Читать книгу Meeresglühen (Bd. 1) - Anna Fleck - Страница 10
Kapitel 3
ОглавлениеAls ich ins Wohnzimmer der Bernhardts kam, blickten mir die beiden alten Damen erwartungsvoll entgegen.
»Äh … Er war kurz wach und hat gesprochen«, machte ich pflichtgetreu Meldung. »Dann wurde er wieder bewusstlos. Atmet aber ruhig … und sieht auch aufgetaut aus.«
»Oh, das ist gut. Sehr gut!« Helen lächelte und bot mir einen Platz auf der Couch an. Ihr Gesicht erinnerte mich immer an einen gut gereiften Apfel – von der Seeluft gerötete runde Wangen und unzählige Fältchen, dazu scharfe, dunkle Augen, die hinter einer Brille mit Goldgestell hervorblitzten. Ihre Kleidung war jeder Zoll englische Lady vom Lande, stilvoll, aber praktisch: Über der geblümten Bluse trug sie eine dunkelgrüne Wolljacke, passend zum gleichfarbigen knielangen Rock, und feste, vernünftige Lederschuhe, mit denen man vermutlich stundenlang über die Klippen stapfen konnte. Ihre weißgrauen Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Keine Strähne zitterte, als sie ihrer Schwester auffordernd zunickte. »Hildy, einen Becher Tee, na los …«
»Ich glaub, das kriegt er noch nicht hin …«, murmelte ich und setzte mich.
»Nicht für ihn, Schätzchen, für dich!«
Die jüngere Bernhardt-Schwester kicherte und drückte mir einen riesigen, dampfenden Becher mit verwaschenem Arielle die Meerjungfrau-Aufdruck in die Hand. Dahinter ließ sich mein belämmerter Gesichtsausdruck wunderbar verstecken.
»Beim Notruf spielen sie die ganze Zeit so eine dumme Musik ab und bitten um etwas Geduld«, seufzte Hildy und schob die Zuckerdose zu mir herüber. »Ist das zu fassen? Man stelle sich vor, wir hätten jemanden mit Herzinfarkt hier!«
Sie sah ihrer Schwester im Gesicht unglaublich ähnlich, doch ihr Outfit war eindeutig weniger Laura Ashley als vielmehr Vivienne Westwood: Über einer verwaschenen himmelblauen Batik-Tunika und neongrünen Leggins saß eine kurze Jacke in Hot Pink. An den Füßen trug sie Filzlatschen in Lila und Gold, um den Hals mehrere bunte Perlenketten. Auf ihrer Nase thronte eine riesige Brille mit violett getönten Gläsern, was ihr den Ausdruck eines leicht zugedröhnten Uhus verschaffte, und in ihren grauen Haaren, die zu zwei flotten Knoten gezwirbelt waren, entdeckte ich lila Strähnchen. Schon als Kind hatte ich gestaunt über ihre Aufmachung, die so gar nicht in das Cornwall-Post-kartenidyll passte – und erst recht nicht zu der stilbewussten Helen. Doch trotz des unterschiedlichen Kleidungsgeschmacks waren die beiden Schwestern ein Herz und eine Seele.
Dementsprechend sprang Helen auch jetzt Hildy bei. »Recht hast du! Ich frage mich, wofür wir jedes Jahr höhere Steuern zahlen, wenn am Ende so was dabei herauskommt!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Tja, da heißt es wohl erst einmal abwarten und Tee trinken, was, Kindchen?«
»Vielleicht ist das ja auch besser so«, erwiderte ich, hinter meinem Becher verschanzt.
Hildy warf mir einen neugierigen Eulenblick über den Rand ihrer violetten Brille zu. »Du meine Güte, Liebes, was soll denn das bedeuten?«
»Na ja …« Ich zog den Morgenmantel enger um mich. »Es war voll schräg. Kaum wach, ist der Typ total abgedreht. Vor allem, als er hörte, dass wir einen Arzt rufen. Er will keinen Arzt, es soll überhaupt niemand kommen. Er hat gesagt …« Ich holte kurz Luft. »Er hat gesagt, man würde ihn sonst töten. Und mich auch.«
Die Schwestern wechselten einen Blick.
