Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 6
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Lisa drückte ihr Ohr noch fester an die Tür ihres Zimmers. Eigentlich sollte sie längst schlafen, aber sie wusste, dass ihre Mutter heute Abend noch mit ihrem Vater über ihren Vorschlag, Omi auf andere Gedanken zu bringen, reden würde. Ihr Vater war, wie immer in letzter Zeit, erst spät von der Arbeit heimgekommen. Und so war es schon nach neun Uhr, als die beiden endlich anfingen, miteinander zu diskutieren.
„Lisa macht sich große Sorgen um meine Mutter. Sie hat fast geweint heute, weil sie glaubt, dass sie bald sterben wird, wenn sie weiter so traurig ist...“ Annabel sah ihren Mann fragend an in Erwartung eines Kommentars. „Hmm.“ murmelte dieser nur und aß schweigend weiter. „Es scheint dir nicht sonderlich viel auszumachen, was deine Tochter empfindet und wie es meiner Mutter geht.“ sagte Annabel gereizt, als ihr Mann nach einigen Minuten absoluter Stille immer noch keine Reaktion zeigte. „Meine Güte, Annabel! Lass mir doch erst mal ein wenig Zeit, zur Ruhe zu kommen nach meinem Arbeitstag. Ich brauch einfach ein paar Minuten, bis ich ganz da bin.“ „Wieso sagst du das dann nicht gleich? Anstatt überhaupt nicht zu reagieren und mich damit auf die Palme zu bringen?“ „Du müsstest mich nach all den Jahren doch langsam kennen und wissen, wie ich funktioniere, oder?“ „Du aber auch!“ Der Ton zwischen den beiden war eisig. Lisa wäre am liebsten unter ihrer Decke im Bett verschwunden! Wieso konnten sich ihre Eltern nicht ganz normal unterhalten, ohne immer gleich aufeinander los zu gehen? Und wieso stritten sie sich immer über Kleinigkeiten, die am eigentlichen Thema völlig vorbeigingen?
Bei Omi und Opa war das immer ganz anders gewesen. Selbst wenn es hin und wieder zu einem Streit gekommen war, hatte der nie lange gedauert. Und wenn Omi wirklich einmal sauer war, brauchte Opa nie länger als fünf Minuten, um sie wieder zum Lachen zu bringen. Er nahm sie einfach in seine Arme und machte eine Grimasse oder irgendeinen anderen Blödsinn. Und schon war alles wieder gut. Wie gerne war Lisa bei ihnen gewesen! Doch seit ihr Opa tot war, war nichts mehr wie vorher. Ihre Omi lachte nicht mehr so wie früher, oder aber sie tat so, als würde sie lachen, aber in Wirklichkeit hatte Lisa sehr schnell kapiert, dass das alles nur vorgespielt war. Sie war zwar erst zehn Jahr alt, aber sie war nicht dumm. Sie hatte das Theater der Großen sehr wohl durchschaut. Das von ihrer Omi und auch das von ihren Eltern, die immer, wenn sie dabei war, so taten, als ob sie noch immer furchtbar ineinander verliebt wären, um dann sofort, wenn sie im Bett war, wieder aufeinander los zu gehen. So wie heute Abend. Und wie immer waren sie auch heute nach ihrem Streit wieