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1 — Die Philosophie im 16. Jahrhundert Humanismus und Reformation

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Das im Jahre 1511 beginnende Jahrzehnt kann mit Recht als der Höhepunkt der Renaissance bezeichnet werden. Im Vatikan bemalte Raphael die Wände der päpstlichen Gemächer, während Michelangelo die Decke der Sixtinischen Kapelle mit seinen Gemälden versah. Die Medici, die seit der Zeit des Reformers Savonarola verbannt worden waren, kehrten als Machthaber und Förderer der Künste nach Florenz zurück. Einer der Beamten der früheren Republik, Niccolò Machiavelli, der sich nunmehr unter Hausarrest befand, nutzte die erzwungene Muße, um einen der klassischen Texte der Philosophie zu verfassen: seine Schrift Der Fürst. Das Buch enthält unumwundene Ratschläge an Herrscher, wie man zur Macht gelangen und die erlangte Macht verteidigen kann. Die Kunst und das Ideengut der Renaissance drangen im Norden bis nach Deutschland und England vor. Ein Mitarbeiter von Michelangelo entwarf das Grabmal Heinrichs VII. in der Westminster Abbey; der führende Gelehrte des Zeitalters, der Niederländer Desiderius Erasmus (Erasmus von Rotterdam), lehrte in der Anfangszeit der Herrschaft seines Sohnes Heinrich VIII. in Cambridge. Erasmus war ein häufiger Gast im Hause von Thomas Morus, eines Anwalts, der am Beginn einer politischen Karriere stand, die ihn für kurze Zeit zum mächtigsten Mann Englands nach dem König machen sollte.

Erasmus, Thomas Morus und ihre Freunde verbreiteten in Nordeuropa die humanistischen Ideen, die sich im Jahrhundert davor in Italien etabliert hatten. Als „Humanismus“ bezeichnete man damals noch nicht das Bestreben, religiöse Werte durch säkulare zu ersetzen: Erasmus war ein Priester, der fromme Bestseller schrieb, und Thomas Morus starb später den Märtyrertod für seine religiösen Überzeugungen. Als Humanisten bezeichnete man vielmehr Menschen, die an den erzieherischen Wert des Studiums der klassischen griechischen und lateinischen Autoren glaubten.1 Sie studierten und imitierten den Stil der klassischen Autoren. Viele der Texte der antiken Klassiker hatte man erst vor Kurzem wiederentdeckt, und sie konnten nun dank der neuen Erfindung des Buchdrucks herausgegeben werden. Die Humanisten waren der Überzeugung, dass die Anwendung ihrer Gelehrsamkeit auf die antiken heidnischen Texte die in Europa lange vernachlässigten Künste und Wissenschaften wiederbeleben würden. Außerdem glaubten sie, dass ihre Anwendung auf die Bibel und die antiken Autoren der Kirche der Christenheit helfen würde, zu einem besseren und authentischeren Verständnis der christlichen Wahrheit zu gelangen.

Die Humanisten hielten das Studium von Grammatik, Philologie und Rhetorik für wichtiger als die technischen philosophischen Studien, denen sich die Gelehrten des Mittelalters hauptsächlich gewidmet hatten. Sie verachteten das Latein, das an den mittelalterlichen Universitäten als lingua franca gedient hatte, da es im Stil von den Werken Ciceros und Livius’ so stark abwich. Erasmus war seines Studiums an der Sorbonne nicht froh geworden, und Thomas Morus machte sich über die Logik, die man ihn in Oxford gelehrt hatte, lustig. In der Philosophie orientierten sie sich an Platon, nicht an Aristoteles und seinen zahlreichen mittelalterlichen Bewunderern.

Thomas Morus erwies Platon dadurch eine Ehre, dass er im Jahre 1516 die fiktive Verfassung eines idealen Gemeinwesens herausgab. In seinem Land Utopia herrschte, wie in Platons Staat, Gütergemeinschaft, und Frauen dienten in der Armee ebenso wie Männer. Morus, der in einem Zeitalter der Forschungs- und Entdeckungsreisen schrieb, gab vor, dass sein Staat auf einer fernen Insel im Ozean tatsächlich existierte. Wie Platon setzte er die Beschreibung einer fiktiven Nation als Vehikel für seine politische Philosophie und für die Kritik der zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustände ein.2

Platons politischen Ideen stand Erasmus skeptischer gegenüber. In seiner spöttischen Schrift Lob der Torheit, die er 1511 Thomas Morus widmete, macht er sich über Platons These lustig, dass der glücklichste Staat von Philosophenkönigen regiert würde. Die Geschichte lehre uns, dass „kein Staat mehr unter seinen Herrschenden gelitten hat, als wenn die Macht in die Hände eines philosophischen Dilettanten gefallen war“ (M 100). Als er jedoch, im selben Jahr, in dem Thomas Morus Utopia schrieb, seine Erziehung eines christlichen Fürsten verfasste, wiederholte er in der Hauptsache Ideen, die sich bei Platon und Aristoteles finden. Dies ist der Grund dafür, dass sein Traktat über politische Philosophie niemals den Bekanntheitsgrad der Schriften von Machiavelli und Thomas Morus erlangte.