»Was noch?«, wollte Hildy wissen.
»Nichts weiter, dann war er wieder weg«, erklärte ich. »Aber ich glaube nicht, dass er von hier ist. Vielleicht nicht mal aus Großbritannien. Er spricht mit Akzent und hat nach Worten gesucht, Grammatikfehler gemacht. Englisch ist bestimmt nicht seine Muttersprache.«
»Hm …« Helen nahm einen Schluck aus ihrem eigenen Riesenbecher, der in knalligem Blau-Schwarz-Grün die Aufschrift »Jambo!« trug.
Einen Moment lang herrschte Stille. Ich gebe zu, ihre Reaktion überraschte mich. Sollten alte Damen bei Todesdrohungen unter ihrem eigenen Dach nicht vielleicht etwas … was weiß ich, besorgter reagieren? Doch wenn ich das Funkeln in ihren Augen richtig deutete, war da eher Abenteuerlust als Angst.
»Drogen«, verkündete Hildy schließlich dramatisch. »Es könnte mit Drogen zu tun haben.«
»Ein Dealer mit Surfbrett?« Helen warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Wir sind doch nicht in Kalifornien!« Dann wandte sie sich an mich. »Was meinst du denn?«
Ich pustete in meine Riesentasse und sagte: »Was macht ein Krimineller auf einem Surfbrett vor Cornwalls Küste? Noch dazu in einem Sturm? Die werden ja wohl auch den Wetterbericht hören …« Ich nahm einen Schluck Tee und überlegte. »Also, ich glaube, er ist ein Flüchtling. Ein Illegaler. Er war draußen auf einem Boot, und dann haben ihn die Schlepper auf dem Brett ausgesetzt, damit er an Land kommt. Vielleicht waren da noch mehr.«
Helen runzelte die Stirn. »Aber wovor hat er solche Angst?«
»Wahrscheinlich vor der Polizei hier«, vermutete ich. »Wer weiß, was die ihm erzählt haben.«
Hildy warf ein Stück Zucker in ihren gigantischen Winnie-Puh-Becher und nickte verständig. »Schön und gut. Was machen wir denn jetzt?«
»Egal, was er sagt, er muss doch untersucht werden, oder?«, fragte ich unsicher. »Vielleicht sollten wir ihn direkt ins Krankenhaus bringen?« Ich fühlte mich ziemlich hilflos. Wäre doch bloß meine Mutter hier!
Die ältere Bernhardt-Schwester warf der jüngeren einen verschwörerischen Blick zu. »Wir könnten deinen Verehrer holen.«
»Colin ist nicht mein Verehrer!«, zischte Hildy empört, schob aber sogleich hinterher: »Du hast recht, das könnten wir. Bei dem läuft bestimmt keine Warteschleife …« Eifrig verschwand sie in Richtung Telefon, begleitet vom Klickern ihrer zahlreichen Perlenketten.
»Dr. Wilkes ist ein alter Freund aus St. Ives«, erklärte mir ihre Schwester augenzwinkernd. »Er ist Arzt. Oder war es. Seine Praxis hat er vor gut zehn Jahren aufgegeben, aber so was verlernt man ja nicht, denke ich. Wenn wir ihn bitten – oder wenn Hildy ihn bittet«, sie schmunzelte, »kommt er bestimmt sofort und schaut sich dein Strandgut an. Und er kann den Mund halten.«
Ich stellte den Arielle-Becher ab und lehnte mich erschöpft in die Kissen der Couch zurück. »Hauptsache, das ›Strandgut‹ wacht während der Untersuchung nicht auf. Dann garantiere ich für nichts …«
Mir fielen die Augen zu, und ich schüttelte mich kurz, um wach zu bleiben. Aber Helen tätschelte mir beruhigend den Arm. »Mach du ruhig ein Nickerchen, Kindchen. Du hast für heute genug getan.«
Und das klang plötzlich nach einer richtig guten Idee.
