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Kapitel 6

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Eine Stunde später stapfte ich den Weg zum Haus der Bernhardts entlang. Auf dem Rücken hatte ich Lisas kleinen Die Schöne und das Biest-Rucksack, vollgestopft mit alten Klamotten von Kenneth, die wir aus seinem Schrank stibitzt hatten. Sie stammten noch aus seiner Schulzeit und würden Aris hoffentlich einigermaßen passen – denn der war zwar groß, aber kein menschlicher Grizzly wie Lisas Bruder. Die Suche nach passenden Schuhen hatte sich allerdings als hoffnungslos herausgestellt. Da musste mein rätselhafter Fremder wohl oder übel weiterhin die geschnürten Ledersandalen benutzen, in denen ich ihn gefunden hatte.

Auf dem Weg zum Cottage der Schwestern war mir das verlassene Boot nicht aus dem Kopf gegangen. Umso mehr, weil Kenneth erwähnt hatte, dass seit dem Sturm vorgestern noch vier weitere Boote ohne Besatzung vor der Küste aufgefunden worden waren. Keins hatte ein SOS abgesetzt; keins war beschädigt gewesen; nur eins war gekentert und wies somit eine erkennbare Notsituation auf.

In meinem Kopf kreisten pausenlos zwei Sätze umeinander: »Sie suchen mich bestimmt …«, gefolgt von: »Ich bin eine Gefahr für dich und deine Leute.«

Genau so hat er das gesagt, Fräulein Sonnenschein. Natürlich ließ mich meine innere Stimme nicht in Ruhe. Und du hast es nicht ernst genommen, oder?

Stimmt. Hatte ich nicht. Nicht wirklich. Wie konnte ich auch? Sollte ich ernsthaft glauben, dass sich da draußen auf dem Meer jemand herumtrieb, der heimlich Boote überfiel und deren Besatzung verschwinden ließ? Nein, das hatte ich mir nicht einmal im Dunkel der Nacht vorstellen können. Und jetzt, am helllichten Tag, kam es mir noch unwahrscheinlicher vor.

Hörst du Hufschläge, denk an Pferde, nicht an Zebras, sagte ich mir den Medizinerspruch auf, den meine Mutter so gern zitierte. Hieß übersetzt: Die wahrscheinlichste Erklärung ist meist auch die richtige. Es war der Sturm und fertig. Kenneth beschwerte sich doch immer, dass heutzutage zu viele Nichtskönner auf dem Wasser unterwegs waren …

Trotzdem, das mulmige Gefühl blieb.

Es half auch überhaupt nicht, dass ich bereits zweimal erfolglos versucht hatte, meine Mutter zu erreichen, nachdem ich mein Handy in Grannys Cottage aufgeladen und mich umgezogen hatte. Normalerweise hätte ich Mama nie freiwillig Grund zur Beunruhigung gegeben, wenn sie unterwegs war. Denn trotz ihres Talents zur Chaos-Queen war sie eine Problemlöserin. Und wenn sie nicht direkt eingreifen konnte, ging sie die Wände hoch, umso mehr, wenn ihr einziges Kind das Problem hatte. Aber gerade jetzt hätte ich ihren Rat echt gut gebrauchen können.

Oh Mann, seufzte ich innerlich, warum muss sie auch ihr Handy mit nem Defibrillator killen. Hoffentlich ist Lars bald mal wieder auf Empfang …

Im Vorgarten der Bernhardts lief ich der älteren Schwester in die Arme. Heute trug sie eine dunkelblaue Version des Landadel-Outfits von gestern, dazu eine passende Gartenschürze, aus deren Tasche Blumendraht und Bindfäden hervorquollen. Die grüne Zink-Gießkanne in ihrer Hand war fast so groß wie Snowflake. Obwohl sichtlich schwer beschäftigt, begrüßte Helen mich freundlich und setzte dann verschmitzt hinzu: »Sehr gut erzogen, dein junger Mann, das muss ich sagen. Hat von allen Saisongästen bisher die besten Manieren, auch wenn er nichts weiter über sich erzählen mag.«

»Er ist nicht mein junger Mann«, protestierte ich halbherzig. Aber ich merkte, dass sie mich nur aufziehen wollte.

Ja, ich hatte Aris letzte Nacht überzeugt, dass es das Beste war, wenn er bis auf Weiteres bei den Bernhardts blieb. Aber nur, wenn die beiden genauso viel über ihn wissen durften wie ich. Also war ich morgens gleich hinunter ins Erdgeschoss getapst, wo die beiden Schwestern bereits fröhlich plaudernd beim Tee saßen, und hatte reinen Tisch gemacht. Ich erzählte ihnen alles – okay, nicht den Teil mit dem Morgenmantel –, und zog dann den Kopf ein. Eine derartig abgefahrene Story konnte schließlich niemand einfach akzeptieren, erst recht nicht, wenn sie so bedrohlich klang. Aber nicht zum ersten Mal hatte ich mich gründlich in den Bernhardts getäuscht: Sie ließen sich von der Aussicht auf eventuelle Gefahren nicht im Geringsten ins Bockshorn jagen.

»Da saßen wir schon mal tiefer in der Tinte, oder, Hildy?«, hatte Helen trocken kommentiert.

Ihre Schwester war genauso entspannt gewesen: »Gottchen, ja, wenn ich an die Sache damals in Kairo denke … Noch einen Tee, Liebes?«

Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie im nächsten Moment eine Kalaschnikow unter dem Sofakissen hervorgezogen hätte. Jedenfalls war das Thema damit für die beiden erst einmal abgeschlossen.

Aris befand sich folglich in besten Händen und hatte sogar widerwillig einer zweiten Visite von Dr. Wilkes zugestimmt. Den guten Mann hatte ich gerade verpasst, aber, wie mir Helen haarklein berichtete, er war zufrieden mit dem Zustand seines Patienten gewesen: Weitere Infusionen oder Medikamente seien nicht notwendig, stattdessen eine anständige Mahlzeit.

Und deshalb fand ich den neuen Pensionsgast der Bernhardts wenig später in ihrer winzigen Küche, vor sich einen großen Teller Nudeln in Tomatensoße, die er argwöhnisch beäugte. Als er mich sah, leuchteten seine Augen auf. Ich stellte fest, dass ich mich in Bezug auf ihre seegrüne Farbe doch nicht getäuscht hatte. Sein Blick ließ mich noch weniger kalt als gestern. Das Unbehagen in meinem Bauch verknotete sich mit irgendetwas anderem.

Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich lieber auf die Tatsache, dass Aris immer noch seine ziemlich mitgenommen wirkenden Kleider trug, die inzwischen zumindest getrocknet waren. So konnte ich erkennen, dass die Tunika in einem ungewöhnlichen Rostrot gefärbt war. Die feinen Stickereien an den Hals- und Ärmelausschnitten schimmerten matt golden. Alles in allem wirkte er an dem kleinen Resopaltisch mit den bunten Platzdeckchen ungefähr so fremdartig wie der Mann im Mond.

Hildy setzte mir ebenfalls einen Teller vor. Sie hatte heute das Lila ihrer Eulenbrille knallhart in ihrem ganzen Outfit durchgezogen, dafür waren ihre beiden Haarknäuel mit fein geschnitzten Essstäbchen aus Elfenbein festgesteckt. Als sie sich vergewissert hatte, dass wir satt werden würden, ging sie hinaus, um ihre Schwester etwas Lebenswichtiges zum Thema Hortensiendünger zu fragen.

Mein Verdacht zu den verlassenen Booten kam mir mittlerweile albern vor, und ich beschloss, niemanden damit zu beunruhigen. Ich warf einen Blick zu Aris hinüber, der seine Farfalle noch immer mit zweifelndem Blick musterte.

»Das ist ein seltsames Essen«, stellte er schließlich fest. Gegenüber der fürsorglichen Hildy hatte er wohl aus Höflichkeit geschwiegen.

Der Knoten in meinem Bauch platzte. Ich musste lachen. »Kein Mensch findet Pasta seltsam.«

»Ich bin ein Mensch«, verkündete er würdevoll. »Und ich finde diese Paste …«

»Pasta.«

»… ausgesprochen seltsam.«

Nichtsdestotrotz begann er zu essen.

Mit der Hand.

Ich sah mir das einen Moment an und griff dann betont langsam nach meiner Gabel. Er bemerkte die Geste und versuchte rasch, es mir gleichzutun. Schlecht schlug er sich nicht, aber ich war mir sicher, dass er noch nie in seinem Leben eine Gabel in der Hand gehabt hatte.

Hey, wenigstens kämmt er sich damit nicht die Haare!, kicherte meine innere Stimme. Ich kämpfte heroisch gegen ein Grinsen an und konzentrierte mich auf meinen eigenen Teller.

Immerhin schmeckte es dem fremden Küchengast. Tatsächlich wirkte er, als ob er sich das Essen am liebsten mit beiden Händen hineingeschaufelt hätte und sich nur mühsam beherrschte – vermutlich aufgrund der guten Erziehung, die die Bernhardts bei ihm diagnostiziert hatten. Irgendwie kam ich mir fies vor, dass ich ihn so auflaufen ließ. Aber ich hatte nun mal versprochen, keine Fragen zu stellen. Und wenn er nichts erklären wollte, musste er eben den Star in »Mann gegen Nudel« geben. Oder?

Komm schon, Ella, sagte ich mir, sei kein Arsch!

Also suchte ich kurz nach der Besteckschublade, griff mir zwei Suppenlöffel und schob einen davon Aris hinüber. Er nahm ihn mit dankbarem Blick. Genau wie die Papierserviette, die ich auf der Anrichte fand. Danach lief das Essen für uns beide deutlich entspannter.

Abgesehen davon schien er sich überdurchschnittlich für alles um sich herum zu interessieren. Sein Blick schweifte unauffällig durch die kleine Küche und blieb an den banalsten Dingen hängen: dem altersschwachen Kühlschrank, einem Kalender mit Ansichten von Paris, sogar der verdammten Eieruhr. Doch er sagte kein Wort, und ich tat so, als ob ich nichts bemerkte.

Als schließlich die letzte Schmetterlingsnudel besiegt war, verkündete ich die gute Nachricht, dass Kenneth mir vier Buchten genannt hatte, in denen Treibgut von den King’s Steps mit hoher Wahrscheinlichkeit angespült wurde. Zwei davon waren von hier aus sogar zu Fuß zu erreichen.

Aris wäre am liebsten gleich aufgesprungen und losgelaufen. Aber vorher bekam er von mir noch den Rucksack mit den gemopsten Klamotten in die Hand gedrückt, dazu die klare Ansage, sich umzuziehen. Falls wir auf dem Weg jemandem begegneten, würde er wenigstens nicht weiter auffallen.

Mach dir bloß nichts vor, Baby, raunte mir meine innere Stimme spöttisch zu. Wer so aussieht wie der, fällt immer auf!

Ich ignorierte sie und ging nach draußen zu den Bernhardts, die gerade begeistert Theorien über die Herkunft ihres Pensionsgastes austauschten. Aktuell lag Helen vorn, mit irgendeiner steilen These zu Uruguay.

Schließlich trat Aris vor die Tür und blinzelte vorsichtig in die Sonne. Er trug jetzt eine alte Jeans von Kenneth und darüber ein ausgewaschenes grün-schwarz-kariertes Hemd, das ihm locker über den Hosenbund hing. Alles ein bisschen zu groß, aber okay. Die steife Art, mit der er sich darin bewegte, ließ jedoch darauf schließen, dass er sich unwohl fühlte. Weil nichts so richtig passte … oder weil er solche Anziehsachen nicht gewohnt war?

Jedenfalls sollte es verboten sein, in zwei Nummern zu großen Klamotten so gut auszusehen, seufzte meine innere Stimme. Aber hey: Wenn alles andere schiefgeht, kannst du ihn vielleicht als Baggystyle-Model vermitteln …

Wie schon in der Küche warf er auch hier verstohlene Blicke um sich. Letzte Nacht hatte er wohl kaum Zeit gehabt, die Umgebung gründlich zu begutachten. Mir schien, als ob er sich unheimlich zusammenriss, nicht zu sehr in Staunen zu verfallen. Dabei gab es wahrhaftig nichts Außergewöhnliches im Garten der Bernhardts zu sehen: die gepflegten Rosenbüsche, ein paar Hortensien und den von Snowflake frisch gepflügten Rasen. Aris betrachtete das alles jedoch mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er soeben auf die Welt gekommen.

Helen und Hildy hatten seine Reaktion ebenfalls bemerkt und warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Dann ertönte ein begeistertes »Waff!« und 50 Kilo zottige Hundeliebe stürmten auf unseren Gast zu.

»Ella, Vorsicht!« Aris sprang schützend vor mich und versuchte, mich zurück ins Haus zu drängen.

