Читать книгу Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite - Anita Vetter - Страница 10

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AM ABHANG

Dahab, Ägypten
Oktober 2018

Tauchen wir ein in die ägyptischen Nächte. Neben wunderschönen Kite-Spots und großartigen Taucherlebnissen gibt es im Land der Pyramiden nämlich noch ein weiteres Abenteuer, das man sich keinesfalls entgehen lassen sollte: eine Nacht in einem Wadi. Wadis sind Täler oder Flussläufe, die manchmal – zum Beispiel nach starken Regenfällen – Wasser führen, aber die übrige Zeit als Trockentäler in der Sonne vor sich hin brutzeln. In diesen felsigen Landschaften kannst du tagsüber super wandern und klettern. Ihre wahre Pracht entfaltet sich aber erst nachts: In der ganzen Umgebung gibt es keine Lichtquelle, und so erscheint bei Einbruch der Dunkelheit der schönste Sternenhimmel, den du dir vorstellen kannst. Jedes Mal, wenn ich in Ägypten bin, verbringe ich mindestens einen Abend in einem solchen Wadi. Natürlich stand dieses Erlebnis auch bei unseren Camps auf der To-do-Liste.

Eines Tages war es wieder so weit. Bevor wir mit den Beduinen, die uns begleiteten, ein Lagerfeuer entzündeten und zu volkstümlicher Leiermusik ein landestypisches Essen genossen, brachen wir auf, um eine Klettertour durchs Wadi zu machen. Ich liebe es, wenn ich herumklettern kann. Das Problem an Wadis aber ist, dass es zwischen diesen steinbruchartigen Felsen sehr viel Geröll und scharfkantige Steine gibt. Du musst deshalb höllisch aufpassen, denn viele davon liegen sehr locker und machen deshalb schnell einen Abgang, wenn du sie mit dem falschen Fuß erwischt. Ganz Wadi-erfahren gab ich unseren Teilnehmern also Tipps und schärfte ihnen noch einmal ein, bloß vorsichtig zu sein.

Wenig später kraxelten wir auch schon durch die Gegend – vornehmlich die Herren der Schöpfung, während die Mädels unten standen und miteinander quatschten. Irgendwann stand ich relativ weit oben auf einer Art Klippe. Die Aussicht war herrlich: Vor mir erstreckte sich die sandige Weite des ausgetrockneten Flussbettes, dahinter erhoben sich riesige Berge. Einfach traumhaft!

MÄNNER IN FREIER WILDBAHN: HAUPTSACHE IRGENDWO KLETTERN, SPRINGEN, HÜPFEN ODER RUNTERRUTSCHEN

Als der Abend näherkam und die Sonne schon recht tief am Himmel stand, beschloss ich, wieder zu den anderen herunterzuklettern. Was ich zu dem Zeitpunkt längst wusste, aber aufgrund einer auffallend oft auftretenden temporären Amnesie mal wieder vergessen hatte: Hochklettern ist immer sehr viel einfacher als wieder herunterzukommen. Ich schaute mich um und entdeckte einen kleinen Abhang, den ich locker herunterklettern konnte. Dachte ich. Es stellte sich allerdings heraus, dass dieser Abhang ein als festes Gestein getarnter Geröllhaufen war. Kaum setzte ich einen Fuß darauf, rutschte ich auch schon los. Ich ging sofort in die Hocke, krallte mich mit den Händen an den Steinen fest und kam zum Halten. Dummerweise saß ich nun mitten drauf auf der Schräge. Ich sondierte meine Lage: Hoch ging es durch das Geröll leider nicht mehr, also musste ich wohl oder übel weiter runter. Ich stützte mich mit den Händen ab und ließ mich langsam, Meter für Meter, den Abhang hinuntergleiten. An sich ein guter Plan. Was ich dann aber bemerkte: Der recht steil abfallende Abhang war nicht nur ein Geröllhaufen, der jeden Moment losrattern konnte, er endete auch noch in einer fiesen Sackgasse in Form eines scharfen Felsvorsprungs und eines rund zehn Meter tiefen Nichts. Darunter standen Steffi und die Camp-Teilnehmer und schauten gebannt nach oben.

ABENDS AM LAGERFEUER DER MUSIK DER BEDUINEN LAUSCHEN UND DEN STERNENHIMMEL BEWUNDERN.

Jemand rief mir zu: »Du musst wieder hoch! Ein Stück weiter rechts kannst du gut runterklettern!« Ich runzelte die Stirn: Jeder, der schon einmal eine stinknormale Rutsche auf einem Kinderspielplatz hochgeklettert ist, weiß, wie schwierig das sein kann. Jetzt stell dir vor, diese Kinderrutsche ist mit Geröll bedeckt und endet in einem Abgrund! Ich fluchte innerlich: Warum hatte ich nicht besser aufgepasst?

