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Die Protagonisten: Menschen und Dinge

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Das Museum versammelt Menschen genauso wie Dinge.21 Der Geschichte der Sammlungspraxis gehören demnach zwei Gruppen von Protagonisten an: die Sammler/Sammlerinnen und die Sammlungsstücke. Ich will ihre beiden Rollen in der Praxis vorstellen.

Ganz unterschiedliche Sammlerinnen und Sammler waren an der Sammlungspraxis beteiligt: Museumsdirektoren, Donatorinnen, Antiquitätenhändler, Mitglieder der Bundesbehörden, Handwerker, Restauratoren, Konservatoren und so weiter. Die Konservatoren (bis 1961 waren es ausschliesslich Männer) waren diejenigen, die den Museumsdirektor bei der Objekterwerbung unterstützten, die Sammlungstücke inventarisierten, ordneten und halfen, sie auszustellen. Üblicherweise verfügten sie über eine akademische Ausbildung in Kunstgeschichte oder Ur- und Frühgeschichte, später auch über andere geschichtswissenschaftliche Ausbildungen.22 Die Konservatoren wurden auch einfach nur «wissenschaftliche Beamte»23 genannt und an anderen Museen Kustoden.24 Ab den 2000er-Jahren wurden sie dann als Kuratoren bezeichnet. Die Restauratoren wurden zuerst «technische Beamte»25 und dann später «Konservatoren/Restauratoren»26 genannt. Sie hatten anfänglich eine künstlerische oder handwerkliche Ausbildung, zu der sie autodidaktisch die nötigen Verfahren und Handgriffe für den Museumsbetrieb dazulernten; später gab es die Möglichkeit einer professionellen Ausbildung als Restaurator, als Restauratorin.27 Mich interessiert ihr spezifisches Handeln als Zuständige für die staatliche Sammlungstätigkeit. Ich werde mich nicht speziell mit den Einzelbiografien der Sammlerinnen und Sammler auseinandersetzen. Ihr Handeln hat persönliche biografische sowie gemeinschaftliche und gesellschaftliche Anteile: Der persönliche Anteil betrifft die individuell beschränkte Wahrnehmung und das limitierte Wissen der einzelnen Sammlerinnen und Sammler. Gemeinschaftlich war ihre Tätigkeit, weil sich ihre Handlungen in der Interaktion, in Aushandlungsprozessen mit der sozialen Umgebung, in gemeinsamen Praxiszusammenhängen und in Handlungsgefügen abspielten. Gesellschaftlichen Charakter hatten ihre Aktivitäten, weil ihren Handlungen ein staatlicher Auftrag zugrunde lag, der einer regelmässigen politischen Legitimierung bedurfte.28


Abb. 4: Schweizerisches Landesmuseum in Zürich, in: Hans Lehmann: Offizieller Führer durch das Schweiz. Landesmuseum, Zürich um 1898, SNM Scan.

Im Anschluss an bestehende Theoreme stellt sich dabei die Frage, mit welchen praktischen Fähigkeiten, stillen Fertigkeiten (tacit skills)29 und fachlichen Kompetenzen die am Sammeln Beteiligten ausgestattet waren, wie auch die Frage, über welches Handlungswissen (Wissen-wie) und über welchen Habitus (Bourdieu) diese Personen verfügten.30

Die Praxis besteht aus Handlungsgepflogenheiten, Ritualen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Wissen.31 Aber im Handeln vollzieht sich nicht einfach nur das, was die Sammlerinnen und Sammler vorab gedacht und entschieden haben, wie es etwa die Soziologen Karl Hörning und Julia Reuter beschreiben.32 Vielmehr ist hervorzuheben, dass der Gebrauch von Dingen sowie von Wörtern, Bedeutungen, Sinn, Ordnungen, Ideen, Wissen und Strukturen auch Praktiken legitimieren, verändern oder neu schaffen kann. Diese sind in die Tätigkeiten eingebunden und befinden sich nicht ausserhalb von ihnen. Das ist die Erkenntnis der Vertreterinnen und Vertreter der wissenschaftshistorischen Forschungen sowie ein Ergebnis aus den Bereichen der jüngeren mikrogeschichtlichen Forschung und der historischen Anthropologie.33

