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Sünde, Gnade und Freiheit
ОглавлениеDas Terrain, auf dem Erasmus die Auseinandersetzung mit Luther suchte, war dessen Haltung zur Frage der Willensfreiheit. Luthers diesbezügliche Lehre war bereits das Thema einer der Thesen gewesen, die er 1517 an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg angeschlagen hatte. Zu den von Papst Leo X. verurteilten Behauptungen gehörte auch Luthers These, der freie Wille nach der Sünde sei nur eine leere Behauptung. Als Antwort hierauf verschärfte Luther seine These. Der freie Wille sei eine Fiktion und ein Ausdruck ohne Entsprechung, denn es stehe in keines Menschen Macht, irgendetwas Gutes oder Böses zu wollen (WA VII. 91).
In seiner Streitschrift De libero arbitrio (Über den freien Willen) stellt Erasmus eine Vielzahl von Texten des Alten und Neuen Testaments sowie der Kirchenlehrer und aus kirchlichen Dekreten zusammen, um zu beweisen, dass der Mensch einen freien Willen habe. Das ständig in neuer Form vorgebrachte Argument lautet, dass all die Aufforderungen, Versprechungen, Befehle, Drohungen, Vorwürfe und Verdammungen, die in den heiligen Schriften zu finden seien, ihren Sinn verlieren würden, wenn gute und schlechte Handlungen durch Notwendigkeit und nicht durch freien Willen bestimmt würden. Fragen der Bibelinterpretation stehen sowohl im Zentrum von Erasmus’ Buch als auch von Luthers wesentlich umfangreicherer Antwort De Servo Arbitrio.
Philosophisch betrachtet ist Erasmus’ Argumentationsweise wenig subtil. Er bezieht sich unter anderem auch auf Vallas Dialog über den freien Willen, ohne über ihn hinauszugehen. Er wiederholt jahrhundertealte Gemeinplätze scholastischer Debatten, die unzureichende Antworten auf das Problem darstellen, wie die göttliche Voraussicht mit der Freiheit des Menschen zu vereinbaren ist. So besteht er beispielsweise darauf, dass selbst Menschen Vieles über das wissen, was sich in der Zukunft ereignen wird, wie zum Beispiel Sonnenfinsternisse. Eine Theorie der Willensfreiheit, die uns nicht mehr Freiheit lässt als den Sternen auf ihrer Bahn, ist jedoch keine sonderlich robuste Antwort auf Luther. Erasmus ist jedoch darum bemüht, philosophische Schwierigkeiten zu vermeiden. Es sei ungläubige Neugier, wenn wir – wie die Scholastiker – fragen, ob das Vorauswissen Gottes kontingent oder notwendig ist.
Luther, selbst kein Freund der Scholastiker, war empört hierüber. Wenn dies ungläubig, neugierig und überflüssig sei, fragt er: Was sei dann frommes, ernsthaftes und nützliches Wissen? Gott, behauptet Luther, sehe keine zufälligen Ereignisse vorher. Er sehe die Dinge vorher, bezwecke und tue alle Dinge nach seinem unwandelbaren, ewigen, unfehlbaren Willen. Dieser Blitz werfe jeden freien Willen zu Boden und schlage ihn in Stücke (WA VII. 615).
Luther vertritt die Auffassung, die das Konzil von Konstanz Wyclif zugeschrieben hatte, dass alles mit Notwendigkeit geschieht. Er unterscheidet allerdings zwischen zwei Arten von ‚Notwendigkeit‘. Der Wille des Menschen unterliege der „Notwendigkeit der Unveränderlichkeit“: Er verfüge nicht über die Kraft, sich selbst von seiner angeborenen Tendenz zum Bösen zu befreien. Einer anderen Form der Notwendigkeit, nämlich dem Zwang, unterliege er jedoch nicht. Ein Mensch, dem es an der Gnade fehle, tue spontan und freiwillig Böses. Der menschliche Wille ist wie ein Lasttier: Wenn Gott es reitet, will es wie Gott will und geht hin, wo er will. Reitet ihn der Teufel, geht es hin, wo der Teufel will. Es hat nicht die Freiheit, seinen Reiter zu wählen.