Es half alles nichts, ich musste einen Weg nach unten finden. Schließlich konnte ich nicht den Rest meines Lebens auf den Felsen herumsitzen. Also los! Ich blieb in der Hocke und versuchte, mich langsam und Stück für Stück rückwärts nach oben zu stemmen. Doch schon nach ein paar Sekunden verlor ich wieder den Halt und schlitterte ein gutes Stück abwärts. Mein Herz pochte so laut in meinem Schädel, dass ich die erschreckten Schreie von unten kaum wahrnahm. Gerade mal ein paar Meter vor der Felskante kam ich endlich wieder zum Stehen. Ich atmete schnell und keuchend. Dann schaute ich nach oben. Es war eigentlich nicht weit bis zum rettenden Gipfel, doch es war sehr steil. Von unten sah es sogar noch viel steiler aus als von oben. Ich wusste: Noch so eine Rutschpartie konnte ich mir nicht erlauben, denn dann würde ich den Abhang hinunterkrachen und mich sogar an den Tag zurückwünschen, als mir mit einer Harpune direkt in die Brust geschossen worden war. Vorausgesetzt, ich konnte mir dann überhaupt noch etwas wünschen.


Als ich mich etwas gesammelt hatte, versuchte ich mich wieder am Aufstieg. Wie ein Krebs krabbelte ich Stück für Stück hoch. Meine Hände, meine Schuhsohlen und mein Hintern blieben die ganze Zeit in Kontakt mit dem Felsen. Voll im Fokus behielt ich immerzu den Abgrund im Blick. Ich hatte ein gutes Stück geschafft, da verlor ich erneut den Halt. Ich rutschte die ganze Strecke zurück, die ich mich hochgekämpft hatte. Langsam zwar, aber unaufhaltsam.

Die Sekunden kamen mir vor wie Stunden. Ich rammte meine Hacken in den Boden, krallte meine Finger ins Geröll und versuchte, das Schlittern zu stoppen. Am Ende schaffte ich es, mit Händen und Füßen zu bremsen. Mir ging ordentlich die Pumpe. »O Gott, o Gott, o Gott« war das Einzige, was ich denken konnte. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich wieder einigermaßen gesammelt hatte. Danach beschloss ich endgültig, dass der Weg nach oben unmöglich war. Wer weiß, ob ich noch mal Halt finden würde, wenn ich wieder abrutschte? Ich blickte mich hektisch um und begann, mich parallel zum Abgrund vorzuschieben. Wenn ich seitlich um die Rutschbahn herumkam, würde ich sicher auch wieder festen Stein finden. Gerade mal drei oder vier Meter von der Felskante entfernt, bewegte ich mich wie eine Spinne seitwärts. Durch meine Adern jagte so viel Adrenalin, dass ich damit locker eine komplette Tour meiner Liveshows ausgekommen wäre. Auf jeden Fall sorgte dieser Power-Stoff in meiner Blutbahn dafür, dass ich überhaupt keinen Schmerz wahrnahm. Als ich mich endlich auf festen Stein hieven konnte und in Sicherheit war, fing mein ganzer Körper an zu zittern. Ich schwitzte aus allen Poren.


KÖNNTE AUCH DAS PLATTENCOVER EINER BAND SEIN.

BANDNAME: DAROCKWILDER

SONGNAME: DUMME IDEEN IM WADI

Erst jetzt bemerkte ich, dass mir die Hände wehtaten. Ich drehte meine bebenden Handflächen zu mir und sah den Schlamassel: Ich hatte mir während der Rutschpartien die kompletten Handflächen am Geröll aufgerissen. Alles war voller Schürfwunden und Blut. Viele kleine Steine hatten sich unter die zerfetzten Hautschichten gebohrt. Im gleichen Moment, als ich erkannte, was mit meinen Händen los war, begann der Schmerz. Es tat höllisch weh. Trotzdem musste ich noch den Rest des Berges herunterklettern. Es war fast unmöglich mit meinen blutenden Händen, in denen ich jedes einzelne brennende Staubkorn zu spüren glaubte.

Wenn man daran denkt, wie viel mit Bazillen übersätes Geld anrichten konnte, wollte ich mir gar nicht ausmalen, was der Wüstendreck auf meinen offenen Händen verursachen würde. Als ich endlich unten ankam, wollte ich deshalb sofort meine Hände desinfizieren. Steffi hatte denselben Gedanken gehabt und kam mit einer Flasche Desinfektionsspray angelaufen.

»Soll ich?«, fragte sie besorgt.

»Ja, mach«, presste ich unter Schmerzen hervor.

Als sie lossprühte und sicherheitshalber die halbe Flasche auf meinen Wunden verteilte, passierte eine Millisekunde nichts. Dann brach ein wahrer Feuersturm auf meinen Handflächen los. Zum Glück ist ein Wadi ein recht verlassener Ort und die nächste Siedlung kilometerweit entfernt. Ansonsten hätten alle Ägypter bei dem Schrei, den ich losließ, vor lauter Schreck ihre Shisha-Schläuche verschluckt.

Ein paar Stunden später lag ich mit pochenden Händen auf einer der Beduinendecken und starrte hinauf in den unfassbar schönen Sternenhimmel. Es ist so leise in einem Wadi, dass dir die Stille fast schon wieder laut in den Ohren rauscht. Das fühlt sich komisch an, so ähnlich, als wärst du unter Wasser. Doch auch wenn es weniger leise gewesen wäre, hätten meine Gedanken alles übertönt. Immer und immer wieder spielten sich vor meinem inneren Auge die Szenen auf dem Berg ab. Ich fragte mich: Wo hört Abenteuer auf – und wird zu Leichtsinn?

Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite

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