Jakob Tanner schlägt ein praxeologisches Geschichtsverständnis vor, das Wiederholung und Wandel zusammen denkt unter dem Gesichtspunkt der beiden Konzepte «Ereignis» und «Aneignung». Die Wiederholung bildet erstens die Möglichkeitsbedingung für das singuläre Erlebnis. Zweitens entsteht aus ihr die Veränderung, weil alltägliche Routinen immer wieder angeeignet und gefestigt werden müssen, die Aneignung aber keine identische Wiederholung oder exakte Kopie sein kann, sondern immer auch Neues mit sich bringt.34 Eine praxeologisch orientierte geschichtswissenschaftliche Arbeit muss folglich Kontinuität und Wandel berücksichtigen: die Veränderungen und ungewöhnlichen Handhabungen der Protagonisten wie auch die Wiederholungen, die routinierten Aktivitäten im Sammlungsalltag. Denn Praxis ist zugleich wiederholend und erneuernd, zugleich regelmässig und regelwidrig, zugleich strategisch und zufällig.35

Zuletzt ist zu den Sammlerinnen und Sammlern als Protagonisten noch zu bemerken, dass die wenigsten Forschungsarbeiten sich eingehender mit der Gruppe der Museumskonservatoren und -restauratoren befassten, die im musealen Sammlungsalltag eigentlich am meisten mit der Sammlung zu tun haben. In der umfangreichen Forschung zu Sammlerpersönlichkeiten geht es häufig um Privatsammlerinnen und -sammler oder um die Donatoren und Donatorinnen und deren individuellen Einsatz für die öffentlichen Museen. Wenn einmal von den Museumsangestellten die Rede ist, dann wird entweder eine Direktorenbiografie erzählt oder das Kollektiv betont und beschrieben, wie mehrere Personen zusammen eine Sammlung aufgebaut haben, für eine Gemeinschaft und in ihrem Namen.36 Die Museumsangestellten des 20. und 21. Jahrhunderts passen aber weder zum Bild der Privatsammler als Besitz ergreifende und Objekte hortende Spezies, 37 noch entsprechen sie dem Typus des Donators oder der Donatorin, die sich für die öffentlichen Museen mit Objekt- und Geldschenkungen und Freiwilligenarbeit engagieren und deren in der Logik des Hortens rätselhafter Einsatz gemeinhin damit erklärt wird, dass sie sich davon als Gegenwert «symbolisches Kapital» (Bourdieu) erhoffen.38 Mit meiner Arbeit will ich ein differenziertes Bild der Museumsangestellten und ihrer Tätigkeiten aufzeigen.

Die Sammlungspraxis wurde aber nicht nur von Menschen geprägt, sondern auch von den gesammelten Dingen. In den soziologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Studien zur Museums- und Sammlungsgeschichte wurde den gesammelten Dingen lange bloss eine passive Rolle zugebilligt als Zeichenträger, welchen von den Sammlerinnen und Sammlern oder den Museumsbesuchenden Bedeutungen zugeschrieben oder abgesprochen wurden.39 Die wissenschaftsgeschichtlichen Ansätze, auf die ich mich beziehe, machen im Gegensatz dazu auch auf den unabdingbaren Anteil der Dinge, Materialien, Techniken und Medien beim Generieren von Erkenntnissen, Bedeutungen und Wissen aufmerksam. Diese müssen verkörpert und vervielfältigt werden, um einer Gesellschaft verfügbar zu sein. Sie formieren sich, indem sie zwischen verschiedenen Bedeutungsund Wissensgebieten und gesellschaftlichen Sphären zirkulieren, an verschiedenen Orten aufgegriffen sowie um- und neugestaltet werden. Die Dinge, Materialien, Techniken und Medien sind dabei nicht nur Träger von Bedeutungen, die ihnen zugedacht oder aberkannt werden. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Bedeutungen, Wissen und Erkenntnisse sich formieren und zirkulieren können.40 Für die Sammlungspraxis heisst dies, dass die Gegenständlichkeit der Dinge, also ihr Volumen, ihre Form, ihre Grösse und ihre Materialität, die Möglichkeiten der Sammelpraxis mitbestimmen. Ihr entsprechend werden etwa Aufbewahrungs- und Ausstellungsräume konzipiert, Transporte organisiert und Klassifikationen vorgenommen. Weiter haben die Dinge ihre eigene Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, welche die Praxis prägen. Die Materialität der Sammlungsstücke verändert sich, sie kann zerfallen und vergehen.

