Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 11
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Hanna verbrachte den ganzen Freitagvormittag damit, ihre Wohnung auf Vordermann zu bringen. Im Grunde genommen war sie schon seit dem Anruf ihrer Tochter am Vortag am Rotieren. Sie wollte, dass alles perfekt war für ihre Enkeltochter. Und wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie den Haushalt in der letzten Zeit auch ziemlich schleifen lassen. Es war also höchste Zeit, mal wieder alles von Grund auf zu putzen, zu waschen und aufzuräumen.
Sie räumte gerade die letzten Putzutensilien weg, als sie ein Auto in die Einfahrt biegen hörte. Eine Mischung aus Vorfreude und Angst stieg in ihr hoch, als sie zur Tür ging, um zu öffnen. Würde sie ihre Trauer eine Woche lang vergessen können? Würde sie für ihre Enkelin die Oma sein können, die sie vorher immer gewesen war, als ihr Mann noch da war? Würde sie lachen und fröhlich sein können, ohne vor ihrer Enkelin schwach zu werden und in Tränen auszubrechen? Doch als Lisa freudestrahlend auf sie zugerannt kam, waren alle Sorgen und Zweifel wie weggeblasen. „Hallo Omi!“ rief Lisa und warf sich in Hannas Arme. „Hallo, mein Schatz.“ antwortete Hanna und drückte ihre Enkelin fest an sich. „Lass dich anschauen! Du wirst wirklich von Mal zu Mal hübscher.“ Lisa lief rot an und drehte sich geniert zu ihrer Mutter um, die gerade die Treppe zum Haus hinaufkam. „Hallo Annabel.“ sagte Hanna und gab ihrer Tochter einen Kuss auf jede Wange. „Hallo, Mutti.“ Im Gegensatz zu Lisa, machte Annabel keinerlei Anstalten, Hanna in die Arme zu nehmen oder an sich zu drücken.
Wortlos gingen die drei zusammen ins Haus. Durch die kühle Distanziert ihrer Mutter wusste Lisa plötzlich nicht mehr, wie sie sich gegenüber ihrer Omi verhalten sollte. Sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sich vor lauter Wiedersehensfreude erneut an ihre Omi zu kuscheln, und der Angst, ihrer Mutter damit vielleicht in den Rücken zu fallen. Um dem ganzen aus dem Weg zu gehen, ergriff sie kurzerhand die Flucht nach vorn, nahm ihrer Mutter das Gepäck ab und rannte mit einem „Ich bin doch wieder im selben Zimmer wie immer, oder?“ den Flur hinunter. „Natürlich, mein Schatz.“ hörte sie ihre Omi noch sagen, doch da hatte sie schon die Tür hinter sich zugezogen. „Puhh!“ schüttelte sich Lisa und zog ihre Jacke aus. „Hoffentlich werde ich nie erwachsen! Was die immer alles verkomplizieren müssen!“ Sie hatte zwar keinen blassen Schimmer, was für ein Problem zwischen ihrer Omi und ihrer Mutter bestand, aber dass es eins gab, das spürte sie schon seit langem.
Annabel und Hanna standen immer noch im Flur. „Komm doch rein und setz dich kurz.“ sagte Hanna schließlich. „Ich hab gerade Tee gemacht.“ Annabel zögerte. Ohne ihre Tochter als Schutz wusste sie nie, wie sie sich ihrer Mutter gegenüber verhalten sollte. „Nein, das ist lieb von dir.“ sagte sie dann, „aber ich muss noch so viel vorbereiten, bevor Harald heimkommt. Du weißt schon, die Überraschungsreise, die Lisa ausgeheckt hat...“ „Die Kleine ist wirklich ein Goldstück!“ „Das kannst du laut sagen.“ Annabel war erleichtert, dass sie zum einzigen Thema zurückgefunden hatten, über das sie sich mit ihrer Mutter ‚normal’ unterhalten konnte.
