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Die Deutungshoheit der Museumsbehörden

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Wer aber trug die Verantwortung dafür, dass sich die Vorstellungsbilder aus der Gründungszeit des Museums bis Ende der 1920er-Jahre so hartnäckig hielten? Die Parlamentarier machten zwar die Museumsbehörden dafür verantwortlich, dass sich die Situation im Museum nicht zum Besseren wendete und das Platzproblem blieb. Das Verhalten der Museumsvertreter stellten sie aber nicht grundsätzlich in Frage und beschnitten sie weder in ihrer Entscheidungsmacht, noch entzogen sie ihnen die Deutungshoheit über die Sammlung. Dafür waren vermutlich zwei Gründe verantwortlich: Erstens waren die Politiker verhältnismässig wenig interessiert an der Museumsfrage und liessen die Museumsbehörden dementsprechend gewähren. Zweitens stellten sie deren fachliche Kompetenzen nicht in Frage und überliessen es ihnen, die endgültigen Entscheidungen zu treffen.

Das Desinteresse am Museum ist an der Geldverteilung ersichtlich. Wegen der Kriegslage, in der sich Europa während der 1910er-Jahre befand, war generell weniger Geld vorhanden. Die verfügbaren Bundesmittel flossen in andere Projekte als das staatliche Museum: in die Erweiterungsbauten der Eidgenössischen technischen Hochschule und in den Bau einer Landesbibliothek, der heutigen Schweizerischen Nationalbibliothek.149 Der Institutionsetat des Landesmuseums aber war verkleinert worden.150 Hatte in den Anfangsjahren das Parlament nebst dem fixierten Altertümerkredit regelmässig mehrere zehntausend Franken für zusätzliche Ankäufe gesprochen, so war dies nach Beginn des Ersten Weltkriegs nur noch selten der Fall.151 Am Rande bemerkt fällt auf, dass der Erste Weltkrieg in den Debatten über das Landesmuseum und in seinem Sammlungsalltag vollkommen inexistent war. Mit dem Zweiten Weltkrieg verhielt es sich dann ganz anders.

Die Museumsbehörden waren ihrerseits nicht bereit, über die Ziele des Museums und seine Sammlungsinhalte zu diskutieren, obwohl sie intern die Ansicht äusserten, dass es diesbezüglich Erklärungsbedarf gab.152 Insbesondere Hans Lehmann sah es als ein Problem, dass im gesetzgebenden Bundesbeschluss von 1890 kein eigentliches Sammlungsprogramm formuliert worden war. Darin stand ja nur, dass das Schweizerische Landesmuseum dazu bestimmt sei, «bedeutsame vaterländische Altertümer geschichtlicher und kunstgewerblicher Natur aufzunehmen und planmässig geordnet aufzubewahren».153 Der Begriff«bedeutsam» war nach Hans Lehmann «sehr dehnbar».154 Die Museumsbehörden sahen sich als alleinig kompetent, diesen Begriff mit Inhalt zu füllen. Das verdeutlicht folgendes Beispiel: Der freisinnige Zürcher Ständerat Oskar Wettstein forderte im Rahmen der Debatten über das Landesmuseum 1915, dass wasserwirtschaftliche Modelle, die an der Landesausstellung von 1914 in Bern gezeigt worden waren, «als Erzeugnisse unserer Kultur»155 in die Sammlung des Landesmuseums aufgenommen werden sollten.156 Die Kommission des Landesmuseums sprach sich dagegen aus, exemplarische Zeugen der Industrialisierung und Technisierung zu sammeln.

