Читать книгу Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite - Anita Vetter - Страница 17
ОглавлениеNO-GO-AREAS FÜR IMMER
Museumsmomente
Seit Februar 2010
Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch wunderbare Erlebnisse, die extrem herausstechen. Zeiten, die so schön waren, dass vollkommen klar ist: Das war ein absoluter Höhepunkt. Mehr geht nicht. Was an genau diesem Ort mit genau diesen Menschen war, lässt sich niemals wiederholen. Diese Momente sind später »die guten alten Zeiten«, für die wir unendlich dankbar sind und von denen wir auch wissen, dass sie nie zurückkommen werden. Das ist kein Grund wehmütig zu werden. Denn wenn wir Glück haben, warten im Leben noch viele solcher Höhepunkte. Nur eben diese nicht mehr.
Ich nenne diese Momente auch Museumsmomente. Das sind Erfahrungen und Abenteuer, die ich allein oder gemeinsam mit anderen Menschen erlebt habe und die so großartig waren, dass ich mich für den Rest meines Lebens an sie erinnern werde. Ich zehre von ihnen in schlechten und freue mich an ihnen in guten Zeiten. Doch was ich bei all meinen Reisen bemerkt habe: Diese Museumsmomente sind zerbrechlich. Und weil sie das sind, erschaffen sie No-go-Areas. Orte, an die ich nicht mehr zurückkehren darf, wenn ich die Erinnerungen bewahren möchte.
Einer dieser Orte ist für mich Mana Island in Fidschi. Ich verbrachte dort eine einmalige Zeit, von der ich auch in meinem ersten Buch erzählt habe. Damals lernte ich Dan kennen, der bis heute einer meiner besten Freunde ist. Ich habe Glück, dass er das auch noch so sieht, obwohl er mit mir die Sache in diesem King-Size-Bett in Australien erleben musste. Jedes Mal, wenn ich daran denke, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, obwohl es mir damals natürlich ausgesprochen schlecht ging.
Aber zurück zu Mana Island: In meiner Zeit auf dieser unverschämt schönen Insel lernte ich Menschen aus allen möglichen Ländern kennen – aus Kanada, Schweden, England, Irland –, die zu wirklich guten Freunden wurden. Wir hingen zusammen wie eine richtige Familie und hatten mit den Einheimischen dort eine grandiose Zeit, die geprägt war von Lachen und Freude. Das ist jetzt schon mehr als zehn Jahre her. In der Zwischenzeit hat sich dort mit Sicherheit unendlich viel verändert. Die Kinder, mit denen ich damals am Strand Fußball gespielt und gerauft habe, sind heute Teenager. Ich bin sicher, viele Erinnerungen würden sofort zurückkommen, sobald ich einen Fuß auf die Insel setzen würde. Und ebenso sicher bin ich, dass ich vor Wehmut ein bisschen Pippi in den Augen hätte. Einfach, weil die anderen nicht mehr dort sind, weil die Welt sich weitergedreht hat. Mehr noch: Selbst wenn dieselben Leute wieder dort wären, wäre es trotzdem nicht mehr dasselbe. Es gibt ein Zitat, das lautet in etwa: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach.« Es ist immer ein anderer Fluss, denn es ist immer anderes Wasser. Und Zeit kann man nicht zurückholen.
DIE KUNST, ERWACHSEN ZU WERDEN: EIN KIND BLEIBEN
MANA ISLAND AUF DEN FIDSCHIS
VOR 10 JAHREN MITEINANDER GERAUFT. HEUTE MÜSSTE »POOW« ETWA 16 JAHRE ALT SEIN.
Wenn genau diese Menschen und ich noch mal auf Mana Island wären, würden wir vielleicht sogar versuchen, an früher anzuknüpfen. Aber ich glaube nicht, dass wir es schaffen könnten. Und genau dieser Versuch würde die wunderbare Erinnerung an unsere großartige Zeit trüben. So sehr ich Abenteuer liebe, das ist mir zu riskant. Besser ich bewahre dieses Geschenk und reise an andere Orte. Warum etwas Vergangenes wiederholen? Die Welt ist so groß, alles verändert sich stetig, es gibt so viel zu erleben, so viele Menschen zu treffen! Wer will bei so einem großen Stapel voller Möglichkeiten versuchen, Memory zu spielen und dasselbe Erlebnis noch einmal zu suchen? Ich jedenfalls nicht.
