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Geistlicher und profaner Skeptizismus
ОглавлениеNicht nur Katholiken töteten Ketzer. Im Jahre 1553 wurde Michael Servetus, ein spanischer Arzt, der den Lungenkreislauf des Blutes entdeckt hatte, im Genf Calvins verbrannt, weil er die Dreieinigkeit Gottes und die Göttlichkeit Jesu geleugnet hatte. Einen in Basel lehrenden klassischen Philologen namens Sebastian Castellio schockierte die Hinrichtung von Servetus und er schrieb eine Abhandlung, Von den Häretikern, ob sie zu verfolgen seien ([Magdeburg=]Basel, 1554), in der er sich für Toleranz einsetzte. Seine Argumente bestehen zum größten Teil aus Zitaten maßgeblicher Quellen oder Berufungen auf das Beispiel Christi: „Oh Christus, als du auf der Erde lebtest, gab es keinen sanftmütigeren, barmherzigeren oder mit den Schwächen anderer Geduldigeren als dich […]. Bist du jetzt so verändert? […] Wenn du, oh Christus, diese Hinrichtungen und Foltern befohlen hast, was hast du dem Teufel zu tun übrig gelassen?“6 In einem späteren Werk, Von der Kunst zu zweifeln, entwickelte Castellio jedoch Argumente, die sich stärker auf die Erkenntnistheorie stützten. Die Schwierigkeiten der Bibelauslegung und die Vielzahl der Meinungen unter den christlichen Sekten sollten uns sehr vorsichtig machen, wenn es darum geht, in religiösen Angelegenheiten Gesetze zu erlassen. Gewiss gibt es einige Wahrheiten, die über jeden Zweifel erhaben sind, wie etwa die Existenz und die Güte Gottes. Doch bei anderen religiösen Fragen könne sich niemand so sicher sein, dass sich hierdurch die Tötung eines anderen als Ketzer rechtfertigen ließe. Zu seiner Zeit war Castellio eine einsame Stimme; spätere Befürworter religiöser Toleranz beriefen sich jedoch auf ihn als einen ihrer Vorläufer.
Einige Zeitgenossen, die Castellio in Fragen der Religion für übertrieben skeptisch hielten, begannen die Attraktivität des Skeptizismus in Bereichen zu verspüren, die mit der Religion nichts zu tun hatten. Diese Tendenz wurde noch deutlich dadurch verstärkt, dass um die Mitte des Jahrhunderts die Werke des antiken griechischen Skeptikers Sextus Empiricus wiederentdeckt wurden, nachdem sie im Mittelalter völlig verschollen waren. Sextus’ Argumente wurden durch den französischen Adeligen Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) in einem Essay bekannt gemacht, bei dem es sich offiziell um einen Kommentar zu einem hundert Jahre alten Werk über natürliche Theologie handelte, das er auf Bitten seines Vater übersetzt hatte. Die Apologie für Raimond Sebond (1569), in klarem und geistreichem Französisch verfasst, wurde zur klassischen Darstellung des Skeptizismus in der Moderne.7
Die Apologie enthält allerdings wesentlich mehr als eine bloße Wiederholung antiker skeptischer Argumente. Bevor er diese Argumente vorträgt, bemüht sich Montaigne sehr, in seinem Leser ein angemessenes Maß intellektueller Demut zu wecken. Die Menschen neigen dazu, sich für die Krone der Schöpfung zu halten. Doch sind die Menschen den anderen Tieren, mit denen sie sich die Erde teilen, wirklich überlegen? „Wenn ich mit meiner Katze spiele“, fragt Montaigne, „wer weiß, ob sie nicht mit mir ebenso ihre Zeit verbringt wie ich mit ihr?“ (ME 2, 119)
Verschiedensten Arten angehörende Tiere verfügen über Sinnesorgane, die wesentlich leistungsfähiger als die des Menschen sind. Sie können durch Intuition schnell erfassen, was Menschen erst mühsam erschließen müssen. Sie haben dieselben Bedürfnisse und Gefühle wie wir, und sie zeigen – häufig in erstaunlichem Maße – dieselben Charaktereigenschaften und Tugenden, auf die Menschen stolz sind. Montaigne trägt zahlreiche Geschichten über treue und edelmütige Hunde und dankbare und sanfte Löwen zusammen und stellt sie der Grausamkeit und Niedertracht der Menschen gegenüber. Die meisten seiner Beispiele für die Intelligenz von Tieren entstammen griechischen und lateinischen Texten, wie etwa von dem legendären, logisch schließenden Hund. Während er einer Geruchsfährte folgte, kam er an eine Kreuzung. Nachdem er zwei der möglichen Routen vergeblich auf den Geruch überprüft hatte, nahm er sofort die dritte Route, ohne nochmals nach der Fährte zu suchen. Montaigne stützt sich allerdings auch auf seine eigene Erfahrung, so zum Beispiel auf Hunde, die Blinde führen, und einige seiner Beispiele für den Werkzeuggebrauch durch Tiere wären in gegenwärtigen Diskussionen von Vereinen zur Förderung der Naturwissenschaft durchaus nicht fehl am Platz.
