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AUF KRÜCKEN Jericoacoara, Brasilien
Dezember 2018

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Kennst du dieses Gefühl, wenn du morgens aufwachst und einfach weißt: Das wird ein großartiger Tag! Schon bevor du deine Augen öffnest, passt dein Grinsen fast gar nicht mehr zwischen deine beiden Ohren, so voller Vorfreude brummt es in deinem ganzen Körper. So ungefähr habe ich mich die ganze Zeit gefühlt, seit Steffi, unser Kumpel Björn und ich in Brasilien angekommen waren, uns ein Auto gemietet hatten und zu einem Roadtrip gestartet waren. Eines unserer Ziele: Jericoacoara, ein kleines Fischerdorf an der Nordküste und ein absoluter Traum-Spot für alle Kitesurfer. »Jeri« ist rundum ein besonderes Fleckchen Erde, denn hier drehen sich die Uhren sehr viel langsamer als in den Großstädten dieser Welt. Es gibt keine Straßen, nur Sand, alle laufen barfuß und genießen das Leben ohne künstlichen Stress. Wenn es dort überhaupt so etwas wie feste Termine gibt, dann eigentlich nur einen: Jeden Abend pilgert das halbe Dorf auf eine Sanddüne, um den Sonnenuntergang zu zelebrieren. Man klettert die Düne hoch, setzt sich hin und wartet, bis die Sonne untergeht. Von überall wehen Musik und fröhliche Unterhaltungen herüber – und auf dem Weg kommt man an lauter kleinen Verkaufsständen vorbei, an denen Einheimische Caipirinhas verkaufen.


HIER WAR DIE WELT NOCH IN ORDNUNG UND DIE CAIPIS SCHMECKTEN HIMMLISCH. EINIGE MINUTEN SPÄTER ROLLTEN WIR DIE DÜNE HINUNTER …

Caipirinhas in Brasilien, speziell in Jeri, sind eine ganz andere Nummer als das, was wir aus deutschen Bars kennen. Alle möglichen Früchte wie Maracujas, Kiwis, Kirschen, Orangen oder Mangos werden hineingemischt – und zwar so frisch, dass sie quasi vom Baum oder Strauch direkt ins Glas fallen. Manchmal kommen noch Gewürze wie Pfeffer oder Chili dazu. Das Ganze schmeckt so gut, dass du dir die Dinger reinhaust wie Fanta. Und wie das halt so ist: Du bist gerade in Jeri angekommen, dein Grinsen hört überhaupt nicht mehr auf, weil du einen fantastischen Tag hattest. Du warst surfen, kiten, bist durch die Gegend geheizt, und jetzt machst du dich in dieser einmaligen Atmosphäre auf den Weg zur Düne, um den Tag, das Leben und einfach prinzipiell alles zu feiern. So ging es mir, als ich da im Sand saß, Steffi und Björn neben mir. Die Sonne wurde kleiner und kleiner, bis wir nur noch einen winzigen roten Strich sahen, ganz unten am Rand, wo der Himmel auf das Meer trifft. In dem Moment, als auch dieser kleine rote Strich verschwand, standen plötzlich alle Menschen auf und klatschten. Ein riesiger Jubel. Sofort war ich eine einzige Gänsehaut. Ich platzte fast vor Freude und Leichtigkeit. Wie kann das Leben nur so toll sein? Das war einer dieser Momente, in denen mein Nick-Gehirn auf die ganz großartigen Ideen kommt. Natürlich. Ich stand da, jubelte, und plötzlich hörte ich mich rufen: »Los, Leute, wer zuerst im Meer ist!« Und mit einem lauten »Wohoooo!« purzelte ich auch schon die relativ steile Düne runter. Eine Sekunde später folgten Steffi, Björn und eine Hand voll der anderen Menschen. Es muss ein Anblick für die Götter gewesen sein, als ein halbes Dutzend Caipirinha-beschwipste Leute vor einem in allen Rottönen strahlenden Abendhimmel die Düne runterrannten, sich nach ein paar Schritten die Beine im Sand verknoteten und den Rest der Strecke in Purzelbäumen kreuz und quer durcheinanderrollten.


UND HIER WAR ES DANN PASSIERT. DAS AUSMASS WAR MIR IN DIESEM MOMENT NOCH NICHT BEWUSST.