No-go-Areas sind also Orte, wo ich nie wieder hinwill. Nicht weil sie schrecklich, sondern weil sie so besonders schön waren. Weil sie sich verändern und weil auch ich mich unweigerlich verändere. Sie sind mir auf eine gewisse Weise heilig. Dieses »Nie wieder« gilt allerdings wirklich nur für Orte, keinesfalls für Menschen. Tatsächlich nutze ich jede Gelegenheit, um Freunde wiederzusehen, die ich irgendwann irgendwo auf der Welt getroffen habe. In meinem ersten Buch erzählte ich beispielsweise von Kat, die mir in Kanada die Geschichte ihres Vaters erzählt hatte. 2020 traf ich sie nach zehn Jahren in Mexiko wieder. Dieses Treffen war unglaublich schön.
Meine Entscheidung, No-go-Areas auf der Landkarte zu markieren, entspringt übrigens nicht nur einer wilden Theorie in meinem Kopf. Ich bin tatsächlich schon einige Male an besondere Orte zurückgekehrt. Einer dieser Orte befindet sich in Tulum in Mexiko. Als ich vor elf Jahren zum ersten Mal dort landete, schleppte ich noch meine Isomatte, einen Schlafsack und einen 65-Liter-Rucksack mit mir herum. Nahe der Maya-Ruinen fand ich einen Strand, der mitten im Naturschutzgebiet lag. Im Schutz von Mangroven und Palmen schlug ich mein Zelt auf und ließ es für die folgenden zwei Wochen genau dort stehen. Ich ernährte mich von Kokosnüssen und Papayas und erwachte jeden Morgen in einem absoluten Traum. Es gab eine ganz kleine Strandbar, in der zu jeder Tageszeit Bob-Marley-Songs liefen. Hier gab es kühles Bier und auch das eine oder andere zu rauchen, das auch Bob Marley selbst gefallen hätte. Lange Zeit hing in meinem Kopf über diesem Strand in Tulum ein riesengroßes Neonschild, auf dem in großen Lettern »No-go-Area« blinkte. Doch ich ignorierte es, fuhr trotzdem hin – und war geschockt. Das Tulum, das ich vor einem Jahrzehnt kennengelernt hatte, gab es nicht mehr. Stattdessen setzte ich einen Fuß in Instagram-City. Wo einmal lediglich drei Hotels gestanden hatten, gaben sich jetzt Boutiquen und Nachtclubs die Klinke in die Hand. Überall waren irgendwelche Holzstatuen aufgestellt, vor denen Leute in Schlangen anstanden, um sich mit ihnen fotografieren zu lassen. Selbst vor dem Naturschutzgebiet hatte der Tourismus-Boom nicht haltgemacht. Zwar gab es hier keine Hotels, doch dafür viele Strandbars, Campingplätze und kleine Hütten, sogenannte Cabañas.
TULUM, WIE ICH ES KENNENGELERNT HABE
TULUM AKA »INSTAGRAM CITY« HEUTE …
Es gelang mir sogar den Ort zu finden, an dem ich vor so vielen Jahren mein Zelt aufgeschlagen hatte. Da war nichts mehr mit unberührter Natur. Hier befand sich nun ein Cabaña-Resort, bei dem du für ordentlich Asche eine Nacht in einer klimatisierten Hütte verbringen konntest. Es gab künstlich angelegte Gärten mit automatischen Sprinkleranlagen und Room Service. Der Anblick verstörte mich, dennoch wurde ich sehr emotional und lief mit Steffi in die Anlage hinein. Ich zeigte auf eine Palme: »Schau mal, diese Palme bin ich immer hochgeklettert, um mir die Kokosnüsse zu pflücken. Die gab es damals schon!« Ich war total geflasht, was auch Steffi bemerkte, die mich daraufhin angrinste. Ob sie sich vorstellen konnte, wie das alles ohne diese schicken Hütten ausgesehen hatte?
