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Quellen: unabgeschlossen, hermetisch

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Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung von Sammlungspraktiken an einem Museum bringt einige quellentechnische Besonderheiten mit sich: Das Museum ist kein Ort, wo Schriftlichkeit gepflegt wurde. Der mündliche Austausch war wichtiger. Um die Archivierung der verhältnismässig wenigen schriftlichen Quellen kümmerten sich die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nicht speziell, sodass diese unsystematisch erhalten wurden. Offenbar erachteten die Mitarbeitenden sich für die Dokumentation der Geschichte ihrer Institution nicht als zuständig. Überspitzt gesagt: Die Museumsmitarbeitenden bewahrten die Sammlungsstücke auf und warfen die Textdokumente über sie weg.

Die fehlenden Dokumentationsbemühungen sind ein verbreitetes Phänomen, wie ein Blick auf andere Museen bestätigt.93 Sie machen eine geschichtswissenschaftliche Bearbeitung schwierig, sind aber auch interessant, weil sie bereits als ein erstes Stück Sammlungsgeschichte verstanden werden können. Für die Dokumentationsformen am Schweizerischen Nationalmuseum sind die Unabgeschlossenheit, die wechselnden, hermetischen Ordnungslogiken sowie die dezentrale Ablage charakteristisch. Das Sammeln und damit auch seine Dokumentation kennen keinen Abschluss. Ältere Quellenbestände waren immer Teil der aktuellen Sammlungspraxis. Sie wurden nicht als historische Akten behandelt, sondern immer wieder abgeändert. Bei Bedarf griff man auf sie zurück und überarbeitete sie den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend oder warf sie weg, wenn sie unbrauchbar geworden waren. Angaben wurden durchgestrichen, ausradiert, hinzugefügt, ergänzt oder gelöscht. Die Quellen widerspiegeln die historische Gewachsenheit der Sammlung wie auch den alltäglichen Umgang mit ihr.

Nur in einem Bereich wurde am Schweizerischen Nationalmuseum über den ganzen Zeitraum seines Bestehens hinweg Wert auf die Dokumentation gelegt, und zwar bei der Erfassung der Objekteingänge. Fortlaufend wurden die in die Sammlung eingegangenen Stücke in Inventarbücher eingetragen, unter einer Inventarnummer samt Angaben über ihr Aussehen, ihre Herkunft, ihren Kaufpreis und so weiter.94 1989 begannen dann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums, die Neueingänge in einer elektronischen Datenbank zu erfassen und die bestehenden Inventare in die neue Systematik zu übertragen.95 Die Inventarbücher und die Datenbank sind auch deshalb etwas Besonderes, weil sie die einzige sammlungsübergreifende Dokumentationsform sind. Sonst verwalteten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Sammlungsstücke nach (wechselnden) Sach- und Materialgruppen (Waffen und Militaria, Keramik, Edelmetall und so weiter) und publizierten zu ihren Fachgebieten. Daher ist auch oft von «Sammlungen» des Landesmuseums und nicht von einer «Sammlung» die Rede.96

Spätestens ab 1961, als die Ressortstruktur eingeführt worden war und damit den Konservatoren einzelne Sammlungsgebiete fest zugeteilt wurden, lag es im Ermessen der einzelnen Mitarbeitenden, welche Dokumentationen sie für ihre Arbeit für relevant hielten und in ihren Büroräumlichkeiten aufbewahren wollten. Sie erstellten teilweise eigene Karteien und Sachkataloge und führten eine gesonderte Dokumentation zu einzelnen Sammlungsobjekten.97 Manche Akten blieben aufgehoben, einige wurden auf den Fluren der Museumsverwaltung deponiert und andere der hausinternen Bibliothek übergeben. Das Museum verfügte zu keiner Zeit über ein zentrales, systematisch geführtes Institutionsarchiv.98 Viel wichtiger für die Museumsangestellten waren ihre Fachkataloge zu einzelnen Sammlungsstücken und Objektgruppen sowie ab Ende der 1970er-Jahre Ausstellungskataloge, die zu den Ausstellungen erschienen.99

Die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter berichten, dass viel Aktenmaterial in den 1970er- und 1980er-Jahren weggeworfen wurde, als die damalige Direktion anordnete, vorhandene Akten der Museumsarbeit zu sichten, zu sortieren und gegebenenfalls zu vernichten.100 Ich kann belegen, dass noch 1962 rund 80 Laufmeter ungeordnete Akten vorhanden waren. Die Rede ist von Protokollen, Urkunden, Verträgen, Gutachten, Gerichtsurteilen, Jahresrechnungen und Korrespondenz, die sich über Jahrzehnte wortwörtlich angesammelt hatten und die wegen der fehlenden Ordnung grossenteils als unbenutzbar galten.101 Es ist auch gegenwärtig sehr schwierig, sich in den Ordnungssystematiken und Notationssystemen der vorhandenen Dokumentationen und Akten zurechtzufinden. Kein Handbuch oder Ähnliches existiert, das Hilfestellung bieten könnte. Die Mitarbeitenden des Museums haben ihre je eigenen Such- und Orientierungsstrategien entwickelt.

