Читать книгу Nasser Verdacht - Ann-Katrin Zellner - Страница 10
4 Samstag
ОглавлениеDer Regen hörte nach und nach auf. Nachdem ihn der Albtraum die letzten Nächte immer wieder geweckt hatte, konnte er in dieser bis morgens durchschlafen.
Heute war sein freier Tag. Der Blick auf die Wettervorhersage hob seine Stimmung augenblicklich. Dort stand für die nächsten zehn Tage nur Sonnenschein. Die ganze Woche hatte es geregnet.
Zufrieden lief er in Richtung Küche, um zu frühstücken. Die letzten beiden Brotscheiben waren verschimmelt. Er bemerkte es, als er sie mit Butter bestrich. Missmutig warf er sie in den Müll und nahm das Toastbrot aus dem Schrank.
Es gab nichts Besseres als Toast mit Aufstrich. Mit dem Blick in den fast leeren Kühlschrank war ihm klar, dass er sich nicht ums Einkaufen drücken konnte. Er kratzte den letzten Rest aus dem Marmeladenglas und strich es auf den Toast. Beim Reinbeißen spritzten die Krümel in alle Richtungen.
Herrlich, dachte er und schloss genießerisch die Augen. Er überlegte, was er den in den nächsten Tagen kochen könnte. Erst als er das Toastbrot gegessen hatte, holte er sich einen Block und einen Stift. Er schrieb alles auf, was ihm einfiel.
„Klopapier fehlt.“
Das fiel ihm ein und kritzelte es auf sein Blatt. Er beschloss, gleich einkaufen zu gehen.
Die Tasche mit den Pfandflaschen stand seit Tagen im Flur. Über sie war er mehrmals gestolpert. Leichtfüßig schritt er mit Tasche, Geldbeutel und Schlüssel die Treppe hinunter. Seine Wohnung lag mittig in dem fünfstöckigen Haus. Die anderen Mieter kannte er kaum, nicht mal die Namen.
Draußen grinste er die beiden Jungs an. Sie sortierten emsig ihre Spielkarten. Erste Sonnenstrahlen suchten sich den Weg durch die dunklen Wolken. Der Supermarkt war um die Ecke. Dort kaufte er am liebsten ein.
Heute war es voller als sonst. Samstag früh einzukaufen war nicht die beste Idee, aber diesmal hatte er keine Wahl.
Erst nach zehn Minuten konnte er seine Pfandflaschen abgeben. Eier, Toast und Marmelade fanden schnell Platz im Einkaufskorb. Er stand vor den Tiefkühlpizzas und wusste nicht, welche er nehmen sollte. Er griff eine Pizza. Wahllos. Ein Blick auf seinem Einkaufszettel erinnerte ihn, dass er die Milch vergessen hatte.
Suchend schaute er sich um, als ihm die grauhaarige ältere Dame auffiel. Sie stand vor dem Keksregal und versuchte, an die obersten zu kommen. Sie schaffte es nicht.
Sofort regte sich sein Helferkomplex. Es fehlte nicht viel und er hätte seinen Einkaufskorb fallen lassen, nur um ihr zu helfen.
„Welche Kekse möchten Sie den haben?“, fragte er sie und schickte ein Lächeln hinterher.
„Ach wissen Sie“, antwortete sie, „wenn man so alt und so klein ist, sollte man nicht allein einkaufen gehen.“ Dabei sah sie so traurig aus, dass es ihm eng ums Herz wurde.
„Geben Sie mir bitte die Biokekse?“, sagte sie, als er keine Antwort gab.
„Aber gerne.“ Er reichte sie ihr. Dabei überrollte ihn eine Welle neuer Energie. Das Gefühl gebraucht zu werden. Etwas, das ihm die letzten Tage gefehlt hatte. Der Chef hatte ihn mehrfach angeschrien. Ein weiteres Gefühl regte sich in ihm. Tatendrang. Der Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass es wieder Zeit wurde.
„Danke schön“, riss ihn die ältere Dame aus seinen Gedanken.
„Immer gerne“, sagte er zerstreut. Schnell lief er zur Kasse, ohne an die anderen Sachen zu denken, die er kaufen wollte.
Als er nach Hause kam, stellte er die Tasche ab. Er packte alles in den Kühlschrank.
Seine Gedanken kreisten. Es ließ ihm keine Ruhe. Fast stolperte er über die eigenen Füße.
Im Schlafzimmer öffnete er die Tür vom großen Schrank. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, etwas im obersten Fach zu greifen. Es gelang ihm nicht.
Suchend schaute er sich nach dem Stuhl um. Der stand am Fenster. Er hatte nachts dort gesessen.
Auf dem Stuhl stehend fiel es ihm leicht, die Wäsche zu verschieben. Ganz hinten in der Ecke war die versteckte Kiste.
Erleichterung machte sich in ihm breit. Er hob sie heraus. Sie war ein wenig eingestaubt. Er pustete. Und hustete, als es ihn kitzelte.
Er ließ sich auf sein Bett nieder. Seine Hände zitterten leicht, als er die Kiste vor sich aufschloss.
Alles war da. So, wie er es hineingelegt hatte. Mit den Fingern fuhr er durch die Gegenstände.
Jedes Einzelne stellte für ihn eine Erinnerung dar. Er fing an zu grübeln. Dachte nach. Und nahm den Ring heraus. Er drehte ihn und ließ ihn im Licht leuchten.
Als ich meine Augen öffnete, schien sich die Welt um mich herum zu drehen. Schnell schloss ich sie wieder. Mein Kopf brummte. Bei der Party gestern hatte ich mehr getrunken, als ich vertrug.
Ich versuchte, mich zu erinnern, aber es half nicht. Suchend tastete ich nach der Wasserflasche. Sie stand nicht neben dem Kästchen. Panisch rutschte ich an den Rand vom Bett und versuchte, mit einem Auge die Flasche zu finden. Sie stand eine Armlänge entfernt mitten im Raum.
Die Zeit, mich darüber zu wundern, hatte ich nicht. Ich setzte mich auf und trank in einem Zug den Rest, der in der Flasche war, aus. Mein Blick fiel auf mein Handy. Ich hatte vergessen, es amLadekabel anzuschließen.
Seufzend griff ich danach und stöpselte es an. Nach einigen Sekunden fuhr es hoch und zeigte mir ein paar neue Nachrichten an. Die Letzte kam von Max.
„Nicht vergessen, um halb zehn hol ich dich ab zum Brunchen :*“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf die Uhr. Sie schaltete von 9.17 Uhr auf 9.18 Uhr um. Das hatte ich vergessen.
Wie konnte ich mich in zehn Minuten anziehen und schminken? Mein Kopf schien zu explodieren. Ich tippte schnell eine Antwort:
„Hab es nicht vergessen :) brauche ein paar Minuten länger.“
In der Schublade vom Nachtkästchen fand ich ein paar Aspirin. Ich nahm gleich zwei heraus und stand auf. Mit dem Schokoriegel, der oben drauf lag, verschwand ich im Bad. Innerhalb von ein paar Minuten war ich geduscht und zog mich an. Schwarze Hose, rote Bluse. Ich schnappte meine Tasche und lief die Treppe hinunter.
In dem Moment klingelte es an der Tür. Max stand mit seinen pechschwarzen Haaren und dem umwerfenden Lächeln vor der Tür.
Ich konnte nicht anders wie zu lächeln, als er mich an sich zog und küsste. Seine Lippen waren warm und weich und es fühlte sich verdammt gut an.
„Du siehst verschlafen aus“, neckte er mich.
„Gar nicht“, versuchte ich mich, herauszureden.
„Ich sehe es dir doch an“, flüsterte er in mein Ohr. Ich löste mich aus seiner Umarmung und angelte meinen Schlüssel vom Brettchen. Nachdem ich die Tür zugezogen hatte, stieg ich zu ihm ins Auto.
„Wo fahren wir hin?“, fragte ich ihn. Er blickte mich kurz an und grinste nur.
„Wirst sehen“, antwortete er nach einigen Sekunden. Er sagte nichts, ich gab nach weiteren Fragen auf und schaute mir die Landschaft an.
Der Weg kam mir bekannt vor. Aber erst als er zum Parkplatz „Zum blauen Wald“ abbog, dämmerte mir, wohin er mich führen wollte.
„Wie hast du im Blauen Wald einen Tisch bekommen?“, fragte ich erstaunt. Dort bekam man am Wochenende nur mit langer Vorlaufzeit einen Platz. Vor allem bei heißem Wetter.