Als ich unten ankam, war ich von oben bis unten so sehr mit Sand paniert, dass jedes Wiener Schnitzel vor Neid erblasst wäre. Lachend sprang ich auf die Füße und rannte die letzten Meter ins immer noch angenehm warme Wasser. Mit großen Sprüngen kämpfte ich mich jauchzend durch die heranrollenden Wellen, bis mich plötzlich ein »Plop« innehalten ließ. Ich weiß noch, dass ich eine Sekunde Zeit hatte, so etwas wie »Häh?« zu denken. Dann explodierte mein Bein. Es fühlte sich an, als hätte mir ein Profi-Pitcher aus der Major League Baseball eine Kokosnuss aus einem Meter Entfernung direkt auf die Wade gefeuert. Ich ließ mich sofort ins Wasser fallen und schrie vor Schmerz. Meine erster Gedanke: »Krass, irgendein Tier hat mich gebissen! Ein Fisch. O Gott, ein Hai!?« Wie von der Tarantel gestochen sprang ich wieder auf die Füße, nur um zu merken, dass mich mein rechtes Bein nicht mehr trug. Also wirklich gar nicht. Noch nie im Leben hatte ich solch einen Schmerz gefühlt. Belastete ich mein Bein auch nur ein kleines bisschen, jagte es mir wie mit einem Dolch durch die Wade, und der Schmerz brandete durch meinen ganzen Körper bis in den Kopf. Ich sah nur noch Sterne – und zwar nicht die über mir.

Um mich herum stürzten mehr und mehr mit Sand panierte Menschen fröhlich jubelnd ins Wasser. Von überallher hörte ich »Yeah« und »Wohoo« und sonstige Schreie. Dass ich genauso schrie, nur aus einem ganz anderen Grund, fiel überhaupt niemandem auf. Ich lag zusammengekrümmt im knietiefen Wasser und wusste genau: »Nick, das ist nicht irgendein Schmerz, der wieder abflaut. Da ist etwas nicht in Ordnung.« Während ich halb saß, halb lag und mir die Schmerzenstränen in die Augen schossen, schaute ich auf meine Wade, konnte aber nichts erkennen.

Ein paar Sekunden später kamen Björn und Steffi angesprungen, wollten sich in meine Arme schmeißen und das Leben zelebrieren – genau wie ich noch Sekunden zuvor. Ich schrie irre laut: »Fuck! Es tut so weh, es tut so weh! Da ist was kaputt!« Sofort merkten die beiden, dass etwas nicht stimmte, und wollten wissen, was passiert war. Ich quetschte die Worte zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Keine Ahnung, etwas hat mich in die Wade gebissen!« Am Strand sahen wir, dass mit meiner Wade definitiv etwas nicht in Ordnung war. Allerdings war keine Wunde zu sehen, kein Blut, keine Kratzer. Reingebissen hatte ganz sicher niemand. Dafür schwoll meine Wade zunehmend an, und mein Wadenmuskel war tiefergelegt.


DIE LEGENDÄRE »CAIPISTREET« VON JERI. FRISCHER UND LECKERER GEHT ES NICHT. MY FAVOURITE: MIT FRISCHER MARACUJA UND CHILLIS!

Mittlerweile hatte die Dämmerung so richtig eingesetzt, und die Menschen liefen in Gruppen zurück zum Dorf. Auch mir kam es am vernünftigsten vor, erst einmal wieder heimzugehen und mich aufs Bett zu legen. Doch leichter gesagt als getan. Hatten wir für den Hinweg gerade mal zwanzig Minuten gebraucht, dauerte es jetzt geschlagene eineinhalb Stunden, bis ich tatsächlich auf meiner Matratze zum Liegen kam. Mittlerweile war meine Wade auf das Doppelte ihrer tatsächlichen Größe angeschwollen. Mir war sofort klar: Ich brauchte einen Arzt. Das will schon was heißen, denn das sage ich nicht sehr oft. Das Problem war: Wir befanden uns in Jeri. In Sandstraßen-Caipirinha-Jeri. Ein richtiges Krankenhaus suchst du hier eine Weile.

