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Wachstumsfugen sind keine Musikstücke

Kleine Fallgeschichte

Lea (6) und ihre Mutter Corinna W. (37), Hamburg-Harburg, Sonntag, 23.17 Uhr

»Herr Doktor, aber ich glaube immer noch, die Hand ist gebrochen!«

Der junge Chirurg hebt erst eine Augenbraue und dann zur Sicherheit – falls die Mutter vor ihm etwas begriffsstutzig sein sollte – gleich alle beide.

»Sehen Sie dort etwa eine Frakturlinie?«

»Was ist eine … eine …?«

»Bruch. Eine Bruchlinie.«

Die Mutter beugt sich über das Röntgenbild, bis ihr auffällt, dass sie nie Röntgenheilkunde gelernt hat und die Frage deshalb mindestens überflüssig ist.

»Äh … nein. Sie?«

»Nein. Ich auch nicht. Eben. Deshalb stehe ich ja auch zu meiner Aussage von vorhin: Diese Hand ist NICHT gebrochen.«

»Aber … schauen Sie sich die Hand doch einmal an! Lea, zeig dem Mann bitte deine Hand noch einmal.«

Die Sechsjährige, seeeeehr müde Augen, leicht genervter Gesichtsausdruck, hebt die rechte Hand in die Höhe.

»Da! Haben Sie schon jemals so einen dicken Handballen gesehen? Wo soll das denn herkommen?«

Der junge Arzt rollt mit den Augen. Er hat so einiges an Gesichtsgymnastik drauf.

»Oder … oder einen Handballen in DER Farbe … Lea, zeig dem Arzt doch noch einmal …«

Gehorsam hebt die Kleine die Hand, die sie inzwischen vorsichtig in den Schoß gelegt hat, ein weiteres Mal, ja, sie rutscht sogar näher, um sie dem Onkel direkt unter die Nase halten zu können. Für den Fall, dass er unter höhergradiger Kurzsichtigkeit leidet.

Der Kittelonkel verlegt sich aufs Seufzen. »Ich habe schon ganz andere Farben gesehen, das kann ich Ihnen versichern!«

»Aber nicht an dem Handballen einer Sechsjährigen!«

Der Arzt murmelt irgendetwas.

»Was haben Sie gesagt?«

»Keine. Fraktur. Linie.«

»Aber …«

»Sagen Sie, WOLLEN Sie etwa, dass Ihre süße kleine Tochter sich die Hand gebrochen hat? Haben Sie schon einmal etwas von dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom gehört?«

»Dem … dem … ist das das, wo die Mütter ihre Kinder absichtlich krank machen?«

Der junge Chirurg nickt.

»Aber … aber …«

»Aber jetzt kommt der nette Gabriel«, wendet sich der Arzt an Lea. Tränenspuren ziehen sich über ihr Gesicht, und die Augen fallen ihr ständig zu – kein Wunder, schließlich ist es beinahe Mitternacht, und sie hat mit ihrer Mutter jetzt schon drei Stunden in der Ersten Hilfe verbracht.

»Und der nette Gabriel verbindet dir die Aua-Hand, und dann kannst du mit deiner Mama wieder nach Hause fahren und ganz, ganz schnell ins Bett, damit du morgen rechtzeitig in die Schule kommst. Du gehst doch schon in die Schule?«

Er würdigt die Mutter keines Blickes mehr, und die stellt überrascht fest, dass sie das Bedürfnis verspürt, mit ihrer eigenen Hand ganz, ganz kräftig Aua zu machen. Und zwar im Gesicht des Jungchirurgen.

Der aber hat weise schon das Behandlungszimmer verlassen, stattdessen: Auftritt eines älteren Pflegers mit exzessiven Tattoos.

»Oje, was hast du denn mit deiner Hand gemacht?«

»Sie hat sie vom Hochbett ihrer älteren Schwester fallen lassen und, weil es nicht anders ging, mitsamt dem Rest ihres Körpers«, sagt die Mutter, und jetzt treten ihr Tränen in die Augen.

»Und die ist nicht gebrochen?«, fragt Gabriel, während er vorsichtig und geschickt einen Verband anlegt.

»Keine. Fraktur. Linie.« Ganz im Geheimen fletscht die Mutter kurz die Zähne. Für alles andere ist sie jetzt zu müde.

»Bei Kindern ist manches anders«, murmelt Gabriel. »Aber wenn Doktor Wagner das so gesagt hat.«

Der Anruf kommt am folgenden Vormittag, die Kleine hat eben noch mal einen Schmerzsaft verlangt und ist jetzt auf dem Sofa eingeschlafen.

»Guten Tag, hier Wisch-Wippner. Spreche ich mit der Mutter von Lea?«

Das Herz der Mutter der kleinen Lea klopft schmerzhaft, wenn auch ohne Bruchlinie.

»Ja … und mit wem spreche ich?«

»Mit der Oberärztin der Kinderchirurgie. Sie waren gestern Abend doch mit ihrer Tochter in der Ersten Hilfe. Und zu dieser Zeit haben wir Kinderchirurgen keinen Dienst mehr. Ich habe mir allerdings heute die Röntgenbilder von Lea noch einmal angesehen.«

»Ja … ich …«

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Hand ihrer Tochter doch gebrochen ist. Bitte kommen Sie heute in die Kinderchirurgie.«

»Aber, aber, Doktor Wagner hat doch gesagt: keine Frakturlinie?«

Man kann das feine Lächeln der Oberärztin durch das Handy förmlich hören.

»Ja. Nun. Er ist ein ERWACHSENENchirurg, und wissen Sie …«

»Bei Kindern ist manches anders«, vollendet die Mutter.

»So ist es«, bestätigt Frau Doktor Wisch-Wippner. »Bei kleinen Kindern sind Röntgenbilder manchmal schwierig zu beurteilen, weil der Knochen noch nicht so fest und dicht ist wie bei Erwachsenen. Man sieht dann nicht die klassischen Zeichen eines Bruches, wir Kinderchirurgen wissen aber, worauf wir achten müssen. Bitte kommen Sie sobald wie möglich noch einmal zu uns.«

»Ja, sobald die Kleine aufgewacht ist, kommen wir zu Ihnen ins Krankenhaus.«


Wichtig ist also

Gemeinerweise funktionieren Kinderknochen etwas anders als die von Erwachsenen. Im obigen Fall vermutete die Mutter richtig einen Bruch. Nicht selten aber ist es genau umgekehrt – man sieht beinahe nichts, und dennoch ist der Knochen durch. Nur ein winziger blauer Fleck am Schienbein, das Kind hat starke Schmerzen und kann nicht stehen. Also: im Zweifelsfall immer zum Arzt.

Profitipp

Bei Brüchen – wenn möglich – lieber zum Kinderchirurgen gehen. Je nach Alter des Kindes haben die Knochen noch größere Anteile von Knorpel und vor allem Wachstumsfugen, die manch ein Chirurg für Erwachsene schon für eine Bruchlinie gehalten hat. Zudem haben Kinderknochen sehr strapazierfähige Knochenhäute. Das kann zu den sogenannten Grünholzbrüchen führen, bei denen die Haut außen intakt ist, der Knochen innen aber trotzdem durch (ähnlich wie bei jungen Weidenzweigen). Vorteil: Der Knochen heilt, wenn er nicht verschoben ist, auch einfacher wieder zusammen, weil er von der Knochenhaut geschient wird.

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