Besonders beeindruckt war Montaigne von den Fähigkeiten von Zugvögeln und den Wanderungen von Fischen:
„Die Schwalben, die wir beobachten, wie sie alle Winkel unseres Hauses erforschen, wenn der Frühling wiederkehrt: Suchen sie den einen von Tausend möglichen Plätzen, der der passendste für ihr Nest ist, ohne Urteil und wählen sie ihn ohne Verstand? Während sie ihre wundervollen und schönen Nester bauen, wählen sie eckige Formen statt runder, stumpfe Winkel statt rechter: Können sie dies tun, ohne die passenden Umstände und Wirkungen zu kennen?“ (ME 2, 121)
Montaigne versichert uns, dass Thunfische nicht nur mit dem Menschen in Geometrie und Arithmetik konkurrieren können, sondern dass sie ihm in der Astronomie überlegen sind. Sie schwimmen in perfekt würfelförmigen Formationen, und zur Zeit der Wintersonnenwende unterbrechen sie ihre Wanderung dort, wo sie sich gerade befinden, und setzen sie erst zur Tagundnachtgleiche im Frühling fort (ME 146).
Montaigne ist davon überzeugt, dass die kunstvollen Verhaltensweisen der Tiere beweisen, dass ihnen die gleichen Gedanken durch den Kopf gehen wie uns. Ein Fuchs spitzt seine Ohren, um zu horchen, damit er den sichersten Weg über einen zugefrorenen Fluss findet. „Mit Sicherheit haben wir daher Grund zu der Annahme, dass er dieselben Überlegungen anstellt, die auch uns durch den Kopf gehen würden, indem er von Wahrnehmungen zu Schlussfolgerungen fortschreitet: Was ein Geräusch macht, bewegt sich; was sich bewegt, ist nicht zugefroren, was nicht gefroren ist, ist flüssig; was flüssig ist, trägt nicht.“ (ME 127)
Die beiden Errungenschaften, auf die sich der Mensch vor allem etwas zugutehält, sind Religion und Philosophie. Montaigne unternimmt einen mutigen Versuch zu beweisen, dass wir nicht die einzigen Wesen mit der Fähigkeit zu Andacht und Verehrung sind, indem er die Beerdigungsriten der Ameisen und die Liturgie der Sonnenanbetung der Elefanten beschreibt. Überzeugender ist er, wenn er darlegt, dass der Mensch wenig Grund zum Stolz auf seine theologischen Überzeugungen und religiösen Praktiken hat, da sie aus einem Angebot zahlreicher widersprüchlicher Lehren bestehen und die religiösen Bräuche oft von entwürdigender Natur sind.
Bezüglich der Philosophie gelingt es ihm mühelos zu zeigen, dass es noch niemals einen Philosophen gegeben habe, dessen System der Kritik anderer Philosophen standgehalten hätte. Wie viele andere nach ihm führt er hierzu einen Ausspruch Ciceros an: „Es ist unmöglich etwas so Absurdes zu behaupten, dass es nicht zuvor bereits von dem einen oder anderen Philosophen behauptet worden ist.“ (ME 211)
Montaignes Herabsetzung des Menschen in Raimond Sebond ist das Gegenstück zur Verherrlichung des Menschen in Pico della Mirandolas Rede über die Würde des Menschen aus dem Jahre 1486.8 Der Optimismus, der durch die Wiederentdeckung der klassischen Texte und die Blüte der darstellenden Künste im Florenz der Renaissance wachgerufen worden war, wich einem Pessimismus, der in dem von Religionskriegen zerrissenen Frankreich der Gegenreformation verständlich war. Montaigne verglich die gebildeten und zivilisierten Bürger der europäischen Staaten – zu ihrem Nachteil – mit der Einfachheit und dem natürlichen Adel der Bewohner der erst vor Kurzem entdeckten Neuen Welt.
Obwohl Montaigne die Begrenztheit des menschlichen Verstandes betont, hindert ihn dies nicht zu behaupten, dass er sich der Wahrheit des Christentums in seiner katholischen Form ziemlich sicher sei. Er kann im Gegenteil behaupten, dass er sich in seiner Skepsis bezüglich der Philosophie Paulus anschließt, der im ersten Brief an die Korinther schreibt: „Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.“ (1. Kor 1, 21) Mit paulinischen Texten wie diesem und Zitaten aus Sextus Empiricus, wie zum Beispiel „Sicher ist allein, dass nichts sicher ist“, waren die Balken in Montaignes Studierzimmer beschriftet.
Um seinen Skeptizismus mit seiner Rechtgläubigkeit in Einklang zu bringen, betont Montaigne, dass das Ziel seiner Angriffe die Anmaßung des menschlichen Verstandes gewesen sei, aus eigener Kraft in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Der Glaube sei jedoch keine Leistung, sondern ein freies Geschenk Gottes:
„Wir haben unsere Religion nicht durch den Gebrauch unserer Vernunft und unseres Verstandes empfangen, sondern durch höhere Autorität und einen Befehl von oben. Die Schwäche unseres Urteils ist eine größere Hilfe als seine Stärke, und unsere Blindheit ist eine größere Hilfe als unsere deutliche Einsicht. Durch Unwissenheit, nicht durch Wissen, werden wir durch göttliche Weisheit weise.“ (ME 166)