Zur Untersuchung des Anteils der Dinge an Praktiken eignet sich als Denkfigur nach wie vor besonders Bruno Latours Konzept der «anthropologie symétrique», 41 auf dem seine Studien beruhten, die er in den 1980er- und 1990er-Jahren verfasste. Der Wissenschaftsforscher zeigte auf, wie Dinge, Instrumente, Werkzeuge und Apparate innerhalb der wissenschaftlichen Praxis wichtige «Akteure»42 werden bei Erkenntnisprozessen. Ja, Bruno Latour ging damals so weit, zu sagen, dass die Dinge den Menschen gleichwertige Handlungspartner seien. Mit dem Konzept der «symmetrischen Anthropologie» versuchte er eine Alternative zum von ihm kritisierten modernistischen Fortschrittsparadigma zu entwickeln.43 Latour fragte nach der Möglichkeit einer Anthropologie, die nicht nur das Wissen über die Dinge (das ist das Moderne), sondern auch die in den Objekten verborgenen Informationen über den Menschen berücksichtigen kann. Eine solche Anthropologie wäre nach ihm symmetrisch, und nur die Betrachtung beider Informationsrichtungen würde eine Objektivität ermöglichen, die dem Selbstanspruch der Moderne gerecht wird.44 Latour wollte damit die herkömmliche Trennung von forschendem Subjekt und erforschtem Objekt aufheben zugunsten einer Sichtweise, die das Forschungsgeschehen als «ganzheitlichen» Prozess versteht.45 Entscheidend seien seiner Meinung nach die Relationen, Austauschprozesse und Vermischungen, die stattfinden zwischen den Menschen und den «nicht-menschlichen Wesen», wie er die Dinge nennt.46

Sein Konzept der «symmetrischen Anthropologie» ist aus den folgenden Gründen immer noch interessant für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung einer Sammlungspraxis: Erstens ist es offener als andere Ding-Konzepte. Das Konzept von Latour beschränkt sich nicht auf bestimmte Praxisfelder oder Arten von Dingen, wie es museums- und sammlungstheoretische Ansätze vorschlagen. Diese qualifizieren Sammlungsstücke in der Regel als statische Objekte innerhalb eines Sammlungsverbandes, ohne zu berücksichtigen, dass die Sammlungsstücke verschiedene Stationen im Sammlungsalltag durchlaufen und sich dabei in Interaktion mit den Sammlerinnen und Sammlern auch verändern. Vertreterinnen eines solchen Ansatzes sind beispielsweise Anke te Heesen und Petra Lutz. Sie definieren «museale Dinge» als Objekte, die in das Museum kommen, «wenn sie abgeschlossen und ‹fertig› sind, mögen sie noch so bruchstückhaft oder zerstört aussehen».47 Dinge würden im Museum nicht generiert, sondern zueinander (und zum Betrachter) in Position gebracht. Im Museum habe man es mit einem materiellen Gegenüber zu tun, «das man in seiner Substanz nicht verändert (lediglich weiter konserviert), aber in seiner Wirkung und Bedeutung in eine bestimmte Richtung lesen und lenken kann».48 In ihrer Definition geht es te Heesen und Lutz vor allem darum, die «musealen Dinge» vom Konzept der «epistemischen Dinge», 49 das der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger vorgeschlagen hat, abzugrenzen.50 Im Museum seien «Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit»51 die bevorzugten Kriterien, schreiben sie, nicht aber bei den epistemischen Dingen. Die epistemischen Dinge sind nicht unbedingt eine abgrenzbare, dreidimensionale, materiell und visuell zu identifizierende Entität wie die musealen Dinge, sondern können ein Konglomerat von Entwicklungen und Konjunkturen, von Institutionen und Instrumenten sein, bei denen das Objekt das Zusammenspiel von Erkenntnis suchenden Menschen und den materialen Bedingungen einer wissenschaftlichen Praxis bezeichnet. Diese Dinge seien in erster Linie im Forschungsprozess epistemisch, im Nachhinein nicht mehr.52

Ganz klar, die Dinge im Museum sind nicht die Gleichen wie die in biowissenschaftlichen Laborarbeiten involvierten Objekte. Doch die Sammlungsstücke sind nicht «abgeschlossenen». Am augenfälligsten ist es bei der materiellen Substanz der Objekte. Die Materialien altern. Gerade bei den verschiedenen Praktiken, die sich um den materiellen Erhalt der Dinge kümmern, den Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten, geht es nicht ohne Eingriffe in die Materialität der Dinge und damit auch nicht ohne Substanzveränderungen.53 Deshalb ist es sinnvoll, ein Dingkonzept wie dasjenige von Bruno Latour zu wählen, das den Dingen nicht von vornherein bestimmte Eigenschaften wie Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit zuschreibt.54 Der zweite Grund, der Latours Konzept für das Verfassen einer Sammlungsgeschichte interessant macht, ist der Perspektivenwechsel, den er mit der symmetrischen Anthropologie vorschlägt: Wenn man die Sammlungsstücke statt (nur) als Objekte auch als Subjekte betrachtet und die Praxis von den Sammlungsstücken her zu beleuchten versucht, so fällt der Kurzschluss weg, dass sie immer auch der Gegenstand, das Ziel und der Sinn der Sammlungspraxis seien. Der Perspektivenwechsel bietet die Grundlage für die offen formulierten Fragen danach, welche Praktiken es gab und was dabei entstand. Der Blick wird auf das Dazwischen gelenkt, zwischen den Menschen und den Dingen, Menschen und Menschen, Dinge und Dinge, «in the blind spot», 55 wie es Latour nennt. Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Vorgänge, Verbindungen und Beziehungen in diesem Dazwischen zu betrachten.56 Anders als in der praxeologisch orientierten Forschung der letzten Jahre stehen folglich in dieser Arbeit nicht die Dinge im Fokus, sondern die Praxis selbst.57

Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Verbindungen und die Konstellationen zwischen den Menschen und den Dingen zu betrachten. Der Perspektivenwechsel ist aber immer nur als Denkfigur möglich. Im Gegensatz zu Latour will ich nicht von den Dingen als Akteuren sprechen.58 Die Dinge tun nichts, als da zu sein, und je nach materieller Substanz verändern sie sich, zersetzen sie sich oder zerfallen sie schneller oder langsamer. Das alles ist nicht wenig, wenn man sich die beträchtliche Überzahl der Dinge gegenüber den Menschen vor Augen hält, die in die Sammlungspraktiken am Nationalmuseum involviert sind. Sie sind Teil der Praxis, und ihre Gegenständlichkeit schafft bestimmte Handlungsmöglichkeiten.59 Die begriffliche Konsequenz davon ist, dass ich mich auf keinen fixen Terminus beschränken werde, um das Sammlungsgut des Nationalmuseums in toto zu benennen. Stattdessen wähle ich je nach Konstellation die Bezeichnung: Wenn es um unspezifische Beschreibungen geht, spreche ich von Dingen; will ich den Aspekt des Sammelns betonen, von Sammlungsstücken; und beschreibe ich eine Objekt-Subjekt-Konstellation, wähle ich den Begriff Objekt. Weiter werde ich besonders auf die Unterscheidung zwischen Ding und Materialität achten, um nicht dem seltsamen «Materialismus» zu verfallen, der teilweise in der jüngeren Forschung zu beobachten ist. Hier werden die Dinge oftmals mit ihrer Materialität, ihren stofflichen, materialen Eigenschaften gleichgesetzt, als ob sie «materieller» als Menschen wären. In den theoretischen Konzeptionen fällt eine Unschärfe auf zwischen den Begriffsfeldern Material/Materialität/Stoff und Ding/Gegenstand/Objekt.60 Materialität erscheint dann als der Gegenpol des Semantischen. Aber genauso wenig wie beim menschlichen Körper kann bei den Dingkörpern gesagt werden, dass ihre materielle Substanz allein eine absolute physikalische oder biologische Grösse sei.61 Es gilt darauf zu achten, dass die Materialität der Dinge hergestellt und kulturell geformt ist; sie ist in Praktiken eingebunden und mit anderen Materialitäten, Dingen oder Körpern verbunden.62

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