Institutionsinterne Belange, die gegenüber dem Bund speziell ausgewiesen werden mussten, wurden dokumentiert und 1880 bis 1940 an das Bundesarchiv in Bern abgegeben. Anschliessend erfolgte eine ungeordnete Aktenabgabe. Im Bundesarchiv befinden sich hauptsächlich Personalakten der Museumsangestellten sowie Unterlagen zu einzelnen wichtigeren Entscheiden und Veränderungen, an denen die Departemente des Bundes und die Landesmuseumsbehörden beteiligt waren.102 Die Museumsdirektion und die Kommission des Landesmuseums hatten gegenüber der Exekutive die Pflicht, in Form von Jahresberichten über ihre Tätigkeiten Rechenschaft abzulegen. Zuhanden des eidgenössischen Departements des Innern wurde im Namen der Museumsdirektion und der Kommission des Landesmuseums Bericht erstattet.103 Die jährlichen Berichte informieren über personelle und administrative Veränderungen, publizieren die Jahresrechnung und, besonders interessant, berichten über die Arbeit der Kommission, der Direktion wie auch über die Tätigkeiten der Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Abgedruckte Fotografien geben zudem vereinzelt Einblick in die Arbeitsräume des Landesmuseums.104 Die Jahresberichte dienen als wichtige Quellen, um mehr über die Tätigkeiten im Museum und ihren jeweiligen Stellenwert zu erfahren. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Berichterstattung fast ausschliesslich die Perspektive der Direktion wiedergibt. Sie verfasste jeweils den grössten Teil eines Jahresberichts.105

Es gibt noch einen zweiten wichtigen gedruckten Quellentyp, der im Gegensatz zu den Jahresberichten aber unveröffentlicht blieb: die Protokolle der Sitzung der Landesmuseumskommission.106 Die Kommission des Landesmuseums funktionierte als Bindeglied zwischen der Landesregierung und der Museumsdirektion. Sie traf sich mehrmals im Jahr, um über Objektankäufe und Finanzfragen sowie Zielsetzungen in der Sammlungs- und Museumspolitik zu beschliessen, welche die Kompetenz der Museumsdirektion überschritten. Die Protokolle der Sitzungen geben Einblick, welche Themen aus der Museumsarbeit jeweils politisch relevant waren. Doch sie sind keine «Handlungsprotokolle», 107 aus denen Tätigkeiten und Meinungsbildungsprozesse genau nachvollzogen werden könnten. Die referierten Themen und Beschlüsse werden mehrheitlich zusammengefasst wiedergegeben.

Der beschränkten textlichen Basis und der unabgeschlossenen, in die Gegenwart hineinreichenden Quellenbestände werde ich mithilfe eines breiten Quellenbegriffs methodisch Rechnung tragen. Ich orientiere mich dafür an geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit schriftlichen Quellen unterschiedlichster Gestalt und mit Themen befassten, welche nur indirekt über die traditionelle Schriftkultur erschliessbar sind.108 Ich orte und interpretiere die vielfältigen Zeichen(systeme) jenseits des Fliesstextes (Listen, Räume, Dinge), wobei die quellenkritischen Fragen nach dem Materialzustand, den Erhaltungsbemühungen, den Aufbewahrungsorten und der Zugänglichkeit der Quellen besonders gewichtet werden. Die Suche gilt den absichtslos(er)en Spuren und den Überresten. Der Quellenkontext «Museum» ist dafür besonders vielversprechend, weil hier der Archivierungsprozess und damit die Trennung von abgeschlossenen Dokumentationen der Vergangenheit und der gegenwärtigen Praxis fehlt.109 Demzufolge suchte ich die Spuren der Sammlungspraxis nicht nur in den Jahresberichten und den Protokollen der Museumskommission, sondern beispielsweise eben auch in den Objektinventaren. Weiter führte ich drei Leitfadeninterviews mit langjährigen Mitarbeitern wie auch weitere informelle Gespräche mit Mitarbeitenden.110 Zudem arbeitete ich phasenweise in verschiedenen Räumen der Museumsverwaltung, um den aktuellen Umgang mit den (historischen) Museumsakten kennenzulernen (Abb. 5).

Diese «Feldforschungen»111 im Museumsbetrieb ermöglichten den Zugang zu nicht aufgezeichneten Aspekten der Sammlungspraxis der letzten 30 Jahre. Auch manche Sammlungsstücke dienten als Quellen. Nicht anders als die anderen Quellentypen befragte ich sie quellenkritisch und setzte sie in Beziehung zu anderen (schriftlichen) Quellen.112 Das gilt es in Anbetracht des anhaltenden hype um die Dinge zu betonen, bei dem manchmal vergessen geht, dass die Dinge genauso wie Texte stumm sind.113

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