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KIEFERBRUCH AUF KOMODO Komodo Island, Indonesien
April 2019

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Unsere unrühmliche Verfolgungsjagd konnte mich aber nicht davon abhalten, auch im nächsten Jahr wieder nach Indonesien zu reisen. Zu viele gute, merkwürdige, lustige und kuriose Dinge waren mir hier schon passiert. Doch was ich 2019 auf einer Bootstour nach Komodo erlebte, zählt eindeutig zu den schlechten Dingen. Zumindest führte es mir vor Augen, wie schnell ein Blatt sich wenden kann.

In den Wochen zuvor hatte ich Bali erkundet, war auf Java gesurft und hatte die wunderschönen Inseln Nusa Ceningan und Lembongan besucht. Es hatte mich auf die Gili-Inseln verschlagen, nach Lombok – und jetzt wollte ich unbedingt mal die Sundainseln inklusive Komodo mit eigenen Augen sehen. Aus diesem Grund meldete ich mich für die Bootstour an.

Wir starteten östlich von Lombok Richtung Ost-Nusa-Tenggara. Dort findet sich ein Insel-Archipel wie aus einem Bilderbuch. Auf dem relativ großen Frachter, mit dem wir unterwegs waren, gab es in etwa Platz für zwanzig Leute, verteilt auf »Business Class« (zwei Privatkabinen) und »Economy Class« (achtzehn dünne Matratzen auf dem überdachten Oberdeck). Mal abgesehen von den wirklich nur fünf Zentimeter dünnen Matratzen war diese Tour wunderschön. Zwei Boote hatten sich zu dem viertägigen Trip zusammengetan, sodass wir eine durchmischte, fröhliche Gruppe Menschen aus den unterschiedlichsten Nationen waren. Wir fuhren von Insel zu Insel, bekamen dreimal am Tag leckeres Essen, besuchten den Komodo National Park mit den riesigen Komodowaranen, gingen schnorcheln und genossen die Aussichten über die Inseln, nachdem wir kleinere Berge hochgeklettert waren. Abends lagen wir vor einer der vielen Inseln vor Anker. Durch die gemeinsamen Erlebnisse wuchs unsere heitere Reisegruppe in den wenigen Tagen schnell zusammen. Es passierte, was beim Reisen oft geschieht: Durch die Erfahrungen bauen sich Beziehungen zu Menschen auf, die manchmal nur für die wenigen Tage halten, manchmal aber auch ein ganzes Leben bestehen bleiben. Ich genoss jede Sekunde.


In der vorletzten Nacht lagen unsere Boote etwa zweihundert Meter voneinander entfernt vor Anker. Die Stimmung war gelöst, fröhlich – und vielleicht schwang auch ein kleines bisschen Wehmut mit, dass schon bald alle wieder ihrer Wege ziehen und der großartige Trip sein Ende finden würde. Möglicherweise drehten wir deshalb ein bisschen auf. Wir tranken Bier, erzählten Geschichten, lachten und übertrumpften uns gegenseitig. Wen wundert es da, dass einer von uns – und ich sage nicht wer – in der Nacht auf eine tolle Idee kam: »Let’s go skinny dipping!«

Sofort sprangen ein gutes Dutzend gackernde und kreischende Reiseabenteurer aus aller Welt erst aus ihren Klamotten und dann ins Wasser. Es war ein Fest. Wir planschten, schwammen, tauchten und steuerten schließlich im Pulk das andere Boot an. Während ich durch die dunkle Nacht schwamm, gab es einen Moment, in dem ich dachte: »Oha, das ist aber schon ziemlich schwarz, das Wasser. Gibt es hier eigentlich Haie? « Ich weiß noch, dass mir plötzlich von Filmen wie Der weiße Hai getriggerte Urängste den Nacken hochkrochen und ich deshalb einen Zahn zulegte. In der Sekunde, als ich das andere Boot erreichte, waren diese Ängste wieder vergessen. Unter lautem Gejohle enterten wir splitterfasernackt den Kahn, jeweils mit unseren Badesachen unter dem Arm, und überraschten damit die andere Hälfte der Truppe.

