Читать книгу Meeresglühen (Bd. 1) - Anna Fleck - Страница 14
Kapitel 7
Оглавление»Aris! Aris, was hast du? Sag doch was!«
Er hörte mich nicht. Mit fest zusammengepressten Augen und Lippen lag er auf dem Boden, von heftigen Krämpfen geschüttelt, das Gesicht schmerzverzerrt. Ich packte ihn an den Schultern, versuchte, ihn zu beruhigen, ihm zu helfen, erreichte aber gar nichts. Er war völlig weggetreten.
Voller Panik riss ich mein Handy heraus und wählte den Notruf. Ich kam genau bis zu »Hallo, ich brauche dringend Hilfe, hier ist jemand mit einem epileptischen Anfall oder so etwas«, dann wurde mein Display schon wieder schwarz. Verdammter Akku! Wütend schleuderte ich das nutzlose Teil weg.
Verzweifelt fiel ich neben Aris auf die Knie und versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was man bei Krampfanfällen tun sollte. Atemwege freihalten? Stabile Seitenlage? Aber auf der Seite lag er ja eh schon. Und seinen Mund würde ich nicht aufkriegen, keine Chance. Die Kiefermuskeln waren vollkommen verspannt und er schien kaum zu atmen. Sein Körper zitterte, als ob eine unsichtbare Bestie versuchte, ihn totzuschütteln. Was immer das auch war – er musste entsetzliche Schmerzen haben. Mir wurde schlecht vor Angst. Mühsam rang ich nach Luft, um das Gefühl niederzukämpfen.
Endlich merkte ich, dass der Anfall abklang. Zumindest entspannten sich Aris’ Glieder langsam wieder und er atmete ruhiger.
»Hey … hey, alles klar? Kannst du sprechen?«
Wie konnte ich ihm nur helfen? Er war schweißgebadet und hatte die Augen noch immer fest geschlossen. Als ich ungeschickt nach seinem Puls am Hals tastete, verrutschte der Kragen des karierten Hemdes und für einen Moment sah ich die rätselhaften Male unter seinem Schlüsselbein. Nur waren sie jetzt nicht mehr rot, sondern so dunkel, dass sie geradezu schwarz wirkten. Was zur Hölle war das?
Seine Lippen bewegten sich. Ich beugte mich ganz nah zu seinem Gesicht hinab. »… geht gleich wieder«, flüsterte er kaum verständlich. »Keine Sorge … Das ist normal …«
»Normal?!«, fauchte ich mit zitternder Stimme. »Scheiße, in welcher Welt ist das normal? Was hast du?«
Aber ich musste noch ein paar Minuten auf eine Antwort warten. Minuten, in denen ich versuchte, mein wild schlagendes Herz zu beruhigen. Es half kein bisschen, dabei zuzusehen, wie er sich mit vor Schmerz aschfahlem Gesicht vollends ins Bewusstsein zurückkämpfte. Schließlich war er so weit, dass er sich mit meiner Hilfe wieder aufsetzen konnte. Selbst durch den Hemdstoff fühlte sich seine Haut feucht und fiebrig an.
»Aris, was war das? Bist du krank?« Ich ließ mich neben ihn sinken. Noch immer schnürte mir die Panik fast die Kehle zu. Ich konnte kaum glauben, dass er mir jetzt so etwas wie ein aufmunterndes Lächeln zuwarf.
»Nachwirkungen … Das Gift ist wohl noch nicht ganz raus.«
Was für Gift?
»Kann … kann das wieder passieren?«
»Möglich.« Er zuckte schwach mit den Schultern und grinste schief. »Ist für mich auch das erste Mal …«
Ich zog die Beine an und vergrub meinen Kopf zwischen Armen und Knien. Meine Nerven brauchten einen Moment Pause. Aris lehnte sich kraftlos an mich, und ich hörte, wie sein Atem langsam ruhiger und kontrollierter ging. So saßen wir eine ganze Weile.
Er könnte drogenabhängig und auf Entzug sein, erklang es in mir, als ich etwas klarer denken konnte. Oder psychisch krank. Meine innere Stimme war wieder in Form. Sei ehrlich, Ella: Nichts von dem, das du bisher gesehen und erfahren hast, würde dem widersprechen. Vielleicht ist er selbst die größte Gefahr, die er zu befürchten hat. Dann verhinderst du, dass er professionelle Hilfe bekommt. Was, wenn er noch so einen Anfall hat? Und dein einziger Beitrag ist ein Handy mit kaputtem Akku? Vielleicht stirbt er dann.
Ich weiß!, beteuerte ich. Aber was soll ich denn machen?
Jedenfalls nicht rumheulen, klar?
