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Auf der Treppe

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Als ich etwa eine halbe Stunde vorher die Rolltreppe in der ehemaligen Schalterhalle des Bahnhofs hinauffuhr, fiel er mir schon auf, der junge Mann mit den Dreadlocks und der bunten gestrickten Mütze, der, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, mit melancholischem Gesichtsausdruck in eine nur für ihn sichtbare Ferne sah.

Es ist einer der Abende, an denen ich nicht so recht weiß, was ich mit mir anfangen soll, und alles andere als alleine zuhause sitzen möchte. Dann sitze ich gerne auf dem kleinen Balkon des Cafés über der Halle, hole mir bei Alex einen Milchkaffee, lese ein bisschen oder sehe den Leuten zu, die ihre Koffer hinterherziehend und gelegentlich noch zusätzlich mit einem störrischen Kinderwagen jonglierend zu den Zügen eilen. Oft nehme ich dann noch die Stufen hinunter zu den Gleisen, sehe die Züge in den rot-orange gefärbten Hintergrund verschwinden und stelle laut seufzend fest, dass das wieder nicht der Moment sein wird, in dem ich das Ticket für den Nachtzug nach Venedig kaufe.

Erneut an der Treppe angekommen, fällt er mir wieder auf, der Junge, der irgendetwas durch den inzwischen geschlossenen Blumenpavillon zu sehen scheint, es kann nicht nur traurig sein, was er sieht, da auf seinen Lippen ein feines Lächeln liegt, aber irgendetwas, das gerade nicht erreichbar zu sein scheint.

Am Fuß der Treppe bleibe ich stehen und hebe die Hand. Er schaut mich mit seinen Schokopralinen-farbigen Augen an und winkt mit ein paar Fingern.

»Hi, alles ok?«, frage ich, er sieht mich fragend an, dann versteht er und zuckt leicht lächelnd kurz die Schultern. Ich weiß immer noch nicht, wohin mit mir, und nach einer Handbewegung und einem um Erlaubnis bittenden Blick setze ich mich neben ihn. Wir lächeln einander an und er hebt nochmals die Finger. Ob ich von hier sei, fragt er in gebrochenem Englisch, Deutsch versteht er fast gar nicht; er sei aus Tunis, ob ich wüsste, wo das sei. Der Tunesier, erstaunt, dass ich sage, ich wüsste zumindest ungefähr, wo das sei, sieht mich erfreut mit seinen Schokoaugen an und klopft mir mit seiner warmen Hand aufs Knie.

»Karim«, sagt er und deutet auf sich selbst und flüstert leise »Anjelica«, nachdem ich ihm meinen Namen verraten habe, und zeigt schneeweiße Zähne. Eine längere Unterhaltung kriegen wir nicht hin, da er nur wenig Englisch und ich leider genauso wenig Französisch verstehe, also schauen wir beide vor uns hin und lauschen dabei dem Tastenspiel, das von dem Klavier im Warteraum herüberweht, während die letzten Sonnenstrahlen auf den verschmierten Scheiben des Gebäudes bunte Schlieren malen.

Es ist so wunderschön, den musikalischen Variationen zu lauschen; dadurch fühlt sich das sehnsuchtsvolle Ziehen in meinem Magen oft nicht mehr so scharf an und ich kann mir vorstellen, schon längst in einer südlichen Stadt auf einer Hotelterrasse zu sitzen und auf das blaue Meer zu schauen. Irgendwann steht der Mann vom Piano auf und verlässt mit seinem Rucksack den Bahnhof. Ich stehe auch auf und drücke Karim die Hand und wünsche ihm alles Gute. Er nimmt meine Hand in seine beiden und flüstert etwas auf Französisch und lächelt wieder so gedankenverloren. Ich drehe mich nach zwei Schritten nochmals um und hebe die Hand, er winkt wieder mit seinen langen schmalen Fingern und lässt seine Augen golden aufleuchten.

Nun, da dieser Sommer lange vorbei und auch das Klavier schon lange nicht mehr da ist wie einiges, das für den anstehenden Umbau verschwindet, bin ich noch immer oft am Bahnhof. Ich denke an das Klavierspiel, durch das eine feine Schutzschicht über die scharfen Kanten des ziehenden Fernwehs, oder war es Heimweh, nein, eigentlich doch Sehnsucht, gelegt wurde.

Und dann denke ich auch an Karim und hoffe, dass er noch oft Gründe gefunden hat, die sanften goldbraunen Augen aufleuchten zu lassen. Nicht nur die schöne Erinnerung an etwas, das verloren und unerreichbar ist, sondern etwas, das sich jetzt und immer wieder gut und warm anfühlt.

Weges Rand

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