Читать книгу Alex und Alexandra - Angela Rommeiß - Страница 9
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ОглавлениеSie hatten am ersten Tag zunächst das Wohnzimmer und die Küche bewohnbar gemacht. Nach der ersten Bestandsaufnahme fuhren sie erst einmal in den nächstgelegenen Supermarkt, der zwei Ortschaften weiter lag, und deckten sich mit Arbeitsgeräten und haltbaren Lebensmitteln ein, die nicht in einen Kühlschrank brauchten. Wo der Supermarkt war, hatte ihnen bereitwillig Frau Eberlein erklärt, die tatsächlich den ganzen Tag aus dem Fenster schaute, gemütlich auf einem Kissen lehnend, um nichts von dem zu verpassen, was bei den neuen Nachbarinnen vor sich ging.
Von ihr hatte Alexandra erfahren, dass ihre Tante Anna seelisch labil gewesen sei, unter Depressionen gelitten und sich schließlich vor fünf Jahren das Leben genommen hatte. Sie hatte sich mit Schlaftabletten vergiftet. Einen Mann hatte es in ihrem Leben nie gegeben.
Aus irgendeinem Grund war Alexandra immer davon ausgegangen, dass ihre Tante älter gewesen war als ihre Mutter, dabei war sie jünger, und zwar ganze neun Jahre! Anna war sechsundvierzig Jahre alt gewesen, als sie hier einsam und unglücklich gestorben war. Nur zehn Jahre älter als sie selbst jetzt war. Sie fand es schade, dass sie ihre Tante nie kennengelernt hatte.
Das Ausräumen der Küchenschränke war Alexandra flott von der Hand gegangen, denn sie hatte, mit Mundschutz und Arbeitshandschuhen bewaffnet, einfach alles in Säcke gekehrt, ohne genauer hinzuschauen, ob etwas in den Tüten und Dosen herumkrabbelte. Nachdem die Schränke mit Seifenlauge gründlich innen und außen abgewaschen waren, ließ sie sie trocknen. Eine rot-weiß karierte Tischdecke, die sie in einem der Schränke im Abstellraum fand, und ein Krug mit Blumen auf dem Tisch machten den Raum wohnlich und gemütlich.
Das Wohnzimmer, vollgestellt mit antiquierten Möbeln, sollte als provisorisches Schlafzimmer dienen, denn die muffigen Betten oben mochten sie nicht benutzen. Als Alexandra die alten Vorhänge zuziehen wollte, staubten sie so sehr, dass sie husten musste. Kurz entschlossen nahm sie die mürben Stoffbahnen so vorsichtig wie möglich ab und warf sie nach draußen, wo sie den Müllsäcken Gesellschaft leisteten. Als die Möbel gründlich mit feuchten Lappen vom Staub befreit waren, das Sofa und der Teppich ausgeklopft und der Boden gewischt war, hatte das Wohnzimmer wesentlich mehr Charme als zuvor.
Als es abends kühl wurde, heizten sie den Küchenofen an. Alexandra hatte ein bisschen Bedenken, dass der Schornstein vielleicht verstopft sein könnte, es hätte sich in den vergangenen Jahren leicht ein Vogelnest oder Laub darin breitmachen können. Aber sie hatten Glück und der Rauch zog gut ab. Zerknüllte Zeitungen, Holz, Streichhölzer und sogar Kohlenanzünder fanden sie neben dem Ofen in einem blechernen Kohleneimer. Als das Feuer nach ein paar Versuchen endlich prasselte, breitete sich sofort eine wohlige Wärme im Zimmer aus und Alexandra spürte das erste Mal so etwas wie Geborgenheit hier. Ein bisschen Zuversicht machte sich in ihrem Herzen breit: Vielleicht würde sie es schaffen. Vielleicht würde sie hier ein neues Zuhause finden.
Während sie ein einfaches Abendbrot herrichtete, stöberte Alex im Nachbarzimmer herum. Weil die Glühbirne nicht funktionierte, leuchtete das Mädchen mit einer Taschenlampe in den Ecken herum.
„Kuck mal, Mama, was für coole Möbel hier rumstehen!“
Alexandra kam, an einem Käsebrot kauend, herüber. Sie reichte auch Alex ein Brot, und gemeinsam erforschten sie die Schätze.
Der hinter der Küche liegende Raum war ein alter Hauswirtschaftsraum. In der Ecke gab es einen gemauerten Ofen mit einem riesigen Kessel darüber, in dem man Wasser erhitzen konnte. Zum Wäschewaschen oder Schlachtwürste garen oder wozu auch immer. An der hinteren Wand stand ein Regal mit Krimskrams darin, daneben hingen an der Wand zwei große Blechwannen und eine zusammengerollte Wäscheleine an Haken. Am Boden gab es einen Abfluss und sowohl Wände als auch der Fußboden waren mit großen, gelblichen Kacheln gefliest. Zum Garten hin erkannte man eine Tür, die allerdings zugemauert worden war.
Man konnte sich gut vorstellen, dass hier Generationen von Vorfahren Wäsche auf dem Waschbrett gewaschen, Kinder gebadet, Obst eingekocht oder Schweine geschlachtet hatten. Allerdings hatte der Raum allem Anschein nach schon lange als Abstellkammer gedient, denn es stapelten sich auch eine alte Anrichte und antiquierte Küchenmöbel hier, die damals der „modernen“ Küche hatten weichen müssen. Sie überlegten ernsthaft, die alten Möbel wieder in die Küche zu stellen, denn die waren wunderschön. Allerdings müsste man sie aufarbeiten, einige sahen schon ziemlich abgenutzt aus. Nun, Langeweile würden sie hier so schnell nicht bekommen.
Es war ein seltsamer Abend. Als Alex nichts mehr zu tun hatte und die Zeit heranrückte, zu der sie normalerweise den Fernseher anschaltete oder mit ihren Freunden um die Häuser zog, wurde sie wieder mürrisch, denn weder das eine noch das andere stand zur Verfügung. Sie hockte sich neben den Ofen und begann ihrer Freundin eine SMS zu schreiben.
Bei Alexandra hingegen wechselten sich die Stimmungen ab: Manchmal war sie mutlos und hatte Angst vor all den unbekannten Herausforderungen, den bürokratischen Hürden, die sie noch überwinden musste und der Verantwortung, die sie niederzudrücken drohte. Dann aber kam das Hochgefühl: Sie hatte es geschafft, sie war frei! Sie hatte sich von Stefan gelöst, sie besaß ein eigenes Haus mit einem großen Grundstück, sie würde ganz von vorn anfangen! Leider hielt aber das Hochgefühl nie so lange an wie die Mutlosigkeit, schon bald gingen die Grübeleien wieder los.
Seufzend machte sich Alexandra daran, das Nachtlager für sie beide herzurichten. Im Wohnzimmer war es kühl. Alex sollte mit ihrem Schlafsack auf dem Sofa schlafen, Alexandra pustete für sich eine der Luftmatratzen auf. Diese Tätigkeit und der Geruch des Gummis weckten in ihr Erinnerungen an die Campingausflüge, die sie früher immer gemacht hatten, als Alex noch klein gewesen war. Sie sah Stefan vor sich, wie er mit der Kleinen herumbalgte, sein lachendes Gesicht... Nachts, seine streichelnden Hände im Schlafsack, die geflüsterten Worte: „Pst, wir müssen leise sein...“
Eine jähe Sehnsucht überfiel Alexandra. Sie hatten sich doch so geliebt! Wo war diese Liebe nur geblieben? Sie kämpfte die Tränen nieder und stöpselte die Luftmatratze zu. Vorbei, alles war vorbei. Stefan liebte sie nicht mehr.
„Mama, es gibt nur kaltes Wasser“, beschwerte sich Alex, die aus dem Bad kam.
„Stell dir einfach vor, du wärst auf einem Campingausflug“, schlug Alexandra vor. Etwas an ihrer Stimme ließ die Tochter stutzen.
„Ist was mit dir, Mama? Hast du geweint?“
„Nein, nein. Es geht schon. Ich musste nur gerade an unsere Ausflüge mit dem Zelt denken, früher, du weißt schon. War das nicht immer schön?“
„Puh, Zelt“, schnaubte Alex. „Ich wär‘ jetzt lieber in einem Vier-Sterne-Hotel!“
Nach einer kurzen Wäsche mit kaltem Wasser machten sie sich bettfertig, obwohl es erst kurz nach neun war. Aber sie waren beide so müde von all dem Neuen und der anstrengenden Putzerei, dass sie früh schlafen gehen wollten. Außerdem mochten sie kein Licht machen, denn dann fühlten sie sich durch die ebenerdigen, schwarzen Fensterscheiben beobachtet. Woher sollte man wissen, wer da draußen herumschlich?
Alex maulte noch eine Weile herum und drehte sich seufzend hin und her, aber plötzlich war sie still und eine kleine Weile später hörte ihre Mutter ein leises Schnarchen. Alexandra musste lächeln. Dann lag sie wach und lauschte in die Dunkelheit. Es war unheimlich, die Möbel schienen in der Nacht zum Leben zu erwachen und die neuen Bewohnerinnen mit neugierigen Augen zu betrachten. Hoffentlich hatten alle Mäuse mitbekommen, dass jetzt wieder Menschen hier im Hause lebten und blieben hübsch in ihren Löchern! Huh, bloß nicht weiter darüber nachdenken! Trotzdem lauschte sie unwillkürlich auf das Rascheln und Knacken, auf leises Knarren und Krabbeln.
Wie still es hier war! Sie vermisste die Geräusche der Großstadt: Das Rauschen der Autos, eine Polizeisirene, Stimmen von Nachtschwärmern, die Laute ihrer Nachbarn, die unter, über und neben ihnen in dem achtgeschossigen Hochhaus wohnten. Irgendwo rauschte immer eine Toilettenspülung, erklangen Schritte, dröhnten die Bässe einer Musikanlage oder rumpelte eine Waschmaschine.
Hier war es still. Nur manchmal bellte in der Ferne ein Hund. Der leise Klang einer Kirchturmuhr weckte eine unbestimmte Wehmut in Alexandras Herzen, als ob sie das schon einmal genauso gehört hätte. Sie zählte mit: Zehn Schläge. Zweiundzwanzig Uhr.
Und dunkel war es – stockdunkel! Die nächste Straßenlaterne stand am Ende des Nachbargrundstückes, vor ihrer eigenen Haustür war es finster. In Berlin hatte sie im Schein der vielen Lichter, die immer die Stadt erhellten, mitten in der Nacht aufstehen und zur Toilette gehen können. Nie musste sie Licht anmachen. Hier aber sah man die Hand vor den Augen nicht.
Krabbelten da hinten etwa Mäuse herum? Eine Weile horchte Alexandra noch ins Dunkel, aber bald fielen auch ihr die Augen zu. Glücklicherweise war sie so müde, dass sie nicht mehr dazu kam, über Stefan, ihre kaputte Ehe, ihre Geldsorgen und über die ungewisse Zukunft in diesem fremden Dorf nachzugrübeln. Die erste Nacht unter dem neuen Dach schlief sie traumlos.