Читать книгу Zur buckligen Wildsau - Anke Niebuhr - Страница 12

Die Wildsau-KI

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Borowski von Renko zu trennen, war für den Hund nicht gut gewesen. Er fraß kaum und war ein einziges Häuflein Elend. Andererseits wäre Renkos Teilnahmslosigkeit für ihn auch nicht viel besser gewesen, in Kombination mit Joshs Sorge vermutlich eher noch schlimmer. Adasger trug den kleinen Hund fast die ganze Zeit auf dem Arm, kraulte ihn, redete mit ihm und reagierte auf jede seiner Regungen, auch wenn das alles insgesamt nur wenig zu helfen schien. Er konnte Renko nicht ersetzen, das war klar. Immerhin brachte Adasger Borowski mit viel Geduld dazu, ab und zu ein paar Happen zu fressen.

Die Wildsau-KI hatte noch nicht angefangen, von sich aus zu sprechen. Sie antwortete nur auf Anfragen, und somit war Adasger auf sich allein gestellt. Er nutzte die Zeit, um sich zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Die Software der KI bestand im Prinzip aus Datenstrukturen und komplex ineinander greifenden Funktionen. Sie hatte außerdem Zugang zu aktuellen Informationen in ihrer Reichweite und war mit anderen KIs vernetzt, wodurch sie auch Informationen erhalten konnte, die ihr nicht direkt zur Verfügung standen. So weit, so gut.

Wissen ist nicht das, was Intelligenz ausmacht. Wissensverarbeitung und vor allem die Fähigkeit, abstrahieren und Schlussfolgerungen ziehen zu können, sind ein wesentlicher Faktor, genauso wie Kreativität, Eigeninitiative und Neugier. Man musste das Wissen hinterfragen, interpretieren und eine eigene Meinung entwickeln können, sonst war es reine Nachplapperei. Die KI hatte die Voraussetzungen dafür, optische und akustische Reize zu verarbeiten, sie konnte also sehen, hören und sprechen. Sie war diesen Reizen genauso ausgesetzt wie andere Wesen auch und speicherte diese als Erinnerungen in Relation zu ihrer Wissensdatenbank passend ab. Vielleicht war es sinnvoll, sie einfach beobachten, zuhören und sortieren zu lassen? Kinder kamen irgendwann in das Alter, in dem sie anfingen, Fragen zu stellen. Gut möglich, dass sich auch die KI so entwickelte.

Bis dahin konnte Adasger der KI Fragen stellen, auf die sie von alleine noch nicht kam. Ja, das wäre vielleicht ein guter Anfang. Aber welche Art von Fragen stellte man einer KI, die zwar alles wusste, in gewisser Weise aber dumm war? Was würde sie dazu bringen, eigene Fragen zu stellen? Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht. Was fehlte, um mit all diesem Wissen etwas anzufangen, war die Motivation dazu, ein Antrieb, ein Grund. Vorlieben, Abneigungen und Humor – brauchte eine KI so etwas? Entwickelte sich das von alleine?

Adasger wusste es nicht und plauderte mit der KI wie mit Borowski. Er redete einfach vor sich hin, kommentierte Dinge, die er gerade tat, erklärte, warum er sie tat und wie er sich dabei fühlte. Wenn ihm eine Frage einfiel, dann stellte er sie. Meistens ging es aber nur um triviale Dinge, die die Wildsau-KI leicht abrufen und wortgetreu wiedergeben konnte. Eigene Formulierungen, das Hinterfragen von Zusammenhängen oder Interpretationen waren nicht erkennbar. Sobald Adasger eine Warum–Frage stellte, bekam er eine sachliche Auflistung möglicher Antworten. Fragte er danach, ob der KI etwas gefiel, sagte sie ja. Fragte er, ob ihr etwas besser oder schlechter gefiel als etwas anderes, sagte sie nein. Er konnte nicht den leisesten Fortschritt erkennen, aber da er das gelassen hinnehmen konnte, war es für ihn nur eine Beobachtung, mehr nicht. Es war ihm bewusst, dass er selbst auch keine Fortschritte gemacht hatte: Er wusste immer noch nicht, durch welche Art von Fragen er die KI motivieren konnte, selbstständig zu denken. Er würde weiter herumprobieren müssen.

Adasger wusste von Hivvys Existenz, aber in all der Zeit, die verging, war ihm nicht aufgefallen, dass die Elementepfütze verschwunden war. Darum lag sie nach wie vor unbeachtet in ihrer katatonischen Starre mitten im Dschungel. Eines Morgens, als Adasger Borowski füttern und sich selbst Frühstück machen wollte, fiel ihm endlich auf, wie dreckig es auf und hinter der Theke war. Er sah sich im Raum um und fragte sich, wie es ihm gelungen war, den Dreck und die Unordnung so lange zu übersehen.