Noch während wir dort standen und die Palme hochstarrten, kam ein Security-Mitarbeiter der Anlage auf uns zu. »Entschuldigen Sie, können Sie mir bitte sagen, in welcher Cabaña Sie wohnen?«, fragte er uns.
»In keiner«, antwortete ich. »Ich war vor zehn Jahren schon einmal hier, als es das alles noch nicht gab.« Ich erzählte ihm, wie ich ein paar Wochen mit meinem Zelt hier gecampt hatte und dass das der Anfang meiner ersten großen Weltreise gewesen war.
So emotional ich war, so wenig war es der Wachmann. Als ich meinen kleinen Vortrag beendet hatte, erwiderte er mit ausdruckslosem Gesicht: »Wenn Sie hier nicht wohnen, dürfen Sie sich hier nicht aufhalten. Ich muss Sie bitten, das Gelände zu verlassen.«
»In Ordnung. Dürfte ich noch ein Erinnerungsfoto machen?«, ich schaute ihn fragend an.
»Nein. Das ist verboten«, kam es zurück.
Ich denke, ich muss nicht groß erklären, wie sehr mir das Herz blutete, als ich den Strand – und schließlich auch Tulum – wieder verließ. Ein Erinnerungsfoto habe ich trotzdem noch gemacht.
Ähnlich erging es mir mit einer kleinen Strandbar in Canggu auf Bali. No-go-Areas müssen keine kompletten Städte oder ganze Länder sein. In Canggu war es nur diese eine Strandbar am Berawa Beach, die mir für immer im Gedächtnis bleiben sollte. Hier trafen sich jeden Tag Surfer, Backpacker und Locals. Ich weiß nicht genau, woran es lag, aber über dieser Beach-Bar hing immerzu eine ganz eigene, wunderbare Stimmung. Immer, wenn ich einen phänomenalen Surf-Tag hinter mir hatte, aber auch wenn ich japsend an den Strand kroch, nachdem ich von den Wellen voll auf die Fresse bekommen hatte, lenkte ich meine Schritte zur Strandbar, und sofort erschien ein Grinsen auf meinem Gesicht. Die Bar bestand eigentlich nur aus einem kleinen Betonabsatz und ein paar alten zusammengeschusterten Brettern, auf denen zwei Kühlschränke standen. Es gab keinen Luxus, keinen Schnickschnack, nur kaltes Bier und freundliche Menschen. Heute gibt es die beiden Kühlschränke nicht mehr, nicht mal den Betonabsatz. Ein paar ausländische Investoren haben dort stattdessen einen riesigen Beach-Club für reiche Touristen hingezimmert, für die ein Mindestverzehrbetrag von 200 Euro pro Nase nur Peanuts sind. Ein Haufen weiß beleinter Strandliegen steht in Reih und Glied, während aus High-End-Boxen Ibiza-Musik dudelt. Gelassene Surfer-Dudes aus nah und fern, die sich mit einem riesen Grinsen im Gesicht zuprosten, sind hier nicht mehr zu sehen.
Als ich diesem ehemals wunderbaren Ort den Rücken kehrte und nach Hause ging, fragte ich mich, ob es fair war, wütend zu sein. Natürlich fand ich es megaschade und hätte es gerne anders gehabt. Welche Veränderung ist gut, und ab wann ist Veränderung schlecht? Wer entscheidet das? Und bin ich als Reisender in einem fremden Land nicht Teil des Problems?
Heute kann ich leider nicht mehr an die schöne Zeit in der Strandbar denken, ohne dass automatisch auch der schicke Beach-Club vor meinem inneren Auge auftaucht. Grund genug, meine anderen Museumsmomente wie Schätze zu hüten und die mit ihnen zusammenhängenden Orte großflächig zu umfahren.