Alles, was wir bei unserer Internetrecherche finden konnten, war ein kleines Medical Center ein Stück außerhalb der Ortschaft. Doch wie dahin kommen? Es war Nacht geworden, also stockfinster. Steffi versuchte einen Fahrer zu organisieren, blieb aber erfolglos. Autos gibt es in Jeri nicht, dafür aber Quads. Und Kühe. Eine Menge Kühe. Ich war schon kurz davor, tatsächlich den Ritt auf einer Kuh in Kauf zu nehmen, verwarf das aber schnell wieder. Ich konnte nicht einmal ordentlich stehen, wie im Himmel sollte ich auf eine Kuh klettern? Ich war überhaupt noch nie auf einer Kuh geritten, wie sollte das überhaupt funktionieren? Während ich mit den Schmerzen kämpfte und weiteren wirren Gedanken nachhing, kam Steffi zurück an mein Bett: »Nick, es hilft nichts, ich finde keinen Fahrer. Wir müssen da jetzt zu Fuß hin.«


OFFIZIELLER BEFUND: »MEIN BEIN IST KAPUTT, DAS BRAUCHT ZEIT.« MANCHMAL MUSS MAN SOLCHE MOMENTE MIT EINEM HALBEN LÄCHELN HINNEHMEN.

Ich sag es, wie es war: Es war die Hölle. Irgendwann stolperten Steffi und ich in dieser Nacht tatsächlich durch die Türen des Medical Center. Erst nachdem ich im Schneckentempo Zentimeter für Zentimeter zur Anmeldung gehumpelt war und wir berichtet hatten, was los war, kam eine Schwester auf die Idee, dass ein Rollstuhl helfen könnte. Nach der ganzen Lauferei war meine Wade jetzt nicht mehr nur doppelt so dick, sie hatte locker das Dreifache ihres normalen Umfangs erreicht. Es sah aus, als hätte ich einen zweiten Oberschenkel an meinem Schienbein hängen. »Oh, oh!«, dachte ich nur, und mir drehte sich bei dem Anblick fast der Magen um.


MACGYVER WÄRE STOLZ AUF MEINE SELBSTGEBAUTEN KRÜCKEN … UND NEIDISCH AUF DEN CAIPIRINHA!

Als die Ärztin gekommen war und mein Bein begutachtet hatte, sagte sie: »Das ist kaputt, das braucht sehr viel Zeit.« Obwohl ich nicht wirklich gut Portugiesisch verstand, wusste ich sofort, was sie dann erklärte: Ich musste warten, bis die Schwellung zurückgeht. Erst dann konnte man überhaupt sehen, was genau passiert war. Ich hatte da ein paar düstere Alternativen zur Auswahl: eine krasse Verstauchung, einen Bruch, einen Muskelbündelriss oder einen Muskelfaserriss. Egal welche Option: Es war eigentlich alles so richtig suboptimal. Wir waren gerade erst in Brasilien angekommen und hatten noch so viel vor!

Doch es half nichts, und schließlich machten wir uns wieder auf den Weg nach Hause. Als ich mit dem Rollstuhl aus dem Medical Center rollen wollte, kam ich plötzlich nicht mehr weiter. Ich drehte mich um und bemerkte einen Krankenpfleger, der die Haltegriffe gepackt hatte.

»Ähm, kann ich weiterrollen?«, fragte ich den Typen.

»Ne, sorry, den Rollstuhl brauchen wir hier für den nächsten Patienten.«

Okay, das sah ich ein. Mit einem Rollstuhl im Sand zwischen Kühen rumzurollen machte sowieso auch kein Sinn. Ich stand auf, stützte mich auf Steffi und blickte wieder zurück zum Krankenpfleger. »Kann ich vielleicht Krücken bekommen?«

Der Krankenpfleger schüttelte den Kopf: »Wir haben nur Krücken für Patienten, die sich im Medical Center aufhalten.«

Es gibt Momente, die nur mit ironischem Lachen auszuhalten sind. Also lachte ich einmal laut. Danach humpelte ich mit Steffis Hilfe den ganzen Weg zurück zu unserer Unterkunft. Ich verzichte auf die Beschreibung der Schmerzen, die mir dabei fast die Schädeldecke vom Kopf sprengten. Zu Hause angekommen kratzten wir das Eis von den Innenwänden unseres Kühlschranks, um der Schwellung etwas entgegenzusetzen. Dann ging Steffi noch mal los, um den Caipirinha-Verkäufern ein paar ihrer Eiswürfel abzuschwatzen. Björn, der neugierig in unserer Unterkunft gewartet hatte, reichte mir Naturheilmittel in Form einer selbst gedrehten THC-Kräuterzigarette.