Es war eine tiefe Stimme mit unverkennbar cornischem Akzent, die mich weckte. Sie klang, als ob sich ein freundlicher Pirat an Land verirrt hatte.
»Kein Wunder, dass ihr beim Notruf nicht durchgekommen seid, meine Lieben«, tönte es aus dem Flur. »Der Sturm letzte Nacht war wohl schlimmer als erwartet. Hat im Süden einen Haufen Dächer abgedeckt und Unfälle verursacht. Und auf See erst! Wie ich gehört habe, wird mindestens ein halbes Dutzend Boote vermisst. Zwei sind bei den Scillies Leck geschlagen und gesunken. Zum Glück keine Toten – bisher …«
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Das Licht, das in das kleine, zugestellte Wohnzimmer der Bernhardts fiel, hatte sich verändert. Es musste bereits früher Abend sein. Oh Mann, ich war wirklich auf der Couch eingeschlafen! Jemand hatte mich fürsorglich mit einem hellblau gemusterten Quilt zugedeckt. Ich richtete mich auf und zupfte hastig den verrutschten Morgenmantel zurecht.
»Jetzt vielleicht doch ein Tässchen, Colin?« Hildy lugte um die Ecke. »Oh Liebes, du bist ja wach! Kommt, dann setzen wir uns zu dir. Colin, das ist Ella Keane. Ella – Dr. Wilkes.«
Ein grauhaariger Herr betrat das Wohnzimmer, angeführt von den Bernhardts. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie zerrupft ich aussehen musste, mal ganz abgesehen von meinem schrägen Asia-Look. Dr. Wilkes begrüßte mich förmlich mit How do you do?. Ganz Gentleman der alten Schule. Dazu passte auch der leicht verstaubt wirkende dunkelbraune Dreiteiler, den er trug. »Dir verdankt der Junge da oben also sein Leben, ja?«, sagte er. »Keine Widerrede, so ist es. Schließlich konnte ich mich gerade selbst von seinem Zustand überzeugen. Aber einen Schutzengel hattest du auch, das weißt du, oder?«
Ich murmelte etwas und bemühte mich, den festen Händedruck des Doktors zu erwidern. Er hatte ein zerfurchtes, wettergegerbtes und sehr freundliches Gesicht, das mehr nach einem Kapitän als einem Arzt im Ruhestand aussah. Dann wurde er auch schon in den Sessel neben mir beordert und bekam ebenfalls einen Becher Tee. Darauf prangte ein grünes Cartoon-Krokodil nebst der Aufschrift »No worries, mate!«.
»Nun erzähl aber endlich.« Hildys Stimme unterbrach meine Gedanken. »Wie geht es unserem Gast? Du sprachst von einem Rätsel?«
»Wenn es nur eins wäre …« Dr. Wilkes blickte nachdenklich in die Runde. »Ihr wisst nichts weiter über ihn? Wo er herkommt?« Dabei sah er mich an.
Ich schüttelte den Kopf. »Er war nur kurz bei Bewusstsein. Hatte Angst vor irgendjemandem.«
»Ella vermutet, dass er ein illegaler Flüchtling ist«, schaltete sich Helen ein und reichte einen Keksteller herum. Ich merkte, wie leer mein Magen war, und griff mir gleich eine Handvoll. Custard Creams – schon etwas pappig, aber trotzdem lecker.
»Schätzchen, das weißt du ja noch nicht, aber wir haben in der Zwischenzeit seine Sachen ein bisschen unter die Lupe genommen.« Hildy zwinkerte mir verschwörerisch durch die lila Gläser ihrer Brille zu.
»Und nichts gefunden«, bremste ihre Schwester die Dramatik aus. »Keine Papiere, kein Handy oder Geld, nichts.«
»Da ist dieser Ring …«, fiel mir ein.
Beide nickten zustimmend.