Als wir später wieder auf unser eigenes Boot hochkletterten, knurrte einigen von uns lautstark der Magen. Kennt man ja, dieses typische Hungergefühl nach dem Schwimmen. Mein Bauch jedenfalls verlangte röhrend nach Nahrung. Ich schloss mich deshalb dem Teil von uns an, der sich in der Küche zu schaffen machte, um noch etwas Leckeres auf die Teller zu zaubern. Während wir uns unten über unser Nachtmahl hermachten, hörten wir die anderen, die noch nicht schlafen gegangen waren, auf dem Oberdeck umherlaufen und tanzen. Plötzlich schepperte etwas, gefolgt von einem Geräusch, das in etwa so klang: »Klonk-klonk-klonk-klonk.« Danach war es eine Millisekunde still, bevor einige Personen auf dem Oberdeck erschrocken aufstöhnten. Ich hatte sofort diese Assoziation im Kopf: Jemand stößt sich den Fuß, und du selbst rufst laut »Autsch!«, weil du genau weißt, wie weh das tut.


EIN PRACHTEXEMPLAR EINES KOMODOWARANS: KNAPPE 4 M LANG UND FASZINIEREND!


DIE CREW. DAS BILD ENTSTAND KURZ VOR DEM ANKERN, ALS UNSERE STIMMUNGSKURVE WIE AUS DEM NICHTS IN DEN KELLER FIEL.

In der Küche hielten wir alle inne. Einer von uns sagte: »Das hat sich angehört, als wäre jemand die Treppe runtergefallen, oder?« Wir ließen alles stehen und liegen, gingen hinaus und erstarrten, als wir sahen, was geschehen war. Gerade noch waren wir in einer sternenklaren Nacht bei 25 Grad nackt baden gewesen und hatten das Leben gefeiert. Doch von der einen auf die andere Sekunde trat all das in den Hintergrund. Vor uns auf dem Boden lag eine Frau aus unserer Gruppe, eine Belgierin, etwa Mitte 40. Eben noch hatte sie uns mit ihren Reisegeschichten zum Lachen gebracht, nun lag sie in einer Blutlache. Zwei holländische Studenten waren schon dabei, ihr zu helfen, doch sie war bewusstlos. Die anderen erzählten uns panisch, dass sie auf dem Oberdeck ausgerutscht und mit dem Kopf auf den Treppenabsatz geknallt war. Im Schwung war sie die Treppe heruntergeschlittert, wobei sich ihr Bein im Geländer verheddert hatte. Das hatte kurz dafür gesorgt, dass sie ein wenig an Schwung verlor, ihren Sturz jedoch nicht wirklich abgefedert. Schließlich war sie mit dem Gesicht voran am Ende der Stahltreppe aufgekommen. Der hellblaue Boden färbte sich dunkelrot von ihrem Blut.


VON HERZEN ZU EMPFEHLEN: EIN BOOTSTRIP DURCH DIE SUNDAINSELN

Die Holländer überprüften, ob die Belgierin atmete. Das tat sie zum Glück. In die stabile Seitenlage wollten sie sie zuerst nicht legen, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass sie schlimme Brüche davongetragen hatte. Also legten wir einige Decken über sie, während die Holländer versuchten, die stark blutenden Kopfwunden zu versorgen. Währenddessen sprachen sie die Belgierin immer wieder an: »Hey, kannst du uns hören? Bist du bei Bewusstsein?« Einige Minuten später kam sie tatsächlich zu sich, konnte aber nur stöhnen. Es war ein Geräusch, das einfach nur Schmerz ausdrückte. Erst jetzt sah ich, dass ihr Unterkiefer in einem merkwürdigen Winkel von ihrem Gesicht abstand. Da war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Mir ging es durch Leib und Seele, und wir alle hatten furchtbare Angst um sie.