»Hey, lass das!« Ich leistete entschieden Gegenwehr, sobald ich mich von meiner Überraschung erholt hatte. »Das ist doch Snowflake! Der will nur spielen …«

Zugegeben, der Spruch klang total lahm und hatte wahrscheinlich noch nie jemanden beruhigt, der Hundeangst hatte. Rasch zerrte ich mein wild hechelndes Zottelvieh am Halsband zurück. Aris blieb in der niedrigen Tür stehen und beobachtete ungläubig, wie ich das Monster bändigte, das uns gerade angefallen hatte.

»Was ist – das?«, rutschte es ihm heraus.

Und ich begriff: Das war keine Hundeangst. Das war die Reaktion auf eine vollkommen unbekannte Bedrohung.

Immerhin hat er versucht, dich zu beschützen!, kommentierte meine innere Stimme. Unnötig … aber ritterlich.

»Du weißt nicht, was ein Hund ist?« Okay, das war jetzt mir herausgerutscht.

Aris schüttelte den Kopf und sagte gleichzeitig: »Doch … natürlich!«

»Vielleicht hast du noch keinen so großen gesehen, hm?«, baute ich ihm eine Brücke. »Aber das sind bei uns ganz normale Haustiere.«

»Sogar die Queen hat welche«, warf Hildy hilfreich ein.

»Hatte. Und deutlich kleinere«, berichtigte Helen streng.

»Dafür mehrere! Das macht auch nicht weniger Arbeit!«, kam die Retourkutsche.

»Pah, als ob Ihre Majestät sich selbst um Hundehaufen und Futternäpfe kümmert!«

Der Schlagabtausch ging noch weiter, aber ich hörte nicht mehr zu. Stattdessen zog ich Snowflake außer Reichweite und sperrte ihn in den Geräteschuppen hinter dem Cottage. Ein tief enttäuschter Blick aus dunklen Hundeaugen traf mich, bevor ich die Tür schloss. »Nachher gibt’s Leckerli, versprochen!«, wisperte ich schnell, bevor ich zurücklief.

Die Bernhardts waren mittlerweile von den Corgis der Queen zum Thema »Koreanische Hundefleischgerichte, die man probieren muss« übergegangen.

Buäh.

Aris stand daneben und wirkte noch etwas durchgeschüttelt von seiner unheimlichen Begegnung der sabbernden Art. Ich ging zu ihm hinüber und gab ihm einen leichten Schubs gegen die Schulter. »Na los. Suchen wir dein Dingsbums.«

»Skriff«, korrigierte er mich lächelnd, und ich wusste, er war wieder an Bord.

»Sag ich doch.«


Unsere erste Chance lag etwa drei Meilen westlich – ein entspannter Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein und fast völliger Windstille. Aris ging neben mir her. Er hatte kein weiteres Wort zu Snowflake gesagt, und mir war es recht, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen herrschte eine entspannte Stille zwischen uns. Mir fiel auf, wie er die Landschaft mit seinen Blicken geradezu einsog.

»Warst wohl noch nie in Cornwall, was?«, fragte ich schließlich, ohne Hoffnung, darauf eine Antwort zu bekommen. Doch da lag ich überraschenderweise falsch.

»Ich war überhaupt noch nie irgendwo«, erklärte er und klang dabei richtiggehend begeistert.

»Was, hält dich deine Familie in einem Turm gefangen, Rapunzel?«, fragte ich neckend. »Weil du das schwarze Schaf bist? Was hast du denn so Schlimmes gemacht – Mamas Schmuck geklaut oder Papas Auto geschrottet?«

Lachend fuhr er sich mit der Hand durch sein kurzes Haar. »Nichts dergleichen. Ich benehme mich nur nicht würdevoll genug. Kein Interesse an den Staatsgeschäften, kein Verständnis für die großen Zusammenhänge …« Er zuckte mit den Achseln. »Mein Vater ist ziemlich enttäuscht von mir, schätze ich. Aber wir sehen uns nicht oft.«

»Eltern, hm?«, sagte ich. »Man kann’s ihnen halt nicht immer recht machen.«

»Ist das bei dir auch so?«, erkundigte er sich interessiert.

