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Autorität und Gewissen
ОглавлениеDer Streit über die Freiheit des Willens setzte sich fort und verzweigte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts und noch darüber hinaus. Wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, bereicherten raffinierte Teilnehmer die philosophische Diskussion des Themas durch subtilere Argumente. Für unsere gegenwärtige Darstellung ist das wichtigste neue Element, das von Luther in die Debatte eingeführt wurde, eine generelle Feindseligkeit nicht nur gegen die Scholastik, sondern gegen die Philosophie selbst. Er beschuldigte Aristoteles, und insbesondere seine Ethik, der übelste Feind der Gnade zu sein. Seine Verachtung für die Kraft der durch keine Offenbarung belehrten Vernunft entsprang seiner Überzeugung, dass die menschliche Natur durch den Sündenfall Adams völlig verdorben und ohnmächtig geworden sei.
Einerseits war Luthers Skepsis gegenüber der philosophischen Spekulation die Fortsetzung einer Tendenz, die bereits in der mittelalterlichen Scholastik recht stark war. Seit Scotus hatte der Widerwille der Philosophen gegen die Behauptung, dass sich allein mit der Vernunft das Wesen der göttlichen Eigenschaften, der Inhalt der göttlichen Gebote und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele beweisen ließen, stetig zugenommen.4 Das Gegengewicht zu ihrem wachsenden philosophischen Skeptizismus war ihre Anerkennung der Autorität der Kirche, die in der christlichen Tradition und den Verkündigungen der Päpste und Konzile vorlag. Diese Haltung kommt zu Beginn von Erasmus’ Abhandlung zum Ausdruck. Er habe eine so große Abneigung gegen Behauptungen, dass er die Ansichten der Skeptiker vorziehe, wo immer es die unantastbare Autorität der Schrift und die Entscheidungen der Kirche zuließen.
Indem die Reformation Luthers dieses Gegengewicht wegnahm, gab sie den skeptischen Tendenzen Auftrieb. Gewiss: Die Bibel wurde beibehalten und ihre Rolle als entscheidende Autorität betont. Was die Lehren der Schrift betraf, so bestand Luther darauf, dass der Christ nicht die Freiheit habe, ihnen gegenüber eine skeptische Haltung einzunehmen (WA VII. 604). Doch sollte der Inhalt der Bibel nicht mehr dem professionellen Scharfsinn philosophisch geschulter Theologen unterworfen werden. Luther zufolge verfüge jeder Christ über die Kraft, zu erkennen und zu beurteilen, was in Fragen des Glaubens richtig und falsch sei. Tyndale brüstete sich mit der Behauptung, seine Übersetzung gebe einem Bauernjungen ein besseres Verständnis der Bibel, als es der gelehrteste Geistliche besitze. Der Pessimismus bezüglich des moralischen Vermögens des geschulten Intellekts, der der Gnade entbehrte, ging Hand in Hand mit einem Optimismus bezüglich der intellektuellen Fähigkeit des ungeschulten, aber durch den Glauben erleuchteten Verstandes. Der von diesen beiden Haltungen ausgehende Druck führte dazu, dass die Bedeutung der Philosophie unter frommen Protestanten beträchtlich zurückging.
Luthers Problem bestand darin, dass das Gewissen der Einzelnen, ohne die Einschränkung einer allgemeinen Autorität und die Bereitschaft, den Glauben rationalen Schiedssprüchen zu unterwerfen, eine Vielzahl von Glaubensüberzeugungen hervorbrachte. Auch französische und schweizerische Reformatoren, wie beispielsweise Johannes Calvin und Huldrych Zwingli, verwarfen wie Luther die päpstliche Autorität. Allerdings teilten sie nicht sein Verständnis der Gegenwart Christi im Abendmahl und der Ratschlüsse, durch die Gott Menschen erwählt. Wie Luther verlegte Calvin das letzte Kriterium religiöser Wahrheit in die Seele des Einzelnen: Jeder gläubige Christ erlebe in sich selbst eine wunderbare Überzeugung von der himmlischen Offenbarung, die eine größere Sicherheit gewähre, als irgendein Vernunftschluss jemals geben könne. Doch woran ließ sich erkennen, welches die gläubigen Christen sind? Wenn man nur die Reformierten dazuzählte, setzte Calvins Kriterium als wahr voraus, was erst zu beweisen war. Zählte man hingegen alle Getauften hinzu, so führte dies zu einer Anarchie des Glaubens.