Die Belgierin war mit einer Freundin zusammen unterwegs, die durch das Stöhnen aus ihrer Schockstarre gerissen wurde: »O Gott, was ist mit ihr? Was ist los? O nein, o nein, o nein! Schaut ihr Gesicht an! Da stimmt was nicht!« Die Freundin fing an zu weinen und verfiel zusehends in Panik. Wir versuchten, sie zu beruhigen und gleichzeitig den Helfern und der Verletzten genug Platz zu machen. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als wir am Fuß der Treppe einen abgebrochenen Zahn fanden. Wie sollte man da auch nicht durchdrehen? Wir befanden uns mitten auf dem Ozean, die Bootsführer hatten keine Ahnung von Erste Hilfe, es gab keinen Handyempfang, und bis auf ein bisschen Reisemedizin hatten wir absolut nichts vor Ort, was der Belgierin helfen konnte. Gemeinsam beschlossen wir, dass jetzt schnell zu handeln war und wir sofort aufbrechen mussten. Wir riefen unseren Bootsführer und erklärten ihm in einem Mix aus Englisch und Balinesisch, was wir tun wollten: »Wir müssen jetzt losfahren und die nächste Insel ansteuern, auf der es ein Krankenhaus gibt.« Zu unser aller Erleichterung verstand er sofort, löste den Anker und ließ den Motor an. Es war gut, etwas tun zu können und ein Ziel zu haben. Wir versuchten die Belgierin, so gut es ging, mit Kissen abzustützen und festzuhalten, konnten aber gleichzeitig sehen, wie viele Schmerzen ihr jeder Ruck bereitete, der durch das Boot ging. Schließlich beschlossen wir, sie vorsichtig auf eine Küchenbank zu tragen. Danach konnten wir nichts anderes mehr tun als abzuwarten und zu versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.

Auch ich lief zurück zu meiner dünnen Matratze, doch ich tat kein Auge zu. Immerzu blitzte das schmerzverzerrte Gesicht der Belgierin durch meinen Kopf. Gerade noch hatte ich mit Menschen aus aller Welt einen wunderbaren, einmaligen Abend verbracht. Wir waren zusammen ins Meer gesprungen und hatten gelacht, während uns lauter Glücksgefühle durch den Körper gesprudelt waren. Und plötzlich, mit einem Fingerschnippen, hatte sich alles gedreht. Einmal mehr wurde mir meine eigene Verletzlichkeit sehr bewusst. Ich dachte daran, dass jeder von uns nur diesen einen Körper hat, der einfach so zerbrechen kann. Es ist nicht so, dass mir noch nie die Idee gekommen war, verletzlich zu sein oder dass es auf Reisen auch Gefahren gibt. Doch solch einen krassen Gegensatz zwischen Hochgefühl und Grauen hatte auch ich noch nicht oft erlebt. Er katapultierte mich sofort aus jeglicher Komfortzone. Da war kein Rettungswagen, der mit drei Zahlen auf dem Handy gerufen werden konnte. Da war keine Sicherheit, dass es nur einige Minuten dauert, bis ein Blaulicht um die Ecke gerast kam und ausgebildete Sanitäter zur Stelle waren. All das gab es in dieser Situation nicht. Es war ein erschreckendes, hilfloses Gefühl, das mich bis in die Grundfesten erschütterte. Ich weiß es nicht sicher, aber ich denke, dass um mich herum einige wach lagen und Ähnliches dachten.

Alles hatte sich verändert. Durch die Matratze bohrte sich der unebene Boden in meinen Rücken. Auf einmal war auch das Wetter merklich abgekühlt, und es wehte ein scharfer Wind. War der Wind auch in den vorigen Nächten dagewesen, oder fiel er mir jetzt erst auf? Was passierte nun mit der Belgierin? Ich konnte die Gedanken nicht abstellen. Sie lag nur wenige Meter von mir entfernt und machte Schreckliches durch. War ihr Schädel gebrochen? Ihr Kiefer? Gab es eine Fraktur in ihrem Genick? Wir wussten es nicht. Wie würde sie nach Hause kommen? Schafften wir es bis in den nächsten Hafen – oder würden vorher noch Komplikationen auftreten? Wer von uns wusste schon, ob sie nicht innerlich blutete? Diese Fragen in meinem Kopf waren mindestens genauso laut wie der Schiffsmotor, der unablässig durch die schwarze Nacht dröhnte. Es war, als schipperten wir durch einen leeren Raum mit nichts anderem darin als uns. Wir waren umgeben von der Welt, doch auf eine Art war die Welt ganz weit weg. So als wäre sie gar nicht da und es gäbe nur uns.