Klar. Ich atmete tief durch und fasste einen Entschluss. Also gut. Wir suchen jetzt dieses blöde Brett. Wenn wir es finden – mal sehen, ob das ein Grund ist weiterzumachen. Aber wenn nicht, sage ich morgen den Behörden Bescheid. Ich nickte mir in Gedanken zu. Sicher war das eine vernünftige Entscheidung.
Aber war sie auch richtig?
Ein Blick zu Aris neben mir ließ mich schon wieder zweifeln. Nichts an seinem Verhalten wirkte für mich labil oder Misstrauen erweckend. Schließlich hätte er mir genauso gut eine glaubhafte Geschichte vorlügen können. Stattdessen hatte er mich um mein Vertrauen gebeten. Und ich hatte es ihm zugesagt. Also: Was war das wert? Mir blieb vorerst nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben und auf seine Atemzüge zu horchen.
»Schwarze Perlen.« Nach einer gefühlten Ewigkeit begann Aris, leise zu sprechen. »So nennen wir sie. Es sind eigentlich Medusen. Winzige Quallen. Ungefähr so groß.« Er hielt Daumen und Zeigefinger etwa zwei Zentimeter weit auseinander. »Sie sind sehr selten. Aber wenn man sie sieht, dann in Schwärmen. Sie verbinden sich mit ihren Nesselfäden und treiben leuchtend im Wasser nebeneinander, in langen Reihen … wie Perlenketten. Das ist ein wunderschöner Anblick.«
Wo siehst du so was bloß?, fragte ich mich fasziniert. Aber ich hielt meinen Mund, um ihn ja nicht zu unterbrechen.
Er sprach weiter, geradezu mechanisch. »Ihre Körper sind durchsichtig. Bis auf einen schwarzen Punkt im Inneren. Dort sitzt das Gift. Nicht stark genug, um einen Erwachsenen zu töten. Aber es lähmt und … und wirkt stundenlang. Der Schmerz ist … unbeschreiblich.« Er senkte den Kopf und schloss die Augen. Seine Stimme wurde leiser. »Ist aber wohl nicht so einfach mit der richtigen Dosierung. Sie haben jedenfalls immer abgewartet, bis die … Behandlung vollständig abgeklungen war. Sonst wäre ich ihnen vielleicht doch zu früh verreckt.«
Entsetzt blickte ich ihn an. Ich hatte eine schlimme Geschichte vermutet, sicher. Aber so etwas …? Was er erzählte, klang so grausam und gleichzeitig so … so fremd, dass ich gar keine Worte fand. Aris saß ebenfalls vollkommen still neben mir. Seine Augen waren geöffnet, doch sie blickten leer auf den Horizont.
Schließlich wagte ich mich wieder an eine Frage: »Und … wie lange ging das?«
»Keine Ahnung«, murmelte er. »Ein paar Tage? Es ist alles ziemlich verschwommen.«
Ich schluckte. »Wie hast du das bloß ausgehalten?«
»Gar nicht.« Er lächelte bitter. »Ich glaube, ich hätte ihnen schon nach dem ersten Mal alles gesagt, was ich weiß. Aber sie wollten … das Verschlossene.«
»Das Verschlossene?«
Aris atmete tief ein, rückte von mir ab und setzte sich ganz gerade hin. Weil es ihm besser ging – oder weil er Abstand von mir wollte? Die zweite Möglichkeit war mir unerwartet unangenehm.
»Ich hatte dir ja erzählt, dass meine Familie viele Geheimnisse hütet«, antwortete er. »Manche sogar vor sich selbst. Wir haben eine Methode, so etwas in Menschen zu … verschließen. Das Wissen ist da. Aber der Betroffene selbst kennt es nicht. Erst, wenn die Zeit gekommen ist.«
»Soll das heißen, da ist irgendwelches Zeug in deinem Kopf und du hast keinen Zugriff darauf?«
»Ja. Ich kann es nur bewahren, aber nicht nutzen. Also auch nicht missbrauchen – oder verraten. Es sei denn …«
»Es sei denn, jemand kommt mit diesen komischen Quallenviechern?«
Er nickte. »Wenn das Gift hoch genug dosiert ist, fällt das Opfer schließlich in einen tranceähnlichen Zustand. Dann redet jeder. Und selbst die Barriere zum Verschlossenen löst sich auf.«
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Man hatte Aris Furchtbares angetan, damit er etwas verriet, das ihm nicht einmal bewusst war? Angespannt blickte ich zum Himmel. Ein Schatten schien sich vor die Sonne gelegt zu haben. Ihre Strahlen wärmten nicht mehr und leuchteten auch weniger hell. Jedenfalls kam es mir so vor.
