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Von der magischen Kraft des Vorlesens

ANNA:

Liebe Gemeinde, hier kommt das Wort zum Sonntag. Es wird heute gesprochen von einer Schulärztin – das ist die Sorte Ärztin, die die Sechsjährigen untersucht und für schulreif oder auch nicht erklärt (und noch eine Menge anderer Dinge erledigt, aber das nur mal so nebenbei). Das Wort zum Sonntag geht sehr schnell, denn es ist nur ein einziges. Es heißt:

VORLESEN!

Ja, Sie haben dieses Wort bestimmt schon einmal gehört, möglicherweise sogar gelesen. Manche haben sicherlich schnell die Augen verschlossen oder so getan, als habe das Wort keinerlei Eindruck bei ihnen hinterlassen. Manche haben auch pflichtschuldig genickt und betont, sie würden ihre Kinder selbstverständlich mit Geschichten versorgen. Es gäbe da ja so gute Bücher. Auf Nachfrage allerdings erweisen sich diese Bücher als Hörbücher. Hörbücher machen den Erwachsenen natürlich wenig Mühe. Aber, wie wir ja alle wissen, eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe – sorgen allerdings auch für viel Milch. Und Hörbücher geben einfach nicht genug Milch. Etwas Mühe muss schon sein.

Der Schulärztin ist nämlich aufgefallen – und das, obwohl sie grundsätzlich erst einmal alle Erziehungsrezepte infrage stellt –, dass die kleinen Schulanfänger, denen viel vorgelesen wurde, besser in Deutsch sind und einen deutlich größeren Wortschatz besitzen als Kinder, denen nicht vorgelesen wird. Isso. Punkt.

Wie die Schulärztin das herausgefunden hat? Durch die Einschulungstests, die sie regulär mit den kleinen Stöpseln macht, in Zusammenhang mit dem Fragebogen, den die Eltern ausfüllen (freiwillig und anonym übrigens). Dabei ist es völlig egal, ob Vater, Mutter, Großmutter, Großvater, ältere Geschwister oder sonst jemand vorliest. Hauptsache, es geschieht. Und Hauptsache, es geschieht nicht nur »gelegentlich« (wie viele Eltern ankreuzen). Was meist ein anderes Wort ist für »einmal im Monat oder vielleicht auch nie, wenn ich richtig darüber nachdenke«.

Das Vorlesen als solches sorgt nämlich für Nähe. Und Geborgenheit. Und die Möglichkeit nachzufragen. Und die Möglichkeit, gemeinsam zu lachen. Oder sich gemeinsam zu gruseln. Vom Vorlesen von Büchern mit ausgesprochen pädagogischem Anspruch ist dabei abzuraten.

Vorlesen sorgt für Gefühle. Und Gefühle wirken wie Klebstoff für das Gedächtnis – wir erinnern uns am besten an das, was von Glück und Wärme, Aufregung, Wut oder Angst begleitet wurde. Und das ist – Überraschung – mit dem Vorgelesenen nicht anders.

Was ein Grund dafür ist, dass Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle 2019 ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert hat. Damals haben Eltern und Großeltern angefangen, es den Kindern vorzulesen. Und als die Kinder groß waren, erinnerten sie sich in all der Flut der Bilderbücher lebhaft an ebendieses Buch. Und möglicherweise auch daran, wie sie – ein Elternteil, dem die Augen schon zufielen neben sich – ins Bett gekuschelt dasaßen und zum hundertsten Mal mitsprachen, durch welches Lebensmittel die kleine Raupe sich gerade hindurchfraß.

Das war schön. Ganz wunderschön. Auch, dass die Raupe ganze Tortenstücke verschlang. Und dass sie am Ende ein wundervoller Schmetterling wurde, genau so einer, wie man selbst irgendwann einmal vorhatte zu werden, wozu eindeutig die Tortenstücke, Lollis und Wassermelonen gebraucht wurden. Nicht nur Dinkelstangen, Kohlrabischeiben und Tofubratlinge. Auch wenn der Raupe am Ende schlecht war. Dabei schlich sich ein Verhältnis zu Zahlen (wir erinnern uns, die Anzahl der Lebensmittel, die die Raupe frisst, nimmt von Seite zu Seite zu …) ganz automatisch in die kleinen Köpfe, ebenso wie die Wochentage und natürlich diverse Vokabeln. Also kaufen die Eltern dieses Buch. Und kaufen und kaufen. Seit fünfzig Jahren.

Eine Alternative zum Vorlesen ist es, sich selbst Geschichten auszudenken und zu erzählen, das fördert auch die Kreativität. Und zwar besonders die der Erwachsenen. Ganz besonders beliebt sind, nebenbei bemerkt, Gereimtes und Gesungenes, das haftet im Gedächtnis wie Kaugummi auf dem Bürgersteig, weswegen es in allen mir bekannten Ländern so viele Kinderreime gibt und einfache Kinderlieder, die ebenfalls von Generation zu Generation weitergegeben werden und sich interessanterweise innerhalb Europas gar nicht großartig unterscheiden.

Aber Achtung: Sollten Sie den Ehrgeiz haben, selbst Geschichten, Reime oder Lieder zu ersinnen, bedenken Sie bitte, dass die häufig doch recht konservativen Kinder am nächsten Abend exakt denselben Wortlaut verlangen, daran scheitert dann mancher Erwachsene. Und das erzeugt Frust.

Dann doch lieber: VORLESEN.


Wichtig ist also

Es ist nahezu egal, was Sie vorlesen. Mit der richtigen Betonung und genügend Liebe in der Stimme kann man Kindern vermutlich auch Telefonbücher, Zitronenkuchenrezepte oder Beipackzettel für Blutdrucksenker vorlesen (jedenfalls solange sie klein sind, irgendwann fangen sie dann an, sich zu wehren). Dann lesen Sie Bücher vor, die auch Ihnen Spaß machen (und glauben Sie mir, davon gibt es in der Kinderliteratur eine ganze Menge). Und das Allerwichtigste: Es ist egal, wie gut Sie selbst vorlesen könnenes kommt nicht darauf an, dass Sie sich in ein Hörbuch in Menschengestalt verwandeln, es kommt auf SIE an, auf SIE ganz persönlich. Auf Ihre Aufmerksamkeit, Ihren Spaß an den Büchern und: Ihre Liebe zu Ihrem Kind. Denn das ist es, was Ihr Kind mit in sein Leben nehmen wird und was bei ihm den Spaß am Lesen weckt.

Profitipp

Jedes Jahr kommen etwa achttausend neue Kinderbücher heraus. Achttausend. Die kann niemand lesen, geschweige denn vorlesen. Zum Glück gibt es aber einige Menschen, die das tun und nicht nur herausfiltern, was sie gut finden, sondern das auch noch veröffentlichen.

Neben dem Jugendliteraturpreis der Bundesregierung, bei dem es sich auch sehr lohnt, sich alle Bücher einmal anzusehen, die nur nominiert wurden, aber keinen Preis bekommen haben, und ganz besonders die der Jugendjury (da entscheiden nämlich wirklich Kinder und Jugendliche), gibt es diverse Möglichkeiten, sich beraten zu lassen.

Als Allererstes natürlich die örtliche Buchhandlung, wenn dort jemand sitzt, der sich mit Kinderbüchern auskennt. Dann die öffentliche Bücherei – in diversen Städten betreiben auch die Kirchen kleine, feine Büchereien, durch deren Bestand meine Kinder sich begeistert gelesen haben. Sehr zu empfehlen ist auch der Kinderliteraturführer der Buchhandlung Schmitz junior. Die Buchhandlung hat sich auf Kinderliteratur spezialisiert und liest und bespricht alle Bücher mit Hingabe selbst. Auch die Lesebar der Uni Köln (hier werden die Bücher von angehenden Lehramtsstudenten ausgewählt und besprochen) hat ein vielfältiges Onlineangebot. Entsprechende Webseiten finden Sie unter »Nützliche Links« am Ende dieses Buches.

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