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AM TROPF

Dahab, Ägypten
November 2017

Nach Ägypten hat es mich schon einige Male verschlagen. Es gibt dort ein ehemaliges Fischerdorf auf der Sinai-Halbinsel, gar nicht weit entfernt von Sharm el Sheikh: Dahab. Das ist ein zuckersüßer kleiner Ort, der sich ganz wunderbar dafür eignet, tauchen zu gehen und Abenteuer zu erleben. Hier haben Steffi und ich schon öfter Camps für Digitale Nomaden veranstaltet: zwei Wochen Land und Kultur erleben, arbeiten, sich gegenseitig helfen und austauschen. Das brachte eine ganze Menge Organisationsaufwand mit sich, und es gab viel zu planen: Wie reist wer an und kommt von A nach B? Wo übernachten wir alle? Wie gestalten wir ein ausgewogenes Programm aus Arbeit, Mehrwert, Abenteuer und Spaß? 2017 stand also wieder eines dieser sogenannten DNX-Camps in Dahab an. Die ersten Teilnehmer waren schon angekommen oder trafen den ganzen Tag über nach und nach ein. Erst am nächsten Tag war das erste gemeinsame Kennenlernen geplant.


CAMPTEILNEHMER UND LOCALS MIT DEM STOLZEN UND ZUGLEICH TRAURIGEN ERGEBNIS UNSERES BEACH-CLEAN-UPS

Eine Teilnehmerin war Sonja. Da sie schon recht früh angereist war, nutzte sie den Leerlauftag, um sich schon einmal mit der Ortschaft vertraut zu machen. Sie ging ans Meer, kaufte sich Streetfood oder ging essen und machte einen Fehler, vor dem sich jeder Reisende hütet, der die Folgen schon einmal durchgemacht hat: Sie bezahlte bar.

In Ägypten ist das Bargeld unwahrscheinlich dreckig, vor allem die Scheine. Bedeutet: Wenn du etwas mit Bargeld bezahlst und dir nicht sofort danach die von jeder halbwegs ordentlichen Gesundheitsbehörde empfohlenen 20 bis 30 Sekunden die Hände wäschst, spielst du Russisch Roulette. Mit Keimen. Das kann gut ausgehen, muss es aber nicht.


EIN TYPISCHES BILD IN ÄGYPTEN: KARKADEH-TEE UND BAKTERIENINFIZIERTES BARGELD


»DR. BOB« BEI SEINER ARBEIT AN MIR. AUCH STEFFI HAT ES IN ÄGYPTEN ERWISCHT.

Sonja zog im Casino-Royale der Geldscheinbazillen im wahrsten Sinne des Wortes die totale Arschkarte. Am nächsten Morgen wachte sie mit Bauchschmerzen und Durchfall auf, und es dauerte nicht lange, bis sie vollkommen geschwächt und lethargisch im Bett lag. Da ich schon einige Male in Dahab gewesen war und bereits unter ähnlich tollen Bedingungen Glücksspiele gespielt hatte, rief ich am Nachmittag den Mann der Stunde an: Dr. Bob. Er heißt nicht wirklich so, aber da ich mir seinen Namen anfangs nicht merken konnte, nannte ich ihn in Anspielung auf das TV-Dschungelcamp insgeheim so.

Auf Dr. Bob ist Verlass, und so stand er wenig später vor der Tür. Dr. Bob ist ein groß gewachsener Mann – in alle Richtungen. Er ist genauso riesig wie breit. Ein richtiger Balu der Bär mit freundlichem Grinsen und gemütlichem Gang. Meine bisherige Erfahrung mit ägyptischen Ärzten ist folgende: Egal was du hast, ob Bauchweh, Ohren- oder Kopfschmerzen, Durchfall oder Fieber, zuerst gibt es immer eine Infusion. Ich war also nicht verwundert, als Dr. Bob einen Blick auf Sonja warf, ein paar Fragen stellte und gleichzeitig einen Infusionsbeutel aus der Tasche zog. Es waren kaum dreißig Sekunden vergangen, schon hatte Dr. Bobs Hilfsarzt die Infusion an Sonja angestöpselt. Wir schauten zu, wie er den Beutel an einen Kleiderbügel und den Kleiderbügel an eine Lampe hängte.

»Bald geht es ihr wieder besser«, brummte Dr. Bob zufrieden. Dann klingelte sein Handy. Offenbar gab es einen Notfall, und er musste mit seinen Infusionsbeuteln schnell dazukommen. Dr. Bob drehte sich Steffi, Sonjas Zimmernachbarin Lea und mir zu: »Leider müssen wir sofort los und können nicht warten, bis die Infusion durchgelaufen ist. Ist hier jemand in der Lage, die Infusionsnadel im Anschluss zu entfernen?«

Wir schauten ihn mit großen Augen an. Steffi und Lea waren beide – wohlwollend betrachtet – eher zurückhaltend. Sonja selbst war das Ganze natürlich nicht zuzumuten. Es war eine Situation wie im Film, wenn ein Freiwilliger gesucht wird: Alle treten einen Schritt zurück, und der einzige Depp, der nicht so schnell schaltet, steht plötzlich als Auserwählter vorne. In diesem Fall war der Depp ich. Ich räusperte mich: »Ja, klar, einfach nur rausziehen dann?«

Konnte so schwer eigentlich nicht sein, oder? Das sollte im Vergleich zu meinen Harpunenerfahrungen auf den Fidschis ein Kinderspiel sein. Bei einer OP am offenen Herzen hätte ich mehr gezögert, aber das? Das würde ich schon hinkriegen.