Er warf mir ein entschuldigendes Grinsen zu. »Ich hielt das auch immer für eine dieser Legenden, die politische Gegner einschüchtern sollen. Falls Schwarze Perlen überhaupt je für Befragungen missbraucht wurden, ist das Jahrhunderte her, hieß es immer. Es sei zu gefährlich, niemand von Ehre würde das heute tun und so weiter.« Er zuckte mit den Schultern. »Da habe ich wohl Neuigkeiten für unsere Berater.«
»Ihr habt Berater zu … zu Foltermethoden?«
»Verschärfte Befragung nennt man das«, korrigierte er nüchtern. »So haben sie es uns erklärt, meinen Brüdern und mir. Womit wir rechnen müssen, im Fall einer Entführung. Da war aber mehr die Rede von Schlafentzug, Dauerverhören, so etwas. Ich … ich hätte nie gedacht –« Er lachte freudlos auf. »Besonders würdevoll habe ich mich jedenfalls nicht benommen. Und ich habe alles verraten, ganz sicher.«
»Weißt du denn jetzt wenigstens, um was es ging?«, fragte ich behutsam.
Aris schüttelte den Kopf. »Nein. Alles ist wie vorher. Es fühlt sich an wie eine graue Wand in meinem Kopf. Ich kann sie nicht durchbrechen. Ha, ich kann mich ihr nicht einmal nähern! Sinnlos. Aber wenn die Verschwörer ein solches Risiko eingegangen sind, muss es da etwas Großes geben, etwas Gefährliches. Vielleicht ist es schon längst zu spät …«
Ich sah die Verzweiflung in seinem Blick und fragte mich vergeblich, ob man so etwas vortäuschen konnte.
Reiß dich zusammen, Ella, ermahnte mich meine innere Stimme. Du hast einen Entschluss gefasst. Jetzt bleib dabei.
Richtig.
Und ich hatte versprochen, dass wir in jedem Fall dieses »Skriff« suchen würden. Also los: Zeit, die Sonne wieder anzuknipsen.
Entschlossen stand ich auf und streckte Aris die Hand entgegen. »Kannst du wieder laufen? Wir haben noch was vor.«
Einen Moment lang sah er mich unsicher an. Dann ergriff er meine Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Immerhin lag die erste Bucht direkt unter uns.
Und dann … hatten wir richtiges Glück.
Denn dort, verkeilt zwischen zwei Felsen, leuchtete im hellen Sonnenlicht ein sanft gebogenes und längliches Brett: das Skriff.
Aris rannte so schnell über den Strand darauf zu, dass ich schon dachte, ich hätte mir seinen schrecklichen kräftezehrenden Anfall von vorhin nur eingebildet. Als ich ihn eingeholt hatte, kniete er bereits im knöcheltiefen Wasser und war dabei, das Teil zu untersuchen.
Ich fragte mich, wie ich es für ein normales Surfbrett hatte halten können. Okay, die Form war ähnlich, auch wirkte es auf den ersten Blick ganz herkömmlich weiß. Das komplizierte Geschirr, aus dem ich Aris befreit hatte, war an fünf Punkten befestigt. Jetzt verstand ich, dass seine Funktion nichts mit Surfen zu tun hatte, sondern allein darin bestand, einen Körper möglichst sicher bäuchlings auf dem Brett zu fixieren. Die Verschlüsse ähnelten keinem mir vertrauten System – weiß der Himmel, wie ich die aufgekriegt hatte. Bei genauem Hinsehen erkannte ich, dass die Hülle des Skriffs nicht aus einem weißen Kunststoffüberzug bestand, wie ich angenommen hatte, sondern mit feinen Schuppen bedeckt war, die perlmuttartig glänzten. Ich hatte außerdem noch kein Surfbrett gesehen, an dessen Oberfläche bei leichtem Druck schwach pulsierende goldene Adern zum Vorschein kamen. Was war das bloß für ein Material?
Aris strich mit den Händen darüber, ganz benommen vor Freude. »Es ist nicht beschädigt … Ella!« Im nächsten Augenblick sprang er auf, riss mich in seine Arme und wirbelte mit mir im Kreis herum.
Seine Begeisterung war so echt und ansteckend, dass ich meine guten Vorsätze in den Wind schoss, mich mitreißen ließ und einfach das irre Gefühl genoss, wie mühelos er mich durch die Luft schwang.
Schließlich setzte er mich wieder ab, ich stolperte lachend gegen ihn auf der Suche nach Halt. Einen Moment lang starrten wir uns atemlos an. Ich sah in seine Augen und mir schoss durch den schwindeligen Kopf: Heute, im Sonnenlicht, haben sie wirklich genau die Farbe des Meeres.
Dann merkte ich, dass ich bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Oh Mann! Meine schönen Sneakers! Na, die waren wohl im Eimer. Ich hastete ins Trockene, hinter mir Aris’ leichtherziges Lachen.