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Kapitel 9

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Aris bemerkte meinen Gesichtsausdruck und blickte an sich hinunter. Mir war sofort klar, dass ich gerade etwas sah, das ich nicht hätte sehen sollen.

Langsam schüttelte er den gesenkten Kopf, als ob er nicht fassen könnte, was er da unbeabsichtigt zugelassen hatte. Aber als er wieder zu mir schaute, lag fast so etwas wie Erleichterung in seinem Blick.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Das Zeichen meines Hauses. Die Dornenbienen«, antwortete er schlicht.

Als er Boden unter den Füßen fand und sich aufrichtete, sodass ihm das Wasser nur noch bis knapp über den Bauch reichte, konnte ich das Muster erkennen: Es war die filigrane Darstellung zweier Bienen, im Profil gesehen, die sich einander zuneigten. Mit den Beinen hielten sie zwischen sich eine runde Form – eine Münze oder eine stilisierte Sonne? Feine Linien und Punktmuster umgaben sie. Das kunstvolle Motiv war ungefähr handgroß und saß genau über Aris’ Herz.

Auch ich hatte inzwischen Halt gefunden. Um der Versuchung zu widerstehen, die schimmernden Linien auf seiner Brust zu berühren, blieb ich jedoch auf Abstand. »Und … wieso leuchtet es im Wasser?«

»Nur im Meerwasser«, erklärte Aris. »Das Aurikalchos reagiert mit dem Salz.«

»Aha«, erwiderte ich schwach. »Klar.«

Er schien einen Entschluss gefasst zu haben. Oder irre geworden zu sein. Jedenfalls strahlte er mich auf einmal übermütig an und fragte: »Willst du etwas Tolles sehen?«

Mir gelang ein mechanisches Nicken.

»Ich bin nicht so gut darin.« Er legte seine rechte Hand auf die Wasseroberfläche. »Aber das müsste eigentlich klappen …«

Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann aber erschien unter seiner Handfläche ein schwacher Lichtschein im mittlerweile fast schwarzen Wasser. Das Glühen breitete sich langsam weiter aus. Schon hatte es mich erreicht, und ich erkannte, dass es aus unzähligen winzigen Leuchtpartikeln bestand. Die Meeresoberfläche um mich herum sah aus wie flüssiger Goldstaub … wie ein Universum mikroskopisch kleiner Sterne. Wenn ich meine Arme bewegte, wirbelten die Leuchtfunken in immer neuen Galaxien umeinander. Vor Entzücken vergaß ich zu atmen. Und dann alles andere.

Aris hatte konzentriert den Blick gesenkt und hielt seine Hand ruhig auf der Wasseroberfläche. Das Meeresleuchten reichte nun schon vom äußersten Felsen der King’s Steps bis zum Strand. Und wir schwebten in seinem Zentrum.

Vorsichtig trat Aris einen Schritt näher und noch einen, bis er direkt vor mir stand. Die Zeichnung auf seiner Brust war jetzt besser zu sehen, und es wirkte, als ob sich die feinen Linien aus dem goldenen Wasser seine Haut hinaufschlängelten.

Magisch. Wunderschön. Und unfassbar anziehend.

Er schüttelte sich das Wasser aus den Haaren und sah mir ins Gesicht. »Atmen«, sagte er mit leisem Lachen.

Ich schnappte nach Luft und musste selber lachen, ungläubig, verzaubert. Dann holte ich mit beiden Armen aus und spritzte nach ihm. Goldene Tropfen zogen eine funkelnde Bahn durch die Luft zwischen uns, wie das fantastischste und seltsamste Feuerwerk der Welt. Und ich vergaß, was ich versprochen hatte: keine Fragen.

»Wie geht das?«, wollte ich wissen. »Warum kannst du so was?«

»Ich kann es eben«, gab er leichthin zurück. »Willst du –«

»Nein, ernsthaft, wie geht das?« Ich ließ nicht locker. »Machen das alle bei euch oder bist du der einzige Wassermagier?« Neckend schnippte ich noch ein paar glitzernde Tropfen in seine Richtung.

Sein Lächeln erlosch.