Protestanten vertraten die Auffassung, die Kirche könne nicht die höchste Autorität sein, da ihre Lehren auf biblischen Texten beruhten. Katholiken zitierten Augustinus und behaupteten, der einzige Grund, die Bibel zu akzeptieren, bestehe darin, dass die Kirche sie uns gegeben habe. Die Fragen, die man zur Zeit der Reformation in Europa debattierte, wurden letztlich weder durch rationale Argumente noch durch innere Erleuchtung beantwortet. In einem Land nach dem anderen wurden gegensätzliche Antworten entweder durch Gewalt oder durch Strafgesetze erzwungen. In England brach Heinrich VIII. – verärgert durch die Weigerung des Vatikans, ihn von einer langweiligen Ehe zu befreien – mit Rom und ließ Thomas Morus für seine Treue zum Papst hinrichten. Das Land schlingerte daraufhin unter seinem Sohn Edward VI. von seiner abtrünnigen Version des Katholizismus zum Calvinismus, unter seiner Tochter Mary zum Katholizismus der Gegenreformation und schließlich unter ihrer Schwester Elizabeth zu einem anglikanischen Kompromiss. Diese wechselvolle Geschichte führte zu Hunderten von Martyrien auf protestantischer und katholischer Seite. Die blutigen Religionskriege, die für viele Jahrzehnte den europäischen Kontinent verwüsteten, blieben England jedoch erspart.
Das Konzil von Trient in seiner letzten Sitzung, in der Darstellung eines zeitgenössischen spanischen Kupferstichs.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts hatten sich die Fronten der Lehrmeinungen in einer Gestalt verhärtet, die sie etwa 400 Jahre lang behalten sollten. Luthers Stellvertreter Melanchthon formulierte im Jahre 1530 in Augsburg ein Glaubensbekenntnis, das als Maßstab der Rechtgläubigkeit diente. Ein 1555 in derselben Stadt vereinbartes Konkordat gab dem Herrscher jedes Staates des Heiligen Römischen Reiches das Recht zu entscheiden, ob seine Untertanen Lutheraner oder Katholiken sein sollten. Das Prinzip wurde später als der Grundsatz cuius regio, eius religio bekannt. Calvins Unterweisung in der christlichen Religion (1536) war maßgeblich für Protestanten in der Schweiz, in Frankreich und später in Schottland. In Rom unterstützte Papst Paul III. (1534–1549) eine Gegenreformation. Er genehmigte den neugegründeten religiösen Orden der Jesuiten und berief nach Trient ein Konzil ein, um die Kirchendisziplin zu erneuern. Das Konzil verwarf Luthers Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben und die Lehre Calvins, dass Gott die Gottlosen, bevor sie irgendeine Sünde begangen hatten, zur Hölle vorbestimme. Der freie Wille, so behauptete das Konzil, war durch Adams Sündenfall nicht beseitigt worden. Es bekräftigte die Lehre von der Transsubstantiation und die herkömmlichen sieben Sakramente. Als das Konzil im Jahre 1563 seine Arbeit beendete, war Luther bereits tot; und Calvin lag im Sterben.
Die Spaltung der Christenheit war eine Tragödie, die vermeidbar gewesen wäre. Die theologischen Streitfragen, die Luther und Calvin von ihren katholischen Gegnern trennten, waren im Mittelalter häufig diskutiert worden, ohne dass es deshalb zu religiös motivierten kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen wäre, und nur wenige Katholiken und Protestanten des 21. Jahrhunderts sind sich – sofern sie nicht Theologie studiert haben – bewusst, worin der wesentliche Unterschied zwischen den rivalisierenden Auffassungen bezüglich des Abendmahls, der Gnade und der Prädestination besteht, die im 16. Jahrhundert zur gegenseitigen Verdammung und zu Blutvergießen geführt haben. Fragen der Autorität sind natürlich leichter zu verstehen und schwerer zu schlichten als Streitfragen der Lehre. Doch die Einheit der Christenheit hätte unter einem konstitutionellen Papsttum bewahrt werden können, das allgemeinen Konzilien unterstellt war, wie Ockham es vorgeschlagen hatte und es im 15. Jahrhundert der Fall gewesen war. Thomas Morus hatte für den größten Teil seines Lebens geglaubt, dies entspreche dem göttlichen Plan für die Kirche.