»Na ja, nicht wirklich«, musste ich zugeben. »Meine Mutter ist eigentlich ganz cool. Keine Ahnung, ob mein Vater da anders gewesen wäre. Er ist schon lange tot.«

Aris nickte mitfühlend. »Ah. Das tut mir leid. Wurde er umgebracht?«

»Aber nein!« Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. Wollte er mich aufziehen? Doch er guckte total ernst. Ich erklärte: »Er hatte Leukämie.«

Höfliche Verständnislosigkeit.

»Du weißt schon, Blutkrebs.«

Immer noch nichts.

»Eine schwere Krankheit? Mann, du musst doch schon von Krebs gehört haben?!«

Nein, hatte er nicht. Und als ich versuchte, ihm das Ganze zu erklären, wechselte er ziemlich schnell das Thema. Ich war mir sicher, dass er gerade unbeabsichtigt eine weitere Wissenslücke zugegeben hatte und davon ablenken wollte. War das jetzt Eitelkeit oder etwas ganz anderes? Denn dass es Länder auf der Welt gab, wo man weder Pasta noch Gabeln kannte, sah ich ja gerade noch ein. Aber Krebs …?

Mann, Aris, dachte ich, unter welchem Stein lebst du bloß?

Jedenfalls kamen wir wieder zu unseren Familien zurück. Ich beschrieb meine unorganisierte Mutter, die partout nicht einsehen wollte, welches Chaos sie regelmäßig mit ihrer Art anrichtete. Aris konterte mit seinem Onkel, der wohl früher die Rolle des schwarzen Schafes besetzt und schon so manche Familienfeier gesprengt hatte.

»Du müsstest ihn mal hören, wenn er Vater bei einer seiner Tiraden über mich nachäfft!« Er warf sich in Positur und schwadronierte mit dröhnender Stimme: »Der Junge hat nicht einen Knochen seiner Brüder im Leib! Nichts als Glücksspiel und Wettkämpfe im Sinn!«

»Und stimmt das?«, fragte ich grinsend. So langsam wurde das mit dem schwarzen Schaf etwas glaubhafter.

Er setzte eine todernste Miene auf. »Nicht im Geringsten. Hm. Wetten, ich bin schneller am Rand der Steilküste da vorn als du?« Zwinkernd fügte er hinzu: »Einen Extrapreis für jeden, der nicht runterfällt.«

»Oh, hahaha!« Ich verpasste ihm einen Schlag gegen den Arm und knurrte: »Wette gilt! Auf drei? Eins, zwei –«

Aris lief los.

»Hey!«, schrie ich empört. Ich hörte sein Lachen und rannte hinter ihm her.

Er war schnell. Richtig schnell, wie ich nach wenigen Metern einsehen musste – und dabei war ich an meiner Schule eine der besten Sprinterinnen. Allerdings kannte ich jede Windung des Pfades und holte rasch auf. Dicht hintereinander liefen wir über die grasbewachsene, weite Ebene. Aris warf mir einen strahlenden Blick über die Schulter zu. War er von meinem Tempo beeindruckt? Ließ er mich etwa absichtlich herankommen? Und konnte es sein, dass mir das vollkommen egal war? Schneller als wir waren in diesem Moment ohnehin nur die Möwen und der Wind.

Außer Atem erreichten wir etwa gleichzeitig unser Ziel. Die Aussicht war beeindruckend. Tief unter uns glitzerten die Sonnenstrahlen auf den blaugrünen Wellen, die weiße Gischt wurde an den dunklen Felsen emporgeschleudert. In der Ferne lag ein leichter Dunst über dem Wasser, sodass der Ozean direkt in das leuchtende Blau des Himmels überzugehen schien. Am liebsten hätte ich unseren Anlauf genutzt, um hineinzuspringen. Aris drehte sich überwältigt, als versuchte er, den Himmel, das Meer und die Landschaft gleichzeitig zu erfassen.

»Du kannst jetzt gern anfangen, über deine Träume zu singen«, schlug ich gönnerhaft vor. Lisa und ich waren große Disney-Fans und so eine Szene kam schließlich in jedem Film vor.

»Das willst du nicht.« Er sah mich amüsiert an. »Som sagt, von meinem Gesang platzt ihm der Kopf.«

Ich wollte fragen, wer Som war, aber ich kam nicht dazu. Denn plötzlich wurde Aris kreidebleich, riss die Arme vor die Brust und brach vor meinen Füßen zusammen.

Meeresglühen (Bd. 1)

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