Ich vermisste es sofort, doch ich konnte einfach nicht aufhören zu fragen. »Hat das auch was zu tun mit diesem – wie war das? Orika…? Oder ist das so was wie ’ne Superkraft?«

»Ella.« Sanft nahm er meine Hand. »Ich kann … ich darf dir nichts weiter sagen.«

»Aber warum nicht?« Jetzt verschwand auch mein Hochgefühl. »Vertraust du mir denn nicht?«

Er antwortete nicht, sah mich nur stumm an.

Langsam wand ich meine Hand aus seinem Griff. Ein Schaudern kroch mir über die Haut, das nichts mit dem kalten Wasser zu tun hatte. Ja – dieses Meeresleuchten war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Aber auf einmal machte es mir auch eine Scheißangst. Dies hier war nichts, das ich rational erklären konnte. So etwas gab es einfach nicht auf unserer Welt – kein Mensch konnte das!

Plötzlich drängte sich alles Bedrohliche und Erschreckende in mein Bewusstsein, das in den letzten Stunden auf mich eingestürmt war: fast ertrunken, fast abgestürzt. Todesangst und Todesdrohung. Geschichten von Verrat, Entführung, Folter. Bootsbesatzungen, die spurlos verschwanden. Fremdartige Technologien, unmögliche Fähigkeiten. Und keine Erklärung in Sicht, für gar nichts. Das Schaudern breitete sich in mir aus, umklammerte mich wie mit eisigen Fangarmen.

Die Sonne war untergegangen. Über uns senkte sich die Dunkelheit herab. Aber das Glühen im Wasser war hell genug, um Aris’ Gesicht sehen zu können – die Freude darin war wie weggewaschen. Genau so fühlte ich mich auch, übrig waren nur Verwirrung, Zweifel … und Angst.

»Ella, es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich wollte … ich dachte, es würde dir gefallen.«

»Mir ist kalt«, brachte ich heraus. »Dir nicht auch?«

Er nickte. Ohne ein weiteres Wort schloss er seine Finger zur Faust, und die Sterne im Wasser um uns herum erloschen, einer nach dem anderen, bis nur noch die schwarzen Wellen übrig blieben. Wir schwammen zum nächstgelegenen Felsen der King’s Steps, zogen uns daran hoch und kehrten zum Strand zurück. Ich lief voraus, durch den Sand und weiter den Weg hinauf. Erstens zitterte ich vor Kälte und zweitens wollte ich in diesem Moment einfach nur weg – vom Meer, von Aris, aber vor allem von seinen Geheimnissen.

Oben auf der Kuppe holte er mich ein. »Ella, warte doch kurz. Bitte!«

Abrupt blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. Er hatte sich das Hemd wieder übergestreift, aber da die Knöpfe offen standen, war das leuchtende Bild auf seiner Brust noch gut zu erkennen. So schön es auch aussah – in diesem Moment konnte ich den Anblick einfach nicht ertragen.

»Was ist?«, fuhr ich den Unbekannten vor mir an. »Was sollte diese Lichtshow? Was soll das überhaupt alles? Wer bist du?«

Er senkte den Blick. »Es tut mir leid«, wiederholte er gepresst. »Ich … Wenn alles gut geht, bist du mich in spätestens zwei Tagen los.«

»Und wenn nicht alles gut geht?«, fragte ich wütend. »Was dann, hm? Gibt’s dann ’ne neue Vorführung?«

»Nein.« Er machte einen Schritt zurück. »Du hast recht. Ich werde sofort gehen. Ich hole nur noch meine Sachen.« Damit ging er in Richtung des Cottages davon.

Ich sah ihm nach und spürte, wie meine Wut in sich zusammenfiel.

Keine Fragen, keine Lügen … Nicht so einfach, wie es sich anhört, was? Meine innere Stimme war wieder aufgetaucht. Aber du hast ihn gestern selbst zum Bleiben überredet, vergiss das nicht. Und warum?

Ja, warum? Okay, wohl auch, weil ich neugierig war. Aber vor allem, weil ich ihm ehrlich helfen wollte. Vielleicht vertraute er mir nicht. Aber aus irgendeinem Grund vertraute ich ihm – selbst jetzt noch, das wurde mir plötzlich klar. Ich wollte ihn nicht im Stich lassen. Also gab ich mir einen Ruck und lief ihm hinterher.

