weg wieder zurückging. „Bezeichnet mich als doof, nur weil ich so ein blödes Ei fallen lasse. Als ob es eine Kostbarkeit wäre, pah. Selber hat sie Klamotten an, die andere nicht mal in den Lumpensack stecken würden. Jedenfalls passen die alten Klamotten zu ihrem altmodischen Namen. Ramona! Wer nennt sein Kind denn Ramona?“
Aber sie konnte noch so sehr schimpfen, das schlechte Gewissen und das unbestimmte Gefühl, die Unterlegene bei dieser Begegnung gewesen zu sein, blieben.