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Das Ideal einer vollständigen Sammlung von Dingen der Vergangenheit

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Im 19. Jahrhundert etablierte sich ein neues Verständnis der Geschichte. Geschichte sei ein Lehrstück für gegenwärtige Prozesse. Dem Museum wurde dabei die Rolle einer Geschichtsvermittlerin eingeräumt.89 Die Vergangenheit wurde verstanden als ein in sich abgeschlossener Zeitraum, dessen materielle Hinterlassenschaft die Museen zu bewahren hatten. Es ging darum, ein umfassendes Bild einer Vergangenheit zu vermitteln, deren Anfang und Ende fixiert war. 1889 wurde im Programm für ein eidgenössisches Landesmuseum formuliert:

«Der Zweck des Landesmuseums ist, ein möglichst vollständiges Bild von der Kultur- und Kunstentwicklung auf den Gebieten der heutigen Schweiz von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu geben.»90

Entsprechend dem Vorstellungsbild einer abgeschlossenen Vergangenheit nahm man auch an, dass die Anzahl der Objekte, welche der Vergangenheit zugerechnet wurden, endlich und daher kalkulierbar war. Der Direktor des Landesmuseums, Hans Lehmann, schrieb 1927:

«[A]uf der ganzen Welt wird weiter gesammelt, solange überhaupt noch eine Möglichkeit besteht, die Museen auszubauen, da naturgemäss der Bestand an Altertümern mit jedem Jahre abnimmt.»91

In dieser Logik war ein Museum erfolgreich, wenn es möglichst viel des knappen Gutes noch zusammentragen konnte. Wie es die Behörde des Landesmuseums ausdrückte: Es ging darum, «de[n] letzte[n] Rest unserer Altertümer […] für unser eigenes Land zu retten»92 – also zu retten, was noch zu retten war.93 Aufgrund dieses Vergangenheitsbildes wurde die Quantität als eine Qualität angesehen. Museen wurden als Bewahrungsstätten einer Welt verstanden, die im Verschwinden begriffen war, fern gelegen von den grossen Warenströmen und der verschärften «Expansion der Gegenstandswelt», 94 die mit der industriellen Produktion entstanden war.95 Die Museumsbehörden sahen es als ihre Pflicht, die begonnenen Sammlungen «möglichst zu vervollständigen».96 Entsprechend war man bestrebt, «Lücken» zu füllen. Die Finanzdelegation verlangte 1910 «ein Masshalten im Ankaufe von Gegenständen zweiter und dritter Qualität», 97 um das Raumproblem zu lösen. Die Museumsbehörden antworteten, ihre Ankaufspraxis entspreche den gängigen, von Fachleuten gutgeheissenen Praktiken.98 Es sei legitim, qualitativ weniger hoch eingestufte Dinge zu kaufen, wenn diejenigen «ersten Ranges, welche geeignet wären, die Lücken zu füllen, überhaupt nicht mehr erhältlich sind».99

Dass die vorhandene Sammlung das Mass aller kommenden Dinge ist, sei typisch für kulturhistorische Museen, schreibt Sharon Macdonald in ihrem Aufsatz über die Sammlungspraktiken von Museen.100 Deren Bestrebungen unterschieden sich von denen anderer Museen, die etwa auf den Gebieten der Physiologie, Pathologie und Anatomie sammelten. Wie Anke te Heesen und E.C.Spary schreiben, verabschiedete man sich hier bereits im 19. Jahrhundert von der Idee der Vollständigkeit.101 Beim Landesmuseum hielt sich die Vorstellung aus der Gründerzeit, ein vollständiges Bild von der schweizerischen Kultur zu vermitteln, weit über 1900 hinaus.102 Dies obwohl in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Sammeltätigkeit der Anfangszeit zunehmend kritisch gesehen wurde. Nach Hans Lehmann hatten damals «keine klaren Vorstellungen»103 bestanden, was die Sammeltätigkeit und die Entwicklung des Museums anbelangte; Gesetze und Verordnungen seien erst auf die Praxis gefolgt und unpräzise formuliert worden.104 Dementsprechend sei der Inhalt der Sammlung gleich wie bei allen anderen historischen Museen «ein mehr oder weniger durch Zufall zusammengewürfelter».105 Die historischen Sammlungen enthielten nur das, «was Männer, die für die Vergangenheit ihrer engeren Heimat und deren Hinterlassenschaft begeistert waren, aus Liebe zur Sache und ohne öffentliche Unterstützung mit Zuhülfenahme der alten Kunst- und Raritätenkammern zusammenbrachten».106 So lange aber die Museumsbehörden auch im neuen Jahrhundert daran festhielten, dass das Vorhandene vervollständigt werden müsse, waren genau diese «zufällig» begonnene Sammlung und die früher getroffenen Entscheidungen der unumstössliche Bezugsrahmen für die laufende Sammeltätigkeit. Die zeitgenössische Sammlungspraxis wurde von der Präsenz der früher erworbenen Sammlungsstücke geprägt. Doch wie die Diskussionen von Mannheim und die Debatten um das Landesmuseum zeigen, hatte man sich hinsichtlich der «Menge an Vergangenheit» verkalkuliert: Spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts war klar, dass die Menge der zu bewahrenden Objekte im Verhältnis zu den dafür vorgesehenen Ausstellungsräumen immens war und die Räume dementsprechend zu klein. In den Museen hatte man es mit Massen von Dingen zu tun, die Warenströmen nicht unähnlich waren und ihre Räume regelrecht überfluteten.

Anhäufen, forschen, erhalten

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