In den nächsten Tagen schaffte ich es, über Facebook eine Physiotherapeutin in Jeri ausfindig zu machen und einen Termin zu vereinbaren. Bis dahin war ich damit beschäftigt, mobil zu werden. Ich war ein Häufchen Elend und gar nicht mehr der lustige, frohe Nick, den alle am ersten Tag kennengelernt hatten. In einem kleinen brasilianischen Hardware-Store – eigentlich mehr einer Hütte, in der alles Mögliche durcheinander lag – organisierte ich die Holzstiele eines Spatens und ließ Plastikrohre auf eine bestimmte Länge zuschneiden. So bastelte ich mir behelfsmäßig eine Art Krücken. MacGyver wäre stolz auf mich gewesen. Mit den Rohren verlängerte ich die Holzstiele und setzte unten noch kleine Plastikstöpsel drauf, damit kein Sand reinkommen konnte. Weil das Holz unter den Achseln sehr wehtat, polsterte ich die Enden mit Schaumstoffschläuchen aus. So kam ich wenigstens ein bisschen voran.


BEIN RASIERT, ULTRASCHALL DURCHGEFÜHRT – DIAGNOSE: MUSKELFASERRISS. WOHER MEIN OPTIMISMUS KAM, WEISS ICH AUCH NICHT GENAU.

Die Physiotherapeutin musste mich noch ein paar Tage vertrösten, da das Bein noch zu stark angeschwollen war. Die Wartezeit bis zur Behandlung verbrachte ich fast ausschließlich in der Hängematte und ohne Bewegung.

Als mein Bein mit den zwei Oberschenkeln endlich wieder ein wenig Form bekam, wurde ich dazu genötigt, es komplett zu rasieren. Ich begab mich in einen kleinen Wettbewerb mit Steffi: Wer von uns beiden bekam die glatteren Beine hin? Es wurde ein Unentschieden. Anschließend machte die Physiotherapeutin einen Ultraschall, der eine meiner düsteren Vorahnungen Realität werden ließ: Muskelfaserriss. Herzlichen Glückwunsch. Für mich bedeutete das: Der Brasilien-Roadtrip war gelaufen. Das war noch ein viel größerer Schmerz als der physische, den ich permanent aushalten musste. Ich war mit so vielen Plänen und so viel Vorfreude nach Brasilien gekommen: das Land erkunden, eine gute Zeit mit Steffi und Björn haben, Silvester in Rio feiern und so weiter. Das Einzige, was mein Muskelfaserriss nun dazu zu sagen hatte, war: »Nö.«

Gleichzeitig war mir auch klar, dass mein Roadtrip-Ende nicht das Roadtrip-Ende für Steffi und Björn bedeuten musste. Ich kann es sowieso nicht leiden, wenn mich jemand den ganzen Tag bemuttert, weil ich krank bin. Im Gegenteil: Ich bin dann lieber alleine. Also sagte ich den beiden, dass sie einfach weitermachen sollten wie geplant. Shit happens.

Doch erst mal genossen Steffi und Björn die weiteren Tage in Jeri, während ich deprimiert herumlag. Es ist wirklich Mist, wenn du die Abenteuer vor der Nase hast, aber physisch zu nichts in der Lage bist. Das ist auch der Grund, warum ich immer sage: »Setz deine Träume jetzt in die Realität um! Warte nicht auf morgen oder auf die Rente. Geld kannst du immer irgendwie verdienen, aber die Zeit, in der es dir gut geht, bekommst du nie wieder zurück.« Ich jedenfalls hatte wieder einmal bemerkt, wie schnell Freiheiten weg sein können, wenn die Gesundheit nicht mitspielt.

Am Ende war ich insgesamt sechs Wochen in Brasilien. Oder besser: Ich lag sechs Wochen in Brasilien herum. Unter anderem auch in besagter Hängematte auf der Ilha do Guajiru, wo mir Freddy Gesellschaft leistete. Steffi und ich waren gemeinsam dorthin übergesiedelt und hatten noch zusammen Weihnachten verbracht. Danach reiste sie nach Rio, um dort Silvester mit Freunden zu feiern. Björn war zuvor schon allein weitergegondelt.


BEHIND THE SCENES: DIE ERSTEN ARBEITEN AN MEINEM BUCH!

Nachdem Steffi weg war, tauschte ich humpelnd die Hängematte auf der Ilha do Guajiru gegen eine Hängematte in Pipa. Als ich dort lag und nichts anderes zu tun hatte, schnappte ich mir mein Smartphone und begann, die Geschichten für mein erstes Buch einzusprechen. Man kann also sagen: Mein erstes Buch verdanke ich dieser Zeit, in der ich zu endloser Ruhe gezwungen wurde. Oder um es anders auszudrücken: »Shit happens« ist immer auch das, was du draus machst.


DER VERSUCH, MEINE TIEFERGELEGTE WADE MIT SPORTTAPE ZU STABILISIEREN

Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite

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