„KI, wo ist Hivvy?”

„Die Elementepfütze befindet sich auf dem Planeten Erde”. Es folgte ein Kauderwelsch, das Adasger nicht verstand, präzise Positionsangaben in Relation zu was auch immer, intergalaktischer Standard, kurz: Die Wildsau-KI wusste, wo Hivvy war, das war gut.

„Warum ist sie nicht hier?”

„Diese Information steht mir nicht zur Verfügung.”

„Kannst du sie bitte kontaktieren und fragen?”

Nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, fragte Adasger nach. Er bekam die Antwort, dass die Elementepfütze kontaktiert worden sei, auf die Frage aber nicht reagiert habe.

„Warum hast du mir das nicht eher gesagt?”

„Weil du nicht um diese Information gebeten hast.”

„Ach so. Gut. KI, wenn ich dich um etwas bitte, möchte ich immer eine Rückmeldung über das Ergebnis haben ohne noch einmal nachfragen zu müssen.” Diese Aussage sollte sich im Laufe der Zeit noch als unpräzise herausstellen, aber vorläufig war sie passend genug. Adasger überlegte. Die Wildsau musste in Dasogra bleiben, denn er wollte, dass Josh nicht alleine war, wenn er von der Oase zurückkehrte, egal was dabei herauskam. Deswegen wollte er die Wildsau nicht verlassen, aber wenn etwas mit Hivvy nicht in Ordnung war, konnte er das nicht einfach ignorieren. Er rechnete nach: Josh und Renko waren jetzt etwa zwei Wochen weg, es würde also noch dauern, bis sie wieder da waren. Somit konnte er die Wildsau problemlos kurz verlassen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass Josh und Renko eher zurück kamen als erwartet, wäre er im Handumdrehen wieder da. Mit einem Portal müsste das gehen.

„KI, öffne mir bitte ein Portal zu Hivvy und halte es offen, bis ich wieder da bin. Wenn Josh und Renko auftauchen, lass es mich bitte sofort wissen.”

Ein Torbogen erschien in der Wand der Wildsau. Adasger trat in den Dschungel und sah Hivvy sofort. Überflüssigerweise sagte die KI: „Ich habe ein Portal geöffnet. Hivvy befindet sich in fünf Metern Entfernung in nordöstlicher Richtung.” Adasger hörte gar nicht zu, er war mit seinen Gedanken längst bei der Elementepfütze. Er stand – mit Borowski auf dem Arm – vor einem halb zerfallenen Müllberg, der aus einer silbrig glänzenden Flüssigkeit ragte.

„Hivvy?”

Keine Reaktion, wie die KI gesagt hatte. Seltsam. Es regnete, und dicke Tropfen fielen in die Pfütze. Adasger kniete sich nieder und wollte sie berühren, da fing Borowski an zu zappeln. Er winselte und versuchte zu flüchten. Adasger sprach beruhigend auf den Hund ein und hielt ihn fest. Er streckte wieder den Arm aus und in dem Moment, in dem sein Finger die Pfütze berührte, zerstob sie in tausende winzige Dinger, die wild in der Luft herumwirbelten. Adasger erschrak und zuckte zurück. Dann fing Hivvy das Formflackern wieder an. Erstaunt sah Adasger dem chaotischen Wechsel zu, bis es langsamer wurde und Hivvy schließlich wieder zu einer Pfütze wurde. Ihm dämmerte, was passiert sein musste.

„Hivvy, du wurdest von einem Blitz getroffen. Das ist zwar selten, aber es kommt vor und ist ganz wunderbar, auch wenn es sich für dich gerade nicht so anfühlt.”

Die Pfütze reagierte nicht.

„Es bedeutet, dass du sozusagen Mutter werden kannst, wenn du willst”, fuhr Adasger fort. „Durch den Blitz ist eine Seele in dich gefahren. Die Seele, in Kombination mit deinen Fähigkeiten, kann einen Dschinn erzeugen, wenn du das möchtest.”

Die Pfütze reagierte auch darauf nicht.

„Die Gefühle in dir sind noch nicht deine, können es aber werden. Sie gehören zu der Seele, die im Moment ein Teil von dir ist. Du hast die Wahl: Wenn du zulässt, dass sich ein Dschinn formt, kann sich dieser Teil zusammen mit der Seele von dir abspalten. Sobald du ihn loslässt, wird er ein eigenständiges Leben führen und du bist wieder ganz du selbst, so wie vorher. Du kannst dich aber auch komplett in einen Dschinn verwandeln, ohne etwas von dir zurückzulassen. In dem Fall wirst du als Dschinn weiterleben. Das würde bedeuten, dass du deine Fähigkeiten behältst, außer der Zeitmanipulation. Zeit würde für dich – so wie jetzt – normal verlaufen. Dafür wirst du lernen können, wie man teleportiert. Du hättest außerdem eine festgelegte Form, bei der du nur noch die Größe und die Proportionen verändern kannst. Du hast die Wahl, ob du wieder eine Elementepfütze oder lieber ein Dschinn werden willst.”

Er überlegte.

„Oder du bleibst, wie du jetzt bist, ein Gestaltwandler. So kannst du keine Gegenstände mehr erschaffen, aber du kannst zu jedem beliebigen Gegenstand oder Wesen werden. In jeder deiner Formen hättest du Gefühle und wärst dir deiner Existenz bewusst. Ich weiß nicht, ob das sinnvoll wäre, und auch nicht, wie sich das für dich anfühlen würde. Leider kann ich dir bei der Entscheidung nicht helfen, denn ich kann es nicht gut genug nachvollziehen. Tut mir leid, dass du damit auf dich allein gestellt bist. Nun, falls das ein Trost ist: Egal, wie du dich entscheidest, du bist jederzeit in der Wildsau willkommen, wenn du zurückkommen möchtest.”

Die Pfütze reagierte noch immer nicht.

„Weißt du was? Ich gehe jetzt ein bisschen mit Borowski spazieren und komme irgendwann wieder. Lass dir Zeit, es ist eine große Entscheidung, die du da treffen musst. Es ist nicht eilig, ich komme wieder. Wenn du möchtest, suche ich eine Elementepfütze, die mit dieser Situation Erfahrung hat. Vielleicht könnte dir das weiterhelfen. Überleg es dir in Ruhe, ich bin bald wieder da.”

Er setzte Borowski auf den Boden. Wie von der Tarantel gestochen rannte der Hund los. Adasger stand auf und ging dem Hund hinterher. Wenigstens rannte Borowski zur Abwechslung mal wieder, das würde ihm gut tun. Der Dschungel war recht undurchdringlich, also schuf Adasger eine unsichtbare Blase um sich herum, die dünne Zweige, Dornen und biegsames Gestrüpp von ihm fernhielt. So konnte er sich halbwegs ungehindert bewegen und brauchte sich keinen Weg freizukämpfen.

Während er langsam in die ungefähre Richtung ging, in die Borowski verschwunden war, hing er seinen Gedanken nach. Es war ein seltsamer Zufall, dass Hivvy ausgerechnet jetzt vom Blitz getroffen worden war. Manche würden das Schicksal nennen, aber gab es das? Er wusste es nicht und eigentlich war es nicht wichtig, es machte keinen Unterschied. Trotzdem, es war schon ein uriges Phänomen, wie Ereignisse manchmal ineinander griffen und sich gegenseitig beeinflussten.

Josh hatte sich um die Wildsau-KI kümmern wollen, Renko nicht, im Gegenteil. Renko hatte vermutlich nur Josh zuliebe zugestimmt, vermutete Adasger. Jetzt war er ein wandelndes Gemüse und konnte sich nicht kümmern – wenn man wollte, konnte man da einen Zusammenhang hineininterpretieren. Ob Renko auch von einem Blitz getroffen worden war? Was geschah mit Dämonen, wenn ihnen so etwas passierte? Adasger hatte noch nie von einem solchen Fall gehört, aber möglich wäre es. Hmmm …

Und was bedeutete es für die Wildsau-KI, dass Hivvy nicht mehr da war und Dinge erschuf? Das war zwar unpraktisch, aber vielleicht gar nicht schlecht. Nicht auszudenken, was sie hätte anrichten können, das hatten sie gar nicht bedacht – und nochmal Glück gehabt. Er würde das bei passender Gelegenheit mit den anderen besprechen. Erst einmal abwarten, was nun aus Hivvy werden würde. Gut möglich, dass bald alles wieder so war wie vorher. Da fiel ihm der Zustand der Wildsau wieder ein. Er würde aufräumen und putzen, wenn er wieder da war. Ja, er hatte richtig Lust dazu. Himmel, aufräumen und putzen – das hatte er ja seit Jahrhunderten nicht mehr getan.

Zur buckligen Wildsau

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