»Massives Gold, dürfte ziemlich wertvoll sein. Sehr feine Arbeit«, meinte Helen mit Kennermiene. »Wirkt wie nach einem antiken Vorbild angefertigt. Aber der Stil sagt uns nichts. Keine Ahnung, aus welchem Kulturkreis der stammen könnte. Falls also Name und Adresse nicht innen eingraviert sind, hilft er uns auch nicht weiter.«
»Übrigens waren keinerlei Etiketten an der Kleidung«, ergänzte Hildy. »Der Stoff ist ausgesprochen hochwertig, soweit man das noch sagen kann. Und alles handgefertigt, schätzen wir.«
»Dann ist er entweder sehr reich«, ich schluckte hastig den Custard Cream hinunter, den ich noch im Mund hatte, »oder er kommt von echt weit her. Ich meine, in welchem Land zieht man sich heute noch so an?«
Nachdenkliche Blicke waren die Antwort.
»Aber entschuldigen Sie, wie geht es ihm denn nun?«, wandte ich mich an Dr. Wilkes und dachte an das Rätsel, das Hildy erwähnt hatte.
Der pensionierte Arzt räusperte sich. »Also, soweit ich das sagen kann, geht es ihm nicht schlecht. Genauer kann ich das erst beurteilen, wenn er wach ist, aber fürs Erste wirkt sein Zustand stabil. Und damit beginnt der weniger klare Teil meiner Anamnese.« Jetzt blickte er mich an. »Er ist erkennbar dehydriert, hat schätzungsweise seit zwei Tagen nichts getrunken. Ich habe einen Tropf mit Elektrolytlösung für ihn improvisiert, den müsstet ihr in etwa zwei Stunden erneuern.«
»Das kann ich machen«, bot ich an. Damit kannte ich mich immerhin aus, dank Mama.
Dr. Wilkes nickte anerkennend und fuhr fort: »Außerdem habe ich Sonnenbrand festgestellt, vor allem an Nacken, Unterarmen, Waden und Handrücken. Eben alle Stellen, die nicht mit Kleidung bedeckt und exponiert waren, wenn er bäuchlings auf dem Surfbrett lag. Das kann er sich nicht gestern geholt haben, bei dem Sturm. Aber vorgestern hatten wir einen wolkenlosen Himmel. Von daher müsste er tatsächlich seit zwei Tagen auf dem Meer gewesen sein.« Die Worte des Arztes klangen bedächtig, als ob er mit sich selbst spräche. »Das ist allerdings höchst unwahrscheinlich – bei diesen Temperaturen, ohne entsprechende Ausrüstung … Ein Freund bei der Navy hat mir einmal gesagt: Im Atlantik ist die Rettungsweste vor allem dazu da, damit deine Leiche nicht untergeht.«
»Er hatte dieses echt coole Surfbrett«, warf ich ein. »Das dürfte seinen Körper komplett über Wasser gehalten haben.«
Der Nicht-Verehrer von Hildy Bernhardt wiegte den Kopf hin und her. »Das könnte der Grund dafür sein, warum er nur unterkühlt und nicht tot ist. Aber noch etwas ist mir aufgefallen: seine Haut. Nicht mitgenommen genug für zwei Tage im Salzwasser.«
»Apropos Haut«, hakte Helen nach.
»Das hast du auch gesehen, ja?« Dr. Wilkes’ Gesicht wirkte jetzt sehr ernst.
»Als wir ihm die Wärmflaschen ins Bett gepackt haben«, nickte Helen, und ihre Schwester nickte ebenfalls, wobei die wilden lila-grauen Haarknoten auf ihrem Kopf bedenklich wackelten.
Haben die drei auch dieses Glühen auf der Brust bemerkt?, fragte ich mich im Stillen. Laut sagte ich nichts, um mich nicht lächerlich zu machen.