»Hey, warte!«, rief ich. »Nun sei nicht albern. Bleib.«

Aris ging weiter und schüttelte nur stumm den Kopf, als blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Ich überholte ihn, stellte mich vor ihn und zwang ihn so, stehen zu bleiben. Er sah an mir vorbei. In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Dann sagte er: »Ich kann nicht bleiben.«

Mir war klar, dass er nicht von den nächsten zwei Tagen redete.

Ich schluckte das meiste von dem hinunter, was mir auf der Zunge lag, und sagte schließlich nur: »Das macht nichts, okay? Aber wir … du hast es doch schon fast geschafft. Da musst du jetzt nicht die letzten Tage am Strand übernachten. Komm mit zurück und bleib. Keine Fragen mehr, versprochen.« Ich versuchte es mit einem Scherz: »Wenn ich dich so gehen lasse, bringen mich die Bernhardts um.«

Es klappte. Aris lächelte schwach. Schließlich entspannte sich seine Körperhaltung etwas und er nickte. Das letzte Stück zum Haus gingen wir nebeneinander.

Die beiden Schwestern waren schon ins Bett gegangen, und bis auf das Willkommenslicht, das die Lampe über dem Eingang verbreitete, lag das Cottage im Dunkeln. Da ich drinnen den Schalter nicht fand, tasteten wir begossenen Pudel uns im Finstern die Treppe hinauf. Ich beschloss, dass ich heute schon genug herumgerannt war und einfach noch einmal das zweite Gästezimmer der Bernhardts in Anspruch nehmen würde. Sie hatten bestimmt nichts dagegen. Und an die nassen Sachen fremder junger Leute in ihrem Badezimmer waren sie hoffentlich auch schon gewöhnt.

»Duschen wäre jetzt wohl zu laut«, flüsterte ich Aris bedauernd zu. Ich konnte ihn gerade so erkennen, weil das Mondlicht durch das schmale Flurfenster hereinfiel. Auch von der Zeichnung auf seiner Brust war noch immer ein schwacher goldener Schein zu sehen. »Aber wenn dir kalt ist, mach ruhig.«

Er schüttelte den Kopf, obwohl er genau wie ich zitterte.

Ihr müsst euch mal eine andere Art von Date überlegen, spottete meine innere Stimme.

»Ich will nur schlafen.« Er wirkte müde und niedergeschlagen, blieb jedoch weiter im Gang stehen und sah mich an. »Ella.« Seine Stimme klang rau und verstärkte die Gänsehaut, die ich unter meinen nassen Sachen spürte. »Ich habe es ernst gemeint vorhin. Ihr seid gute Menschen und sollt meinetwegen nicht in Sorge sein … oder in Gefahr. Nichts hiervon hätte passieren dürfen. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Aber jetzt habe ich einen Ausweg. Wenn ich erst fort bin, wird für euch alles wieder so sein wie vorher.«

Und für dich?, fragte ich stumm. Du kehrst zurück in deine wunderbare, schreckliche Heimat. Und dann hoffst du, dass du auf die triffst, die wie du das Meer zum Leuchten bringen. Nicht auf die, die dich mit schwarzem Gift foltern. Was, wenn du das nicht schaffst?

In diesem Moment wirkte Aris auf mich wieder so fremd, geradezu unnahbar … und unglaublich einsam. Ich hatte einen Kloß im Hals und kam mir mies vor wegen meines Ausbruchs. Irgendetwas musste ich doch sagen oder tun, um das wieder auszubügeln und ihn nicht einfach so wegzuschicken!

Soll ich mit zu dir rüberkommen? Einfach, damit du heute Nacht nicht allein bist? Die Worte lagen mir auf der Zunge. Aber ich hatte Angst, dass er sie falsch verstehen würde, besonders nach dem, was er mir auf dem Weg zum Strand anvertraut hatte. Also sagte ich nur unbeholfen: »Es ist alles gut. Mach dir keine Gedanken um uns. Jetzt schlaf erst mal.«

Er senkte den Kopf und wandte sich um. »Bis morgen.«

Die Tür schloss sich hinter ihm, ich zog meine zu, und dann war jeder von uns allein mit seinen Gedanken.