EIN PARADIES ZUM KLETTERN, SCHWIMMEN, SCHNORCHELN UND ZELEBRIEREN DES LEBENS

Als das Motorengeräusch mit einem Mal erstarb, war es noch immer dunkel. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich wohl doch in eine Art Dämmerschlaf gefunden haben musste, denn ich schreckte hoch. Sofort ging das Geratter in meinem Kopf weiter: Was war los? War uns mitten auf dem Meer das Benzin ausgegangen? Was bedeutete das für die Belgierin? Würde sie eine Verzögerung überleben? Auch die anderen blickten sich verwirrt um. Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass um uns herum einige Lichter leuchteten. Dann erkannte ich, dass wir einen Hafen erreicht hatten. Der Skipper war schon aufs Festland gesprungen und organisierte einen Krankenwagen. Dieser war dann auch erstaunlich schnell zur Stelle. Mit großer Vorsicht wurde die Belgierin vom Boot und in die Ambulanz gehoben. Dann war sie weg.

Zurück blieben wir – geschockt, übermüdet, still. Ich war erleichtert, dass wir die Verantwortung für die Verletzte endlich an erfahrene Hände hatten abgeben können. Froh war ich trotzdem nicht, denn eines blieb: die Ungewissheit, was mit der Belgierin weiter geschehen würde. Wir übrigen traten die Weiterreise an, aber von der gelösten Stimmung war nichts geblieben. Alle hingen ihren Gedanken nach, auch wenn jeder von uns versuchte, sie abzustellen. Wir machten uns unglaublich große Sorgen.

Erst später wurden wir glücklicherweise erlöst, da uns die Freundin der Belgierin über Facebook kontaktierte. Sie schrieb uns, dass die Belgierin sich den Kiefer gebrochen und eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatte. Sie hatte viel Glück im Unglück gehabt. Es wurde ein Transport organisiert, der sie zurück nach Hause brachte.

Wir alle waren unwahrscheinlich froh über diese Information. Ohne sie hätten wir uns ewig gefragt, was weiter passiert war. So konnten wir ein »End« hinter die Geschichte setzen. Auch wenn es nicht wirklich »Happy« war, so war es zumindest auch nicht »Deadly«. Uns allen half das Wissen um den Ausgang dabei, das Erlebnis besser zu verarbeiten. Es ist einfach etwas anderes, wenn man sagen darf: »Es war schlimm, aber am Ende ist alles gut ausgegangen.«

Es sind Erlebnisse wie diese, die du nicht mehr so schnell aus dem Kopf bekommst. Die dich in Gedanken auf allen weiteren Reisen begleiten. Die dir einfallen, wenn du das nächste Mal ein Boot besteigst, nackt baden gehst oder bei einer Treppenstufe stolperst. Für mich habe ich entschieden, dass es auch sein Gutes hat, wenn solche Gedanken meine Wegbegleiter werden. Sie sorgen dafür, dass ich Acht gebe und dass ich nichts für selbstverständlich nehme. Diese wertvollen Wegbegleiter lehren mich, die Momente bewusster wertzuschätzen. Denn genau das »verlernen« wir manchmal, weil es im besten Fall unser Normalzustand ist, dass es uns gut geht, wir eine warme Dusche nehmen und surfen gehen können. Wenn ich wählen könnte, würde ich natürlich trotzdem keine Unfälle erleben wollen – weder bei anderen, noch bei mir selbst. Aber ich weiß auch, dass ich jedes Mal aufs Neue die Wahl habe, wie ich mit solchen Erlebnissen umgehe: Verzweifle ich an ihnen und verkrieche mich in eine dunkle Höhle? Oder lasse ich mich durch sie wachrütteln, denke über mein Leben nach und bewerte neu, was mir wichtig ist und was nicht? Diese Entscheidung kannst du nur für dich selbst treffen. Jeden Tag aufs Neue.

Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite

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