Ich kriegte es nicht hin. Jedenfalls nicht besonders gut. Während der Wartezeit hatten wir an Sonjas Bett gesessen, ihr Wadenwickel gemacht, Elektrolyte verabreicht und Salzstangen besorgt. Doch auch als die Infusion endlich durchgelaufen war, ging es ihr noch richtig dreckig. Zudem tat ihr die Einstichstelle der Nadel höllisch weh, was mich vermuten ließ, dass Dr. Bobs Hilfsarzt vielleicht mehr Hilfs- als -arzt war. Gut also, dass das Ding jetzt rauskam. Ich kniete vor Sonjas Bettkante, legte ihren Arm vor mich auf die Matratze und fing an zu operieren. Natürlich hoch konzentriert, denn ich wollte Sonja nicht noch mehr Schmerzen bereiten, als sie eh schon die ganze Zeit hatte. Zuerst löste ich das Pflaster, mit dem die Nadel befestigt worden war. Dann begann ich die Nadel langsam herauszuziehen. Ich hatte damit gerechnet, dass das Ding vielleicht zwei Zentimeter tief drinstecken würde, aber dem war nicht so. Vorsichtig zog und zog ich daran, aber es wurde immer länger. Von Sonja waren unterdessen Geräusche zu hören, die eindeutig machten, wie weh ihr die Prozedur tat. Mir wurde mulmig zumute. Es sah aus, als würde ein langer weißer Faden aus ihrer Haut hängen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte: aufhören, langsam weiterziehen oder die Sache mit einem Ruck so schnell wie möglich beenden? Alles wieder zurückdrücken? Ich war völlig überfordert. Hinter mir hielten sich Steffi und Lea die Augen zu. Sonja schrie vor Schmerz auf. Es half alles nichts, also zog ich weiter. Nach ungefähr zehn Zentimetern war der Schlauch aus dem Arm raus. Und mit ihm einiges an Blut. Das weiße Laken sah aus wie ein Schlachtfeld. Das war der Moment, als wir alle ein bisschen in Panik ausbrachen. Es war eine gruselige Situation: Da saß ich in Ägypten und machte, was eigentlich der Hilfsarzt hätte tun sollen. Aber wer weiß, wie das dann ausgegangen wäre, denn jetzt war mir völlig klar, dass der Typ schon das Legen der Infusion richtig vermasselt hatte.


ICH LASSE MIR EIN KRANKENHAUSBESUCH IN ÄGYPTEN NATÜRLICH AUCH NICHT ENTGEHEN. EINE INFUSION IST GLEICH AM START.


DIE TYPISCHE AUSBEUTE NACH EINEM ARZTBESUCH UND DEM ANSCHLIESSENDEN GANG IN DIE APOTHEKE

Sonja ging es den ganzen weiteren Tag nicht besser, weshalb sie beschloss, am darauffolgenden Morgen zurück nach Deutschland zu fliegen. Um ihre kurze Ägypten-Erfahrung ist sie nicht zu beneiden. Stell dir vor, du kommst in ein Land, verbringst einen schönen Abend und freust dich auf eine super Zeit mit tollen Leuten. Doch alles, was du erlebst, sind Übelkeit und Schmerzen. Am Ende fliegst du nach zwei Tagen Tortur wieder nach Hause.

Natürlich tat es mir unwahrscheinlich leid für sie, aber wir konnten nichts dafür. Solche Erlebnisse passieren beim Reisen leider auch. Seit dieser Geschichte schreiben wir auf unsere Camp-Anmeldungen immer einen deutlichen Hinweis in Sachen Bargeld: Wenn es genutzt wird, dann nur in Kombination mit viel Hygienespray oder ausgiebigem Händewaschen. Ein anderer Tipp: Hin und wieder einen Schnaps trinken, um die Bakterien abzutöten. Oder lokalen Joghurt beziehungsweise lokale Milch trinken, das soll dem Körper helfen, sich an die heimischen Bakterienkulturen zu gewöhnen. Die Moral von der Geschichte? Geld macht tatsächlich nicht immer besonders glücklich. Und Ägypten manchmal auch nicht. Das sollte ich noch bei einer anderen Gelegenheit erfahren, die sich erneut im Rahmen eines DNX-Camps ereignete.


NICHTSDESTOTROTZ IST DAHAB UND DIE UMLIEGENDE GEGEND ALLEMAL EINEN BESUCH WERT.

Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite

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