»Er hat frische Abschürfungen an den Hand- und Fußgelenken, dazu einige schwere Hämatome im Rippenbereich«, erklärte Dr. Wilkes an mich gewandt. »Hildy hat mir berichtet, dass du ihn von Gurten befreien musstest? Könnten die Spuren daher stammen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Äh … glaub ich kaum. Die waren zwar am Oberkörper befestigt, aber mehr so an Schulter und Hüfte. Arme und Beine konnte er frei bewegen.«
Der Arzt seufzte, als ob er meine Antwort befürchtet hatte. Es fiel ihm sichtlich schwer fortzufahren. »Da sind auch noch diese anderen … Spuren. Hautirritationen, ziemlich schwere. Etwa drei Zentimeter Durchmesser jeweils – und ein eigenartiges Muster. Wie ein Stern mit Strahlenkranz. Je einer unter dem rechten und linken Schlüsselbein, neben den Nackenwirbeln und je einmal an der Innenseite der Unterarme.« Er rieb sich mit der Hand über die Augen. »Ich kann nicht sagen, was das verursacht hat. Eine Verbrennung oder Verätzung? Am ehesten erinnert es mich an einen Quallenstich. Aber einen verdammt ernsten. Ich … als ich damals in Brisbane gearbeitet habe, brachten sie ein Kind zu uns ins Krankenhaus, das beim Baden an eine dieser hochgiftigen Würfelquallen geraten war. Es hat überlebt, aber seine Schreie werde ich nie vergessen. Das hier sieht fast so ähnlich aus. Er ist ja im Meer getrieben …« Dr. Wilkes schwieg einen Moment. »Aber wir sind nicht in Australien, sondern in Cornwall. Und dann diese präzise Verteilung? Nein. Das ist nicht beim Schwimmen passiert. Und auch nicht zufällig.«
Während seiner Worte war eine dumpfe Unruhe in mir aufgestiegen. Mit belegter Stimme fragte ich: »Was wollen Sie damit sagen?«
Er warf mir einen langen Blick aus seinen auf einmal sehr müde wirkenden Augen zu. »Ich bin nur ein einfacher Landarzt. Na ja, war es. Mit solchen Dingen habe ich keine Erfahrung. Aber wenn ich etwas aus meinen Beobachtungen schließen soll …« Er holte tief Luft. »Ich denke, dieser Junge wurde längere Zeit gefangen gehalten. Man hat ihn misshandelt. Vielleicht gefoltert. Und dann … ist er entkommen.«
Das Mondlicht schimmerte durch die Gardinen. Die Bernhardt-Schwestern hatten mich kurzerhand in ihrem zweiten Gästezimmer einquartiert, wogegen ich nur schwach protestiert hatte. Nun lag ich seit bestimmt schon einer Stunde in einem unglaublich weichen Bett unter warmen, leicht nach Lavendel duftenden Decken, war wahnsinnig müde und bekam trotzdem kein Auge zu. Was genau war heute eigentlich passiert? Ich hatte jemanden aus dem Wasser gezogen. So viel stand fest. Nur war dieser Jemand kein Surf-Freak, der sich selbst über- und die Wellen unterschätzt hatte. Nein, dieser Jemand hatte Todesangst und, wenn Dr. Wilkes mit seinen Vermutungen richtiglag, auch allen Grund dazu. Was aber sollten wir jetzt machen? Es kam mir schrecklich unfair vor, dass ich die Bernhardts unwissentlich in etwas hineingezogen hatte, das vielleicht richtig gefährlich werden konnte. Obwohl ich mittlerweile den leisen Verdacht hegte, dass Hildy und Helen von allen noch am besten mit dieser seltsamen Situation klarkamen. Sie wirkten geradezu abenteuerlustig, wenn es um das Geheimnis des Gestrandeten ging.
Ich dachte an die ungewöhnlichen Souvenirs und Fotos, mit denen das Cottage vollgestopft war und die ich schon als Kind bestaunt hatte. Eine Aufnahme zeigte die Schwestern auf einem eisbedeckten Gipfel, noch sehr jung und in unpraktischer altmodischer Ausrüstung. Daneben hing ein mannshohes Indio-Blasrohr mit passendem Pfeilköcher an der Wand. Auf einem gerahmten Zeitungsausschnitt sah man Hildy und Helen in Badeanzügen aus dem vorigen Jahrtausend, erschöpft und glücklich in die Kamera grinsend – nachdem sie, laut Bildunterschrift, den Ärmelkanal durchschwommen hatten. Dann ein Regalbrett voll afrikanischer Masken, die wie Monsterfratzen aussahen. Eine Aufnahme von Hildy und Helen auf Safari, jede mit einem Gewehr in der Hand. Und so weiter und so fort. Ja, all diese Schätze waren mir lange vertraut. Ich hatte sie betrachtet wie die Requisiten eines Theaterstücks. Doch langsam dämmerte mir etwas: Sollten die Abenteuergeschichten, die die Bernhardts uns Kindern erzählt hatten, in Wahrheit Anekdoten aus ihrem eigenen Leben gewesen sein?