Hanna sah ihre Tochter aufmerksam an. Sie sah müde und abgespannt aus. Gerne hätte sie gefragt, was los war, denn wie so oft spürte sie auch jetzt, dass etwas nicht stimmte. Doch sie wusste genau, dass Annabel ihren Fragen ausweichen würde, und so versuchte sie, ein möglichst unverfängliches Thema anzuschneiden: „Wie geht es Harald? Arbeitet er immer noch so viel?“ „Ja.“ antwortete Annabel und überlegte krampfhaft, was sie sonst noch sagen könnte. Sie hatte nicht die geringste Lust, mit ihrer Mutter über Harald und die etwas angespannte Situation der letzten Monate zu sprechen. Andererseits wollte sie ihre Mutter auch nicht einfach so abkanzeln, deshalb fügte sie hinzu: „Aber jetzt fahren wir ja erst mal eine Woche zusammen weg. Das wird ihm sicher gut tun.“
„Und dir auch.“ rutschte es Hanna spontan heraus. Für einen Moment war es totenstill. Wie immer, wenn ihre Mutter einen wunden Punkt bei ihr traf, verkrampfte sich Annabel sofort und schaltete auf Abwehr. Sie brauchte die Weisheiten ihrer Mutter nicht, bei denen es am Ende sowieso immer nur darauf hinauslief, dass sie recht behalten wollte! Wütend drehte sie sich zu ihr um. Doch die Antwort, die alles andere als höflich ausgefallen wäre, erstarb auf ihren Lippen, als sich ihr Blick mit dem ihrer Mutter kreuzte. Er strahlte Wärme und Verständnis aus und ging ihr durch Mark und Bein. „Sicher.“ stammelte Annabel verunsichert und senkte schnell den Blick, damit ihre Mutter nicht sehen konnte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Hanna spürte, dass der Panzer, den ihre Tochter ihr gegenüber seit Jahren angelegt hatte, für einen kurzen Moment ins Wanken geraten war. Der Blick, den sie ausgetauscht hatten, schien etwas in ihr berührt zu haben, das Hanna schon völlig verloren geglaubt hatte. Es gab sie noch, diese unsichtbare Verbindung zwischen Mutter und Kind, bei der das Verständnis auch ohne viele Worte funktionierte.
Annabel musste plötzlich an ihren Vater denken, dem sie immer alles erzählt hatte, was sie belastete, und der ihr seit seinem Tod und besonders in den letzten Wochen so wahnsinnig fehlte. Um ein Haar hätte sie sich ihrer Mutter einfach in die Arme geworfen, um sich endlich wieder einmal richtig auszuheulen. Doch dann musste sie wieder an den Grund für ihr Zerwürfnis denken und innerhalb von Sekunden hatte sie sich wieder gefangen. Sie würde ihrer Mutter sicherlich nicht den Gefallen tun, Harald noch mehr nieder machen zu können, als sie es ohnehin schon seit Anfang ihrer Beziehung immer getan hatte!
„Ich muss jetzt wirklich gehen.“ Annabel vermied es, ihrer Mutter erneut in die Augen zu sehen und machte sich stattdessen direkt auf den Weg in den Flur. „Ich sag nur Lisa noch kurz ‚Tschüss’.“ „Natürlich.“ sagte Hanna und sah ihrer Tochter traurig hinterher. Irgendetwas belastete Annabel, davon war Hanna überzeugt. Sicher hing dies auch mit dem Tod ihres Mannes zusammen. So wie sie selbst den plötzlichen Verlust bis heute nicht richtig verdaut hatte, schien auch ihre Tochter den Tod ihres Vaters noch immer nicht ganz überwunden zu haben. Doch da war noch etwas anderes. Wie gerne hätte sie mit ihrer Tochter darüber gesprochen, versucht ihr eine Stütze zu sein, vor allem jetzt, da sie ihren Vater nicht mehr hatte, bei dem sie sich sonst immer ausgeweint hatte. Doch die Kluft zwischen ihnen war mit den Jahren einfach zu groß geworden...