In ihrer offiziellen Begründung erläuterte die Kommission nicht, weshalb ein wasserwirtschaftliches Modell ihrer Meinung nach nicht dem gesetzlichen Sammlungsauftrag des Museums entsprach. Stattdessen griff sie den seitens der Politik vorgebrachten Vorwurf der zu grossen Sammlungsmenge als Gegenargument auf, um die unterschiedlichen Vorstellungen über die Inhalte der Sammlung auszuräumen. Das Mengenargument musste herhalten, um die inhaltlichen Diskussionen abzuwürgen:

«Nach Ansicht der Mehrheit der Kommission gehören nur solche technischen Modelle in das Landesmuseum, diezu [sic!] dessen Sammlungsgegenständen einen Bezug haben. Die Darstellung der Entwicklung von Gebieten der Technik als solcher anzustreben, würde sehr weit führen und kaum in den gesetzlichen Rahmen der Sammlungstätigkeit des Landesmuseums passen. Es würde auch nicht gerade deren Einschränkung fördern, die andererseits verlangt wird.»157

Die Meinungen in der Museumskommission waren in dieser Sache gleichwohl nicht derart eindeutig, wie es gegen aussen scheinen mochte. Das geht aus der internen Besprechung hervor. Als der Schweizerische Wasserwirtschaftsverband für 500 Franken drei Modelle von Wasserrädern offerierte, die in Bern gezeigt worden waren, sprachen sich zwei der fünf anwesenden Kommissionsmitglieder für die Erwerbung aus.158

Josef Zemp (vgl. Abb. 13), der seit der Gründung des Landesmuseums für dieses tätig war, 159 meinte, die Modelle böten durchaus ein «Bild von der Entwicklung der Kultur unseres Landes», wogegen der Kommissionspräsident Eduard Vischer-Sarasin einwandte, sie stünden «nicht in direkter Beziehung» zur Sammeltätigkeit des Landesmuseums.160

Dass sich 1915 die Meinungsverschiedenheiten gerade an Objekten aus der Landesausstellung entzündet hatten, ist bezeichnend. Die vorangehenden Landesausstellungen von 1883 und 1896 waren noch eng mit der Sammlung des Landesmuseums verbunden gewesen: In der Abteilung «Alte Kunst» waren zahlreiche Objekte gezeigt worden, die der Sammlung des Landesmuseums angehörten oder nach der Landesausstellung in sie aufgenommen wurden.161 1914 aber hatten die massgeblichen Museen, darunter auch das Landesmuseum, zum ersten Mal eine Mitarbeit an der Landesausstellung abgelehnt.162 Als Grund wurden Sicherheitsbedenken genannt: Die Museen wollten ihre Objekte nicht mehr in einer «provisorischen, leicht entzündbaren Bude»163 präsentieren, sondern in «stattlichen, feuersichern Gebäuden».164 Es rückten andere Objektgruppen als die alte Kunst in den Interessensfokus und wurden als Zeugnisse der Kulturleistung des Landes angesehen, wie Ständerat Oskar Wettsteins Votum zeigt. Dazu zählte die «Wasserwirtschaft», die zum ersten Mal als eigenständige Thematik an einer schweizerischen Ausstellung präsentiert wurde – ein gemeinsamer Auftritt von Wasserkraftindustrie, Schifffahrt, Meteorologischer Zentralanstalt und Schweizerischer Landeshydrographie.165

Fast hätte sich 1915 am wasserwirtschaftlichen Modell eine Debatte über die inhaltliche Ausrichtung der staatlichen Sammlung entzündet, aber nur fast. Schliesslich überwogen die Stimmen, die für eine Fortsetzung der bisherigen Sammlungspolitik plädierten und damit für eine Sammlung von Objekten, die fern der industriellen Produktion standen.166 Erklären lässt sich dies mit der starken personellen Kontinuität innerhalb der Museumsbehörden und einem ebenso beständigen Wertekanon, den die Politik letztlich nicht in Frage stellte. Vertreter der Museumsbehörden aus der Gründungszeit des Landesmuseums blieben über mehrere Jahrzehnte für dieses tätig. Sie bildeten eine einflussreiche Gruppe von Männern, die miteinander Bildungsweg und Bildungsgut teilten, berufliche, freundschaftliche und/oder verwandtschaftliche Beziehungen pflegten, in verschiedenen Gremien für den Kulturgüterschutz in der Schweiz engagiert waren (z.B. Denkmalpflege, Denkmal-Inventarisation, Gottfried-Keller-Stiftung) und in enger Verbindung zur kunstgeschichtlichen akademischen Lehre standen. Augenfällig wird die Kontinuität besonders bei der Museumsdirektion, die zwar in der Kommission des Landesmuseums kein Stimmrecht hatte, welcher aber in der Vorberatung der Geschäfte eine absolut zentrale Bedeutung zukam.