Wenn auch nur die Hälfte davon stimmt, haben die beiden mehr hinter sich, als du jemals erleben wirst, kommentierte meine innere Stimme trocken. Ich musste ihr seufzend recht geben.
Natürlich wollten meine Gastgeberinnen auch nichts von Dr. Wilkes’ Vorschlag hören, unser »Strandgut« doch in ein Krankenhaus zu bringen – oder, noch besser, zur Polizei. Jedenfalls nicht, bevor er aufwachte und erklärte, was er mit seiner Warnung gemeint hatte. Das machte Helen mit resolutem Tonfall klar, Hildy mit einem betörenden Blick aus lila Eulenaugen. Und so hatte Dr. Wilkes zwar zweifelnd den Kopf geschüttelt, aber vorerst Stillschweigen versprochen. Ein bisschen beruhigte ihn meine Versicherung, dass wir beim kleinsten konkreten Verdacht den Behörden Bescheid geben würden. Und dass in einer Woche meine Mutter zu uns stoßen würde, die weiß Gott schon Erfahrungen mit traumatisierten Menschen gemacht hatte. Vielleicht konnte sie uns sogar sagen, welche Sprache der Fremde sprach und aus welchem Land er kam. Dass sie auch erst deutlich später hier in Greycove ankommen könnte, daran wollte ich lieber nicht denken …
Fürs Erste jedenfalls wohnten wir alle unter einem Dach: zwei mehr als rüstige Rentnerinnen, eine überforderte Abiturientin und ein mysteriöser Fremder.
Ein großer, dunkelhaariger und gut aussehender Fremder. Der Klassiker!, flüsterte mir meine innere Stimme spöttisch zu. Und diese Augen! Beschwer dich bloß nicht.
Ich verpasste ihr innerlich eine Kopfnuss.
Ach ja: Und dann war da noch ein Riesenhund, der den Nachmittag getrennt von seinem Teilzeit-Frauchen im Garten der Bernhardts verbringen musste, dort die Hälfte ihrer gepflegten Rasenfläche aufgebuddelt hatte und jetzt schnarchend auf dem weiß lackierten Dielenboden vor meinem Bett schlief.
Ich versuchte, Ordnung in mein wirres Gedankenkarussell zu bringen. Und mich zu beruhigen. War es wirklich denkbar, dass jemand den neuen Hausgast der Bernhardts umbringen wollte? Und dazu jeden, der ihm half? Hatte ich uns alle in Todesgefahr gebracht? Nein, das erschien mir selbst im Dunkel der Nacht zu unwirklich.
Moment mal. Hatte da nicht die Treppe geknarrt?
Ich hielt den Atem an. Zehn Sekunden, zwanzig.
Nichts.
Langsam atmete ich wieder aus.
Toll, Ella, man braucht dir keine Angst zu machen, das erledigst du schon ganz alleine, schimpfte es in mir.
Dann klappte irgendwo eine Tür.
Ich schoss aus meinem Bett hoch. Mein Herz klopfte wie wild. War jemand außer uns im Haus? Snowflake, der Wunderhund, hob träge den Kopf und gähnte mich an. Das entspannte mich trotz allem etwas. Zwar hatte ich noch nie Gelegenheit gehabt, es zu überprüfen, war aber überzeugt, dass mich dieses Vieh im Ernstfall verteidigen würde. Ich zog Snowflake am Halsband hoch und zwang ihn, mit mir das Zimmer zu verlassen. Angestrengt lauschte ich, hörte aber keinen Laut bis auf das leise Ticken der Regency-Uhr, die unten auf dem Kaminsims stand. Mein Blick fiel auf die Tür zum anderen Gästezimmer. Sie stand offen. Und ich begriff: Es war niemand gekommen und ins Haus eingedrungen. Jemand war gegangen.