Keine Ahnung, wie es ihm ging, ich jedenfalls konnte lange nicht einschlafen. Und zwar nicht nur, weil ich so durchgefroren war. Wie immer erschienen mir die Probleme in der Dunkelheit noch größer und drückender, als sie es ohnehin schon waren. Ich kam mir so grenzenlos verpeilt und hilflos vor wie noch nie in meinem Leben. Eine einzige Sache hatte ich in den letzten Tagen richtig gemacht: diesen Kerl aus dem Wasser zu ziehen. Aber dann hörte es auch schon auf.

Was bildete ich mir eigentlich ein? Ich traf reihenweise Entscheidungen, die mit Vernunft nicht wirklich etwas zu tun hatten, da konnte ich mir die Gründe noch so schönreden. Und wofür das alles? Für jemanden, den ich überhaupt nicht kannte.

Und für seine schönen Augen, erklang es in mir.

Das hat überhaupt nichts damit zu tun!, protestierte ich empört.

Vielleicht sieht er das ja anders.

Alarmiert bohrte ich nach. Was soll das denn heißen?

Naja. Meine innere Stimme wirkte jetzt ziemlich nüchtern. Du bist schließlich seine wichtigste Verbündete hier. Vielleicht will er sichergehen, dass du ihn nicht doch fallen lässt. Wird ja langsam ganz schön komisch, das Ganze.

Du meinst, er hat das im Wasser eben aus Berechnung getan?, fragte ich ungläubig. Umum mich zu bezirzen oder so was?

Warum nicht? Wenn die schönen Augen nicht reichen, muss man eben nochne Schippe drauflegen.

Nein. Ich schüttelte den Kopf. Das glaube ich nicht. So wirkt er kein bisschen.

Mhm. Wo du ja sone gute Menschenkennerin bist. Gerade bei Typen.

Luca war eine Ausnahme!, zischte ich wütend zurück. Und das kann man überhaupt nicht vergleichen!

Konnte man wirklich nicht. Mein Exfreund sah auch ziemlich gut aus – wobei ich jetzt echt einen neuen Maßstab entdeckt hatte – und gefiel sich sehr in der Rolle als Gottes Geschenk an die Frauen. Ich war in seinen Augen maximal Kategorie guter Durchschnitt und hatte entsprechend dankbar für seine Beachtung sein sollen. Aris dagegen schien sich seines fantastischen Aussehens nicht einmal bewusst zu sein, geschweige denn, dass er es für seine Zwecke einsetzte. Oder war ich immer noch zu blöd, um die Anzeichen zu erkennen?

Kann mir auch egal sein, grummelte ich. Ich will ja nichts von ihm.

Ach, gaaar nichts?, säuselte es ironisch in mir.

Ich helfe ihm, nach Hause zu kommen, und das wars. Dann ist auch Schluss mit diesen ganzen schrägen Geschichten. Missmutig zog ich mir das Kissen über den Kopf. Und jetzt Ruhe. Ich muss schlafen.

Aber das war leichter gesagt als getan. Ich wälzte mich noch ziemlich lange unruhig hin und her, zuckte beim kleinsten Geräusch zusammen und wühlte mich durch einen immer größeren und wirreren Gedankenhaufen. Irgendwann fielen mir doch die Augen zu. Ich schlief tief und traumlos.


Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch. Aus dem Erdgeschoss drang das Klappern von Geschirr an meine müden Ohren. Von draußen hörte ich Snowflakes Möwengebell. Oh Mann, den hatte ich ja völlig vergessen! Zum Glück hatten sich die Bernhardts um ihn gekümmert. Da war wohl etwas mehr fällig als Discounter-Hundesnacks …

Groggy kämpfte ich mich aus dem Bett und tastete nach meinem Handy. Wie spät war es? Aber ich bekam keine Antwort, denn obwohl das Teil seit gestern Nachmittag am Ladekabel hing, blieb das Display schwarz. Es hatte wohl endgültig seinen Geist aufgegeben, als ich es ins Gras gepfeffert hatte. Na super. Jetzt gab es für mich gar keine Chance mehr, meine Mutter anzurufen, denn natürlich hatte ich die Nummer von Lars’ Handy nirgendwo notiert. Tja, hoffentlich kontaktierte sie Mrs. Kemp oder Lisa, wenn sie mich nicht erreichte. Und bestimmt konnte ich ihr bei meiner Freundin zur Sicherheit eine Mail schreiben.