Luther zieht es vor, auf die Bezeichnung „freier Wille“ ganz zu verzichten. Andere Autoren vor und nach ihm sahen die Spontaneität, die er akzeptiert, als das Einzige an, was mit diesem Ausdruck wirklich gemeint sein kann.3 Luthers Hauptanliegen bestand darin, die Freiheit des Willens in Angelegenheiten zu bestreiten, die mit dem Unterschied zwischen Erlösung und Verdammung zu tun hatten. In anderen Fällen scheint er die Möglichkeit einer echten Entscheidung zwischen alternativen Handlungsoptionen anzuerkennen. Der Mensch hat zwar keinen freien Willen bezüglich dessen, was über ihm ist, jedoch bezüglich dessen, was unter ihm ist. So kann er beispielsweise unter einer Vielzahl möglicher Sünden wählen (WA VII. 638).
Die Bibel, wie Erasmus umfassend gezeigt hatte, enthält zahlreiche Texte, die davon ausgehen, dass der Mensch sich frei entscheiden kann, und darüber hinaus viele Passagen, die verkünden, dass das Schicksal der Menschen von Gott bestimmt wird. Im Laufe der Jahrhunderte hatten scholastische Theologen versucht, diese sich gegenseitig widersprechenden Behauptungen dadurch miteinander in Einklang zu bringen, dass sie sorgfältige Unterscheidungen einführten. Luther sagte, es sei viel Mühe und Arbeit darauf verwandt worden, die Güte Gottes zu entschuldigen und den Willen des Menschen anzuklagen. Man unterscheide zwischen dem gewöhnlichen und dem absoluten Willen Gottes, zwischen der Folgenotwendigkeit und der Notwendigkeit der Folge und vielem anderen. Doch werde hierdurch nichts anderes erreicht, als den Ungelehrten etwas vorzumachen. Wir sollten Luther zufolge keine Zeit mit dem Versuch verschwenden, die Widersprüche zwischen verschiedenen biblischen Texten aufzulösen. Wir sollten eine extreme Position beziehen: die Freiheit des Willens vollständig leugnen und alles Gott zuschreiben.
Eine Abneigung gegen scholastische Spitzfindigkeiten war keineswegs nur für Luther typisch: Erasmus und Thomas Morus teilten seine Haltung. Thomas Morus schaltete sich in den Streit über die Freiheit des Willens in seiner Auseinandersetzung mit Luthers englischem Bewunderer ein, dem Bibelübersetzer William Tyndale. In seiner Argumentation gegen Luthers Determinismus verwendet Thomas Morus eine Strategie, die auf Erörterungen des Schicksals zurückgehen, die in der stoischen Philosophie geführt wurden.
„Einem ihrer Sekte wurde in Almayne Gleiches mit Gleichem vergolten. Als er einen Mann beraubt hatte und vor die Richter gestellt wurde, bestritt er seine Tat nicht, sondern sagte, es sei sein Schicksal, sie zu begehen, und dass sie ihn daher nicht beschuldigen könnten. Sie antworteten ihm, dass es nach seiner eigenen Lehre – wenn es sein Schicksal sei zu stehlen, und sie ihn deshalb nicht anschuldigen könnten – ihr Schicksal sei, ihn zu hängen, weshalb er sie dafür ebensowenig anschuldigen könne.“ (Morus 1931, 196)
Die Behauptung, dass alles entschuldbar ist, wenn der Determinismus wahr ist, würde Luther zweifellos verworfen haben, da er glaubte, dass Gott Sünder gerechterweise straft, obwohl sie nicht die Freiheit hatten, nicht zu sündigen.
Aus philosophischer Sicht wiederholen diese Debatten über Freiheit und Determinismus aus der Anfangszeit der Reformation lediglich Argumente, die in der antiken und mittelalterlichen Philosophie allgemein bekannt waren. Andererseits liefern sie ein Beispiel für die negative Seite der humanistischen Erziehung. In der Scholastik trug man Streitigkeiten, wenn es dabei auch manchmal sehr trocken zuging, in der Regel auf nüchterne und höfliche Art aus. So war etwa Thomas von Aquin stets darum bemüht, den Thesen seiner Gegner die bestmögliche Deutung zu geben. Etwas von diesem friedliebenden Geist teilte Erasmus mit Thomas von Aquin. Luther und Thomas Morus griffen sich jedoch gegenseitig mit bitteren Schmähungen an, die dadurch noch ordinärer wurden, dass sie in elegantem Latein formuliert waren. Die kämpferischen Gepflogenheiten der humanistischen Streitgespräche waren einer der Faktoren, die zur Verhärtung der Positionen auf beiden Seiten der reformatorischen Spaltung führten.