Hans Lehmann, der zweite Direktor des Landesmuseums, war 1896 als wissenschaftlicher Assistent des ersten Direktors, Heinrich Angst, angestellt worden. Zuvor hatte er, nach dem Studium der Kunstgeschichte und der Germanistik in Basel und Leipzig, als Bezirksschullehrer im Aargau unterrichtet. Seine Assistenz wurde 1903 in die Stelle eines Vizedirektors umgewandelt, und als Angst ein Jahr später zurücktrat, übertrug der Bundesrat Lehmann die Gesamtleitung des Museums.167

Der «Kontinuitätsfaden» lässt sich indessen noch weiterspinnen: Heinrich Angst trat nach seinem Rücktritt als Direktor nicht einfach in den Ruhestand, sondern wurde Mitglied der Landesmuseumskommission und bestimmte so die Geschäfte weiterhin mit.168 Auch pflegte er geschäftliche Beziehungen mit dem Landesmuseum: Wenn er «grössere Barmittel»169 brauchte, verkaufte er ihm Objekte aus seiner Privatsammlung, die teilweise bereits als Depositen im Landesmuseum ausgestellt waren. Er hatte vor seiner Direktorenzeit eine Privatsammlung anzulegen begonnen, als er noch als Kaufmann für ein Textilhaus gearbeitet hatte.170 Aus heutiger Perspektive erscheinen diese Verkäufe als eine höchst problematische Vermischung privater und öffentlicher Interessen. Damals aber bewunderte man Angsts kaufmännisches Geschick im Handeln mit Altertümern und seine Kenntnisse des Kunstmarkts. Ihretwegen war er denn auch zum Direktor ernannt worden. Das Tempo, mit dem er seine eigene Sammlung vergrösserte, wie auch sein Engagement für ein Nationalmuseum hatten zahlreiche Parlamentarier beeindruckt.171 Nur als Angst nach seinem Rücktritt als Direktor die Zahlungsmodalitäten diktieren wollte, kam es innerhalb der Museumskommission zu Unstimmigkeiten. Angst verkündete daraufhin verärgert, er werde künftig keine Kaufgeschäfte mehr vermitteln zwischen dem Landesmuseum und seinen früheren Geschäftspartnern. Zudem begann er als Kaufkonkurrent des Landesmuseums aufzutreten. Für seinen Nachfolger Lehmann bedeutete der Verlust der Kontakte Schwierigkeiten beim Erwerb von Sammlungsstücken. Doch die Geschäftsbeziehungen mit Angst wurden weiterhin gepflegt. Man kaufte von ihm Objekte bis zu seinem Tod im Jahr 1922.172

Die geschilderten Beziehungsnetze trugen dazu bei, dass die Museumsbehörden nicht für rasche Veränderungen sorgten. Noch 1924, beim vierten Vorstoss zur Raum-Menge-Problematik aus den eidgenössischen Räten, liessen die Museumsbehörden nach einigen Stellungnahmen und internen Besprechungen verlauten:


Abb. 13: Hans Lehmann und Josef Zemp (rechts), Schweizerisches Landesmuseum Zürich, ohne Jahr, SNM Dig. 28921.

«Man fand jedoch die Sache nicht wichtig genug, um sie im Schosse der Landesmuseums-Kommission neuerdings zu behandeln.»173

Das Parlament verlangte indessen auch keine vermehrte Mitbestimmung.174 Es gelang den Museumsbehörden dank ihrem Renommee, das in den 1890er-Jahren zentralistisch aufgebaute staatliche Museum gegen die vielfältigen Bedenken Anfang des 20. Jahrhunderts zu verteidigen.

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