Wenige Schritte über den Flur und mein Verdacht war bestätigt: Das Krankenbett war leer. Von Dr. Wilkes’ Tropf-Konstruktion baumelte verlassen der Schlauch mit der Infusionsnadel herab. Unser Gast hatte sich aus dem Staub gemacht.
Einen Augenblick später stand ich vor dem Haus der Bernhardts, bekleidet nur mit der wunderbaren Hongkong-Robe und einem Paar pinker Crocs, die ich neben der Tür gefunden hatte. Snowflake kratzte von innen am Holz und winselte flehend.
»Nichts da, du bleibst hier!«, zischte ich ihm zu. »Du gehst mir noch verloren!«
Dann drehte ich mich um und rannte durch den Garten hinaus in die Nacht. Das Mondlicht sorgte für harte, tiefschwarze Schatten. Ich blickte mich suchend um. Von Dr. Wilkes’ Patienten keine Spur. Wohin war er gegangen? Zur Straße? Zu den Klippen? Ich wandte mich Richtung Strand und rannte den Trampelpfad entlang, den ich erst am Nachmittag, also vor einer halben Ewigkeit, entlanggekeucht war. Nichts und niemand war zu sehen. Sollte ich rufen? Nein. Wenn er merkte, dass er verfolgt wurde, würde er vielleicht in Panik geraten. Ihn einfach gehen zu lassen, kam mir nicht in den Sinn – schließlich war er in Schwierigkeiten, und ich fühlte mich für ihn verantwortlich.
Ich brauchte einen Aussichtspunkt, von dem ich das Gelände überblicken konnte. Also stolperte ich hügelan, zu den Klippen, die diese Seite der Bucht überragten und von denen man sowohl den Strand als auch die Wiesen rund um das Haus der Bernhards einsehen konnte. Ich erreichte die Kuppe und sah mich um. Auf der Festlandseite konnte ich keine Bewegung entdecken. Mit den Augen suchte ich den Weg ab, der tief unter mir in schmalen Windungen zum Strand führte. Der dunkle Fleck dort – war das ein Mensch? Ich machte einen Schritt in Richtung der Felskante und beugte mich vor.
Ohne Vorwarnung gab der Boden unter meinen Füßen nach. Erde und Gesteinsbrocken stürzten die Steilwand hinab – und ich mit ihnen. Trotz des Schocks warf ich mich instinktiv im Fallen herum und schlug mit dem Oberkörper auf einem Vorsprung auf. Ich bekam eine Wurzel zu fassen und klammerte mich daran. Verzweifelt tastete ich mit den Füßen nach einem stabilen Halt, doch die Masse aus Erde und Geröll rutschte immer wieder unter mir weg. Vom Strand schallte das Geräusch aufschlagender Steine zu mir hinauf.
Vermutlich hatte ich schon aufgeschrien, als ich den Halt verlor, aber jetzt schrie ich erst recht: »Hilfe! Hört mich jemand?«
Doch wer sollte mich hören? Unser Flüchtling? Der war bestimmt längst über alle Berge. Die Bernhardts vielleicht? Oder Snowflake? Dämlich, dämlich, dämlich!, hämmerte es in meinem Kopf. Jedes Kind wusste, dass man hier nicht zu nah an die Steilkante treten durfte.
Unverhofft fand mein rechter Fuß Halt – einen Sekundenbruchteil lang, dann brach mein Trittstein aus der Wand und stürzte ebenfalls in die Tiefe. Ich klammerte mich verbissen an die Wurzel. Wenn ich mich etwas hochziehen konnte … die Kante war nur zwei Handbreit über mir … Aber selbst das Festhalten wollte mir kaum noch gelingen. Meine Armmuskeln schmerzten bereits vor Anstrengung und meine Füße traten nur noch mehr lose Erde aus der Wand. Schon merkte ich, wie die Wurzel meinen tauben Fingern entglitt – da spürte ich einen festen Griff um mein Handgelenk.