Dann kroch mir langsam ins Bewusstsein, dass ich noch ein paar andere Probleme am Start hatte. Das kleinste war, keine Zahnbürste eingesteckt zu haben, als ich gestern in Grannys Cottage gewesen war. Das größte saß hoffentlich unten und frühstückte mit den Bernhardts.

Auf dem Boden vor der Zimmertür fand ich mein Shirt und meine Jeans, sauber zusammengelegt und trocken. Ich hätte die Bernhardts küssen können – wahrscheinlich hatten sie das nasse Zeug im Badezimmer gefunden und eine Runde in den Trockner geworfen. Schnell schlüpfte ich in meine Sachen und stapfte die Treppe hinunter.

In der Frühstücksecke des Wohnzimmers fand ich allerdings nur die beiden Schwestern beim Tee. Sofort meldete sich mein Unbehagen wieder. Wo war Aris? Hatte er sich letzte Nacht etwa doch zu Herzen genommen?

Aber Helen, stilvoll in einen schiefergrauen Rock und Rosenmuster-Bluse gekleidet, beruhigte mich mit ihrer Begrüßung: »Ah, da bist du ja, Ella. Wurde gestern ein bisschen spät, was?« Zwinker, zwinker. »Dein junger Mann ist schon seit Sonnenaufgang auf den Beinen. Er wollte unbedingt nachsehen, ob mit dem Sender alles in Ordnung ist.«

»Wir stehen ja auch immer sehr früh auf«, fügte Hildy hinzu und fuchtelte in der Gegend herum, sodass unzählige indische Armreifen klimperten, die bestens zu ihrem orangefarbenen Sari-Outfit passten. »Einen Tee hatten wir um die Zeit aber noch nicht fertig. Sollen wir euch vielleicht etwas einpacken und du nimmst es mit runter?«

Ich nickte dankbar, konnte aber kaum abwarten, bis die alten Damen mir eine Thermoskanne und ein paar aufgebackene Scones in den Rucksack gestopft hatten. Dann rannte ich los, Snowflake laut bellend hinter mir.

Was, wenn Aris nicht am Strand war?

In spätestens zwei Tagen bist du mich los. Ich hatte keine Ahnung, wie er auf diese Zeiteinschätzung kam. Was, wenn der Sender deutlich eher Erfolg gebracht hatte? Kam ich vielleicht schon zu spät?

Doch diese Sorge verflüchtigte sich, sobald ich den Rand der Steilküste erreicht hatte und hinunter in die Bucht blickte.

Aris war noch da.

Er saß auf dem äußersten Felsen der King’s Steps, ließ die Beine baumeln und hielt sein Gesicht in die Sonne. Über Kenneths Jeans trug er wieder seine rostrote, zerrissene Tunika. Auf dem Stein hinter ihm trocknete Kenneths Hemd.

Ich fasse es nicht, dachte ich. Er hat es tatsächlich gewaschen.

Dank Snowflakes Gebell bemerkte er mich natürlich sofort. Ausnahmsweise war ich dem Wunderhund wegen seines Lärms nicht böse, denn so ersparte er mir die Überlegung, wie ich mich am besten ankündigen sollte. Aris drehte sich zu mir um und winkte fröhlich. Ich atmete erleichtert auf. Er war wieder ganz der Alte.

Ganz der Alte, spottete meine innere Stimme. Du kennst den Typen jetzt noch keine drei Tage! Und wenn es nach ihm geht, werden es auch kaum mehr.