„Verrate ich nicht“, sagte er grinsend. Schwungvoll parkte er ein. Wir nahmen die drei Stufen hoch zum Gasthaus. Es lag direkt am Wildsee und man konnte ihn fast überblicken.
Ich entdeckte die kleine Lichtung, die Max mir vor ein paar Wochen gezeigt hatte, als wir hier schwimmen waren.
Der Wildsee war einer der Badeseen in der Umgebung. Er wurde von Quellen mit Wasser versorgt. Dadurch war es immer herrlich frisch und kühl.
An der kleinen Terrasse blieb ich kurz stehen. Ich sog den Anblick ein, wie die Sonne hinter der Felswand auftauchte. Es brachte das Wasser zum Schimmern.
Einige Menschen schwammen oder lagen auf einer Liege in der Sonne. Der Strand zog sich um den halben See. Angefangen von der Gaststätte bis hin zur Felswand.
Max zog mich hinein. Er hatte Hunger. Der Wirt kam uns freudestrahlend entgegen.
„Max!“, rief er quer durch den Raum, sodass sich alle zu uns herumdrehten. „Schön, dich wiederzusehen!“
Mir blieb fast der Mund offen stehen. Wie konnte es sein, dass die beiden sich kannten?
„Hallo Holger! Hast du den Tisch frei?“, antwortete Max. Die Männer umarmten sich kurz.
„Aber natürlich. Wenn du schon so hübschen Besuch mitbringst“, zwinkerte er mir zu. Ich errötete und mir war das alles peinlich.
Max nahm mich an der Hand und wir folgten Holger, der uns an der Theke vorbei weiter nach hinten führte. Dort stockte mir der Atem.
Ein Tisch für zwei Personen hatte in der Nische Platz. Der Ausblick aus den bodenhohen Fenstern über den Wildsee war herrlich.
Auf dem Tisch standen eine große Kerze, ein Brotkörbchen und eine kleine Auswahl an Aufstrichen da. Alles für ein Brunch. Mir fiel nichts mehr ein und so nahm ich wortlos Platz.
„Gefällt es dir?“, fragte Max vorsichtig. Ich nickte nur und ließ meinen Blick nicht vom Fenster weg.
„Das freut mich. Ich wollte dir was Positives zeigen, etwas, dass dich an die schönen Dinge im Leben erinnert.“
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und murmelte ein Danke. Verschämt wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Mir fiel keine Erwiderung ein.
Was hätte ich sagen sollen? Er war so lieb zu mir die letzten Wochen gewesen, hatte mich fast jeden Tag besucht oder nach der Schule abgeholt und ich wollte nur meine Ruhe haben. Nur ihm zuliebe war ich mitgegangen.
„Du bist mir wichtig, Anna und ich will dich nicht verlieren. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, das spüre ich“, sagte er leise und nahm meine Hand. Ich schaute ihn an und mir lief eine Träne die Wange hinunter. Er kannte mich inzwischen. Max war der Einzige, mit dem ich reden konnte oder an mich heranließ. Bei allen anderen spielte ich die Situation herunter. Es ginge mir besser, war meine Antwort auf ihre Fragen. Doch in Wahrheit stand ich kurz vor einem Zusammenbruch.
„Ich würde mir wünschen, dass du eine Therapie angehst und darüber redest, was passiert ist. Damit ich meine Sorgen vergraben kann“, sagte er leise.
In dem Moment brach ich zusammen. Die Tränen schossen nur so aus mir heraus, entließen meine Ängste in die Freiheit.
„Schhhh“, machte Max bestürzt und kam zu mir herum, um mich fest in die Arme zu schließen.
„Versprochen“, brachte ich mühsam hervor. Max reichte mir ein Taschentuch. Ich wischte die Tränen weg.
„Alles okay?“, fragte Max und schaute mich prüfend an.
„Ja.“ Ich lächelte leicht. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und reichte mir ein Brötchen.
Ich fühlte mich erleichtert und frei wie schon lange nicht mehr. Ein kleiner Lichtblick war am Horizont zu sehen, wo die letzten Wochen nur Dunkelheit geherrscht hatte. Wie er dasaß und mich anstrahlte, da wurde mir klar, wie es ihn verletzt hatte, als ich mich immer abweisend verhalten hatte. Er wollte mir helfen. Ja, ich würde die Therapie anfangen. Nur ihm zuliebe.