Erasmus interessierte sich mehr für Theologie als Philosophie, und Bibelstudien waren ihm wichtiger als spekulative Theologie. Er beklagte, dass Scholastiker wie Scotus und Ockham lediglich Pfade, die von früheren Denkern begehbar gemacht worden waren, mit dornigem Gestrüpp überwucherten. Unter den großen Lehrern der christlichen Vergangenheit war der heilige Hieronymus, der die Bibel vom Hebräischen und Griechischen ins Lateinische übersetzt hatte, sein Lieblingsautor.

Erasmus arbeitete einige Jahre lang an einem Kommentar zur lateinischen Version des Neuen Testaments, entschied sich dann jedoch, eine eigene lateinische Version zu verfassen, um Fehler zu korrigieren, die sich in die Standardversion (die „Vulgata“) eingeschlichen hatten, und – wo dies nötig war – Hieronymus’ Text zu verbessern. Im Jahre 1516 veröffentlichte er seine neue lateinische Übersetzung des Neuen Testaments mit eigenen Kommentaren. Die griechische Version fügte er, fast wie einen Anhang, hinzu. Dies war die erste Druckversion des griechischen Originaltextes des Neuen Testaments. In seiner lateinischen Version scheute er sich nicht – im Bemühen um eine möglichst große Treue zum griechischen Original –, selbst die beliebtesten und ehrwürdigsten Formulierungen zu ändern. Aus den Eröffnungsworten des vierten Evangeliums, „In principio erat verbum“, wurde „In principio erat sermo“: Am Anfang war nicht „das Wort“, sondern „die Rede“.


Desiderius Erasmus in einem Porträt von Holbein.

Erasmus’ lateinische Version setzte sich nicht durch, obwohl man einzelne Passagen noch in den Fenstern der Kapelle des King’s College in Cambridge lesen kann. Der von ihm veröffentlichte griechische Text des Neuen Testaments wurde jedoch zur Grundlage der bedeutenden volkssprachlichen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts, deren erste die monumentale deutsche Fassung war, die Martin Luther 1522 herausgab.

Luther war ein augustinischer Mönch. Auch Erasmus war Augustiner gewesen, bis er durch eine päpstliche Dispension von seinem monastischen Gelübde befreit wurde. Wie Erasmus hatte auch Luther Paulus’ Brief an die Römer intensiv studiert. Dies hatte dazu geführt, dass er das Ethos des Katholizismus zur Zeit der Renaissance radikal infrage stellte. Im Jahr nach der Veröffentlichung von Erasmus’ lateinischer Übersetzung des Neuen Testaments prangerte Luther an der Universität Wittenberg Missbräuche der päpstlichen Autorität öffentlich an. Besonders scharf griff er das auf skandalöse Weise vorgebrachte Angebot eines Ablasses (des Erlassens der aufgrund von Sünden verdienten Strafen) an, der im Ausgleich für die finanzielle Unterstützung des Baus des Petersdoms in Rom erteilt wurde.

Erasmus und Thomas Morus teilten Luthers Sorge über den lasterhaften Lebenswandel vieler dem höheren Klerus angehörender Geistlicher. Beide hatten ihn in schriftlicher Form angeprangert: Erasmus in einer beißenden Satire über Papst Julius II., Thomas Morus mit ironischer Vorsicht in seinem Buch Utopia. Luther entfremdete sich jedoch die beiden, als er dazu überging, große Teile des Systems der katholischen Sakramente zu verwerfen und zu lehren, das Einzige, was zur Erlösung notwendig sei, sei das Vertrauen in das Heilswerk Christi. Im Jahre 1520 verurteilte Papst Leo X. 41 Artikel der Lehre Luthers. Nachdem er die päpstliche Bulle, die ihn verurteilte, öffentlich verbrannt hatte, wurde Luther vom Papst exkommuniziert. Heinrich VIII. gab mit einiger Unterstützung von Thomas Morus eine Bekräftigung der Sieben Sakramente heraus, was ihm den päpstlichen Titel „Verteidiger des Glaubens“ eintrug.

Erasmus bemühte sich vergeblich, die Eskalation der Kontroverse zu verhindern. Er versuchte, Luther zu überreden, seinen Ton zu mildern und seine Auffassungen dem Urteil einer unparteiischen Prüfung durch eine Gelehrtenkommission zu unterwerfen. Andererseits stellte er die Gültigkeit der päpstlichen Bulle, die Luther verurteilte, infrage und überredete Kaiser Karl V., Luther auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 anzuhören. Luther weigerte sich jedoch zu widerrufen, und man verhängte die Reichsacht über ihn. Als Papst Leo X. starb, wurde sein Nachfolger ein niederländischer Schulfreund von Erasmus, der den Namen Hadrian VI. annahm. Der neue Papst drängte Erasmus, die Auseinandersetzung mit den Reformern in schriftlicher Form zu führen. Erasmus kam dieser Bitte – sehr widerwillig – nach, doch sein Buch gegen Luther erschien erst 1524. Papst Hadrian war zwischenzeitlich bereits gestorben.

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