Ich schüttelte den Kopf, schüttelte die Stimme ab. Dann warf ich Snowflake ein Scone zur Ablenkung hin, damit er nicht versuchte, mir auf die Felsen zu folgen. Vorsichtig sprang ich von Stein zu Stein, bis ich schließlich vor Aris stand.

Er beschirmte seine Augen mit der Hand und blickte lächelnd zu mir hoch. »Bringst du mir etwa das Frühstück?«

»Ausnahmsweise. Schönen Gruß von den Bernhardts.« Ich lächelte zurück, unheimlich froh, dass wieder alles in Ordnung zwischen uns war. Okay, vielleicht war Ordnung nicht ganz das richtige Wort, aber hey … Unordnung war eh mehr mein Ding.

Und jetzt hatte ich echt Hunger. Also setzte ich mich neben ihn und wir teilten uns Tee und Scones. Ich biss herzhaft in das krümelige Gebäck und musste an meine Granny denken: wie sie beim Backen mit der immer gleichen blau-weißen Teetasse runde Teigstücke ausgestochen und sich dabei meine kleinen oder großen Sorgen angehört hatte. Wenn die Scones kurz darauf heiß und knusprig auf dem Tisch gestanden hatten, war die Welt jedes Mal wieder im Einklang gewesen – jedenfalls für sie und mich …

Wie sich herausstellte, dachte auch Aris an seine Familie.

»Das ist wirklich guter Tee«, sagte er, nachdem er fast die ganze Kanne allein ausgetrunken hatte. »Vielleicht kann ich einen Beutel davon zurückschmuggeln. Der wäre etwas für meinen Bruder …« Seine Hand griff nach dem goldenen Ring an seinem rechten Zeigefinger, drückte ihn kurz und fest.

Ich sagte nichts, aber er sah, dass ich seine Geste bemerkt hatte.

»Der gehört ihm«, erklärte er leise.

»Kann ich mal …?« Ich biss mir auf die Lippen.

Oh Mann. Du wolltest es doch lassen, Ella!

Aber, oh Wunder: Aris hielt mir tatsächlich seine Hand hin, damit ich den Ring näher betrachten konnte. Die flache Schmuckscheibe darauf schimmerte im Sonnenlicht. Sie war bedeckt mit zarten, eingravierten Linien, die ein unglaublich detailliertes Bild zeigten. Ich kniff die Augen zusammen: Das Motiv der Dornenbienen befand sich im Zentrum, flankiert von einer Frauen- und einer Männerfigur, die, soweit ich es erkennen konnte, beide prächtig gekleidet waren, geradezu zeremoniell. Sie wurden eingerahmt durch eine Landschaft mit Hügeln und tempelartigen Gebäuden. Aber um mehr zu erkennen, hätte ich wirklich eine Lupe benötigt – die Einzelheiten waren einfach zu winzig. Eine wahre Miniatur.

»Das sieht irre kunstvoll aus«, kommentierte ich bewundernd.

Aris zog seine Hand zurück und nickte erfreut. »Die besten Goldschmiede arbeiten für meine Familie. Ich besitze auch so einen Ring. Aber ich habe ihn gegen diesen getauscht. Wenn Ionis wieder gesund ist, bekommt er ihn zurück. Das habe ich ihm versprochen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich … ich glaube zwar nicht, dass er mich hören konnte, aber vielleicht –«

»Er schafft’s bestimmt«, versicherte ich in einem hilflosen Versuch, tröstlich zu klingen. Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie es seinem Bruder wirklich ging oder was er hatte.

Aber Aris schien für jeden Strohhalm dankbar. »Ja, da bin ich sicher.« Hoffnungsvoll blickte er mich an. »Ionis ist der Stärkste von uns. Und der Klügste. Eigentlich war er schon immer der bessere Nachfolger für meinen Vater, ob zweiter Sohn oder nicht. Solon wollte vor allem seinen eigenen Kopf durchsetzen. Aber Ionis versteht das alles, die ganzen Allianzen und Intrigen. Wie jeder versucht, seine Interessen zu verfolgen und einen Keil zwischen seine Gegner zu treiben.« Er grinste. »Bei unserer Familie hat das aber noch niemand geschafft. Wir sind uns eng verbunden. Und dabei müsstest du mal hören, was so über uns erzählt wird: Mein Vater sei geisteskrank, mein Onkel ein Giftmischer, meine Mutter …« Er zog eine Grimasse. »Ich sage besser nicht, was sie über meine Mutter verbreiten.«

Ich konnte es mir lebhaft vorstellen und fragte nicht nach den schlüpfrigen Details. Stattdessen interessierte mich etwas anderes. »Warum nennen sie deinen Onkel einen Giftmischer?« Das klang wie ein sehr spezieller Vorwurf.

Aris zuckte mit den Schultern. »Vor Jahren, ich war gerade erst geboren, gab es einen Anschlag auf meinen Vater. Man hatte versucht, ihn zu vergiften. Aber das eigentliche Gift war das Gerücht, mein Onkel – sein Bruder – stecke dahinter. Vater hat nie an ihm gezweifelt, aber er musste ihn dennoch ins Exil schicken, um seine Herrschaft nicht zu schwächen. Das war ein schwerer Schlag für meine Familie. Die wahren Verschwörer wurden schließlich entdeckt und Vater holte Onkel Evros zurück an den Hof. Aber so ganz hat unser Haus das nie abgeschüttelt. Trotz seiner Unschuld darf mein Onkel bis heute keine offizielle Position einnehmen. Dafür war er so etwas wie mein Erzieher. Ich glaube, er kennt mich besser als meine Eltern …«

Aris verstummte. Ihm war wohl bewusst geworden, dass er mehr gesagt hatte, als er sollte.

Doch dass er überhaupt wieder etwas von sich erzählte, ließ Freude und Aufregung in meinem Magen pulsieren. Fasste er endlich Vertrauen zu mir? Um das nicht wieder zu verspielen, riss ich mich zusammen und fragte nicht weiter nach – obwohl ich darauf brannte, mehr über seine Familie und seine geheimnisvolle Heimat zu erfahren.

So saßen wir eine ganze Weile in entspanntem Schweigen nebeneinander, hingen unseren Gedanken nach und sahen hinaus auf das glitzernde Wasser. Ab und an hörte ich Snowflake am Ufer bellen. Er war schon wieder auf Möwenjagd und hatte sich damit abgefunden, dass sein Frauchen unbedingt auf einem Stein im Meer sitzen musste.

Noch immer war es ungewöhnlich warm und windstill. Tristans Party an diesem Abend kam mir in den Sinn. Na, mit dem Wetter hatte er jedenfalls Glück …

Schließlich richtete Aris sich auf und wischte die letzten Krümel von seiner Hose. »Der Sender funktioniert«, murmelte er. »Aber ich will noch einmal etwas anderes versuchen. Nicht ausflippen, wenn es klappt, in Ordnung?«

Ich warf ihm einen gespielt finsteren Blick zu. Grinsend beugte er sich hinab und legte wieder seine rechte Hand auf die Wasseroberfläche. Mit der nahenden Flut erreichten die Wellen inzwischen fast den oberen Rand des Felsens. Lange konnten wir hier nicht mehr bleiben, wenn wir keine nassen Füße bekommen wollten. Ich packte vorsichtshalber schon einmal alles zusammen und stand auf. Dann sah ich, wie das Wasser unter Aris’ Handfläche zu glühen begann. Im Sonnenlicht musste man allerdings schon genau hinschauen, um es zu bemerken. Diesmal breitete sich der goldene Schein nicht ringsherum aus, sondern pfeilartig nach vorn – weg von Aris, hinaus aufs Meer. Sein Gesicht und sein Körper wirkten voll konzentriert. Das hielt er vielleicht fünf Minuten durch, dann entspannte er sich wieder und das Leuchten verblasste.

Er ließ seine Hand im Wasser baumeln und sah seufzend zu mir hoch. »Ich habe das heute Morgen schon ein paarmal probiert, aber ohne Erfolg.«

»Was genau soll denn passieren?«

Er kam nicht dazu, mir zu antworten. Denn plötzlich tauchte ein gewaltiger schwarzer Schatten vor uns auf und riss Aris mit sich unter Wasser.

Meeresglühen (Bd. 1)

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