Читать книгу Schuld, die dich schuldig macht - Angelika B. Klein - Страница 5

Kapitel 1

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Laute Rufe reißen mich aus meinen Gedanken. „Mia, Mia!“, höre ich eine Jungenstimme aufgeregt meinen Namen rufen. Ich stürme aus der Hütte und sehe Kojo, der mit seinem jüngeren Bruder auf dem Arm auf mich zugelaufen kommt.

Mein Blick fällt sofort auf das stark blutende Bein des kleinen Jungen. „Kojo, was ist passiert?“, frage ich besorgt. Ich nehme ihm den sechsjährigen Jungen ab und trage ihn schnell in die Steinhütte, welche als Krankenzimmer umfunktioniert wurde.

„Tidjani ist auf einen großen spitzen Stein gestürzt. Zuerst wollte er weiterlaufen, aber es hört nicht auf zu bluten!“, erzählt Kojo besorgt. Er macht sich große Sorgen um seinen Bruder. Wenn er mit dem Jüngeren allein unterwegs ist, trägt er, obwohl er selbst erst zwölf ist, die alleinige Verantwortung. Das wurde ihm von seinem Vater eingeschärft.


Ich lege Tidjani auf das lange Holzbrett, welches auf vier hohe stabile Füße genagelt als Untersuchungstisch dient und betrachte mir sein Bein genau. Oberhalb des rechten Knies klafft eine fünf Zentimeter lange und ziemlich tiefe Schnittwunde, die unaufhaltsam blutet.

„Kojo, schnell bring mir die Tücher dort drüben.“ Kojo läuft zu dem kleinen Tischchen und reicht mir die frischen aufeinandergestapelten Wundkompressen. Ich bedecke die Wunde mit zwei Tüchern und weise Kojo an: „Drück fest drauf und lass nicht los!“ Kojo legt seine Hand auf die Kompressen und drückt zu. Ein leises Wimmern entweicht Tidjanis Lippen. Ich finde, dass sich der Jüngere ausgesprochen tapfer verhält, angesichts der schmerzhaften Verletzung. In seinen Augen erkenne ich Angst, aber keine Träne verlässt seinen Körper. Ich drehe mich zu meinem Instrumentenschrank um und hole eine Betäubungsspritze, Nadel und Faden sowie Jod. Vorsichtig steche ich links und rechts der Wunde in die Haut und injiziere 2 ml Lidocain. Danach säubere ich die Wunde großflächig mit Jod und beginne, den Schnitt zu verschließen.

Während ich zügig, aber sorgfältig einen Stich nach dem anderen durchführe, versuche ich Tidjani abzulenken: „Erzähl mir, wie das passiert ist, Tidjani. Wie schaffst du es, in einer Steppe übersät mit hohem Gras auf den einzigen großen Stein zu fallen, der rumliegt?“

Tidjani schaut mich tadelnd an: „Das war mir vorherbestimmt! Vater sagt, wenn du dich verletzt, will dir die Natur damit zeigen, dass du bereit bist einen weiteren Schritt zu gehen, um ein Mann zu werden. Ich habe nicht geweint. Tapfere Männer weinen nicht!“

Selbst jetzt, nachdem ich bereits zwei Jahre hier meinen Dienst verrichte, überrascht mich immer wieder die Tapferkeit und der Mut der Jungen und Männer, die zum Teil täglich ihr Leben riskieren, um die Familie und das Dorf zu ernähren.


Ich bin gerade mit dem letzten Stich fertig und verknote die Enden des Fadens, als ich erneut meinen Namen höre: „Mia, bist du da?“ Abgehetzt erscheint Anna, die 18-jährige Studentin aus Hamburg, die hier ein freiwilliges soziales Jahr absolviert, in der Tür.

Während ich die frisch genähte Wunde meines jungen Patienten verbinde frage ich: „Was ist los, Anna? Du bist ja ganz außer Atem.“

Mit kurzen Worten erzählt sie: „Es ist Kefira, es ist bei ihr soweit, du musst schnell kommen!“

„Kefira? Jetzt schon? Wo ist Mona?“

Anna schüttelt den Kopf und antwortet: „Die ist in Samroni, bei einer schweren Geburt mit Steißlage“.

Oh nein! Bitte nicht! Kefiras Geburtstermin ist erst in vier Wochen und Mona ist die einzige Hebamme im Dorf. Ausgerechnet heute ist sie in Samroni, das liegt zwei Stunden entfernt. Ich habe ihr zwar des Öfteren bei Geburten geholfen und auch einiges über die ausübende Kunst der Hebamme gelernt, aber ich war noch nie allein verantwortlich für die Gesundheit von Mutter und Kind.


Schnell verbinde ich Tidjanis Bein fertig und schaue mich suchend in der Hütte um. Wo ist der Geburtskoffer? Mist, den hat natürlich Mona dabei. Dann muss es eben ohne gehen. Ich eile zur Tür hinaus und laufe zu Kefiras Strohhütte. Anna folgt mir mit ein paar Metern Abstand. Bereits von draußen höre ich das jammernde Stöhnen der werdenden Mutter und trete zügig in den dunklen Raum ein. Jamal, Kefiras Ehemann, steht neben dem Bett und hält besorgt ihre Hand. Sie sind beide erst 19 Jahre alt und es ist ihr erstes Kind, daher wissen beide noch nicht, was auf sie zukommt.

„Kefira, es wird alles gut, atme ruhig ein und aus“, fordere ich sie auf. An Jamal gerichtet frage ich: „In welchen Abständen kommen die Wehen?“

Jamal schaut mich mit großen Augen an. Klar, blöde Frage. Hier im Herzen Afrikas, einem kleinen Dorf namens Mandala in Sambia, 200 km von der nächsten größeren Stadt Kabwe entfernt, schert man sich nicht um die Uhrzeit. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als selbst den Abstand zwischen zwei Wehen festzustellen.


Vorsichtig spreize ich Kefiras Beine und taste mit meinem Finger nach dem Muttermund. Oh mein Gott! Er ist bereits vollständig geöffnet und ich spüre auch schon das Köpfchen, wie es nach unten drückt. In diesem Moment kommt die nächste Wehe und Kefira fängt an zu pressen. Mit einem lauten Schrei hört sie auf und fällt erschöpft und mit schmerzverzerrtem Gesicht in ihr Kissen. „Kefira, wie lange hast du schon Presswehen?“, frage ich besorgt. Kefira antwortet mir jedoch nicht. Mein Blick sucht Anna: „Anna, seit wann bist du da?“

Hilflos antwortet sie: „Ich bin ungefähr seit einer halben Stunde da. Ich kam zufällig an der Hütte vorbei und habe sie schreien gehört. Der Dorfarzt war gerade bei ihr, hat aber nach einiger Zeit besorgt den Kopf geschüttelt und die Hütte wieder verlassen. Erst danach hat mir Jamal erlaubt Mona oder dich zu holen.“ In solchen Situationen werde ich so wütend auf die Kultur und das Verhalten der Eingeborenen. Sie sind so stur, was die moderne Medizin angeht. Wenn sie wirklich schon so lange in den Presswehen liegt und das Kind immer noch nicht weiter nach unten gerutscht ist, muss ich davon ausgehen, dass Kefira und ihr Kind es nicht alleine schaffen. Der Geburtskanal ist zu eng, ich muss nachhelfen.

Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Was würde Mona jetzt machen? Die Zange! Mist, die ist im Geburtskoffer! Kefiras lauter Schrei reißt mich aus meinen Überlegungen. Jetzt nur keine Panik aufkommen lassen! Was kann ich als Geburtszange verwenden? Suchend schaue ich mich in der spärlich eingerichteten Hütte um. Mein Blick fällt auf eine große Schüssel in der Ecke der Hütte, daneben liegen zwei Holzlöffel. Etwas Passenderes entdecke ich auf die Schnelle nicht.

Das Adrenalin schießt mir in den Körper. Mit deutlichen kurzen Sätzen befehle ich:

„Anna, nimm die beiden Holzlöffel und säubere sie so gut es geht.“

„Jamal, bring mir saubere Tücher.“

Zu Kefira sage ich mit beruhigender aber eindringlicher Stimme: „Kefira, ich muss deinem Kind helfen, es schafft es nicht alleine. Du darfst nicht mehr pressen, hörst du?“ Kefira stöhnt vor Schmerzen. „Kefira, du darfst nicht mehr schieben, erst wenn ich es sage, das ist wichtig.“ Ich nehme ein leichtes Nicken von Kefira wahr und bereite mich auf meine erste Zangengeburt ohne Zange vor.


Anna gibt mir die beiden sauberen Holzlöffel, während Jamal die Tücher neben mich auf das Bett legt. Plötzlich kommt mir ein Gedanke: Das Kind muss an den Holzlöffeln entlang nach außen gleiten… die Oberfläche der Holzlöffel …. sie ist zu rau. Verdammt! Ich schaue mich im Raum um.

Anna bemerkt meine suchenden Blicke und versucht mit zur helfen: „Mia, kann ich dir irgendwie helfen?“

„Ich brauche etwas, um die Löffel rutschiger zu machen. Creme, Fett oder Ähnliches“, antworte ich hektisch. Ich finde nichts, was sich nur annähernd eignen würde. Nach kurzem Überlegen sprintet Anna aus der Hütte und verschwindet um die Ecke. Erneut schreit Kefira auf. Ich kann nicht mehr länger warten, sonst wird es wirklich gefährlich für Mutter und Kind.


Ich positioniere mich zwischen den Beinen der Schwangeren und schiebe vorsichtig einen der Löffel in ihre Vagina ein. Kefira stöhnt unter den Schmerzen laut auf. In diesem Moment fliegt die spärliche Holztür auf und Anna stürmt herein. In der Hand hält sie eine Schüssel mit einer weißen festen Masse darin. Sie reicht mir die Schüssel und erklärt atemlos: „Das ist das Einzige was ich gefunden habe, aber das müsste gehen, oder?“ Ich rieche an der weißen Masse und verziehe augenblicklich mein Gesicht. Igitt!

„Was ist das?“, rufe ich Anna entgegen.

Betreten schaut sie mich an und meint: „Das ist Schweineschmalz. Es ist fettig, das wolltest du doch!“

„Ja, danke Anna.“ Ich habe keine andere Wahl, als das Schweineschmalz zu verwenden. Schnell reibe ich beide Löffel mit dem Fett ein und führe erneut zuerst einen Löffel in Kefira ein. Nachdem dieser problemlos hineingerutscht ist, setze ich den zweiten Löffel an und schiebe ihn vorsichtig in die Vagina. Da Kefira eine Erstgebärende ist, ist der Geburtskanal dementsprechend eng und ich muss mich anstrengen, um den zweiten Löffel in seine richtige Position zu bringen.


Anna, die mittlerweile völlig aufgelöst neben mir steht, schluchzt: „Du verletzt doch den Kopf des Kindes, wenn du ihn mit den harten Löffeln packst und rausziehst.“

Gestresst aber konzentriert antworte ich: „Nein, ich packe das Kind doch nicht. Ich erweitere nur den Weg, damit das Kind durch passt. Es rutscht an den Löffeln entlang. Sollte es zumindest, wenn alles gut geht.“ Den letzten Satz flüstere ich fast nur noch zu mir selbst.


Kefira gibt laute animalische Geräusche von sich und Jamal macht Anstalten, das Vertrauen in mich zu verlieren und mich von seiner Frau wegzuziehen. Ängstlich ruft er: „Hör auf, du bringst sie ja um. Das Kind wird alleine kommen, die Götter werden ihm auf die Welt helfen. Lass sie in Ruhe, geh weg!“

„Anna, bring Jamal raus, bevor er hier noch durchdreht!“, schreie ich genervt. Anna springt auf und zieht Jamal zur Tür hinaus.


Die beiden Löffel liegen an ihren vorgesehenen Positionen. Mit aller Kraft ziehe ich sie auseinander. Ich versuche zu erkennen, wie weit ich den Geburtskanal öffnen muss. Kefira schreit mittlerweile durchgehend ohne Pause. Ihr Bauch zieht sich zusammen, die nächste Presswehe kommt. „Kefira, jetzt schiebe so fest zu kannst. Schiebe dein Kind zu mir raus.“ Kefira presst und ich sehe, wie der Kopf des Kindes langsam in den Geburtskanal rutscht. Die Wehe ist vorbei. „Atme tief durch, Kefira. Einmal noch, dann hast du es geschafft. Mit der nächsten Wehe schiebst du noch einmal so fest du kannst!“ Schweißüberströmt nickt sie mir zu. Sie versucht tief durchzuatmen, trotz der Schmerzen. Die nächste Presswehe kommt. Kefira drückt mit aller ihr noch zur Verfügung stehenden Kraft und ein kleines Köpfchen mit schwarzen nassen Haaren bahnt sich den Weg nach draußen. Das Schwierigste ist geschafft. Mit der nächsten Wehe ziehe ich vorsichtig die Löffel heraus, wodurch mir der Körper des Kindes entgegen flutscht. Ein kleines, zerknittertes und laut schreiendes Bündel liegt auf der Decke vor mir. Kefira lässt sich erschöpft und erleichtert zurückfallen.


Durch die Schreie des Neugeborenen angelockt, erscheinen Anna und Jamal in der Hütte. Nachdem ich die Nabelschnur abgeklemmt, durchtrennt und die Atemwege des Kindes notdürftig vom Schleim befreit habe, reiche ich das Bündel Kefira, die es sofort liebevoll in die Arme schließt. „Du hast eine gesunde Tochter, Kefira.“ Jamal nimmt mich dankbar in den Arm und entschuldigt sich für sein aufgebrachtes Verhalten. Nach ein paar Minuten drückt Kefira die Nachgeburt heraus. Ich wickle sie in ein Tuch und übergebe sie Jamal. Für ihn ist es wichtig, den Mutterkuchen, wie es die Tradition vorschreibt, weiterzuverarbeiten.


Nachdem ich mich noch einmal vergewissert habe, dass es Mutter und Kind gut geht, verlasse ich mit Anna die Hütte und gehe zurück zu meiner Steinhütte. Erst jetzt bemerke ich, welche Anspannung und Sorge mich die letzten Minuten ergriffen hat. Mir tut jeder einzelne Muskel im Körper weh und ich bin unsagbar müde.


Erst spät am Abend kommt Mona zurück. Noch auf dem Weg zu unserer Hütte, welche wir uns teilen, erfährt sie durch Jamal von der ungewöhnlichen Geburt.

Sie betritt unser Haus und nimmt mich augenblicklich in den Arm. „Mia, meine Süße! Stimmt es, was ich eben von Jamal gehört habe? Du hast eine Zangengeburt durchgeführt?“

Müde bestätige ich ihre Frage: „Ja, mit etwas Improvisation.“

„Ich bin so stolz auf dich!“, lobt mich Mona. Sie ist für mich wie eine Mutter und erzählte mir einmal abends, dass sie, wenn sie eine Tochter hätte, sich wünschte, sie wäre wie ich.

Wir setzen uns an unseren provisorischen Tisch und unterhalten uns über die beiden schwierigen Geburten des heutigen Tages.


Abends in meinem Bett, besser gesagt auf der Liege, welche mir als Bett dient, lasse ich den Tag nochmals an mir vorbeiziehen. So anstrengend er auch war, ich bin froh, dass ich mich vor zwei Jahren entschieden habe, nach Afrika zu gehen und für die Hilfsorganisation UNICEF zu arbeiten. In meinem vorherigen Leben ist so einiges schief gelaufen und ich habe hier neue Freunde und eine neue Aufgabe gefunden. Einer der Gründe, warum ich mich für das Dorf Mandala entschieden habe war, dass die Umgangssprache hier Englisch ist. Obwohl das Dorf nur ca. 120 Einwohner zählt, davon ca. 50 Kinder jeden Alters, wird man hier geschätzt für das was man tut und nicht für das, was man hat. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder in die hektische, laute und materiell-orientierte Welt zurückkehren zu müssen. Allerdings bin ich gerade einmal 25 Jahre alt, was das Leben noch mit mir vorhat, lässt sich nicht erahnen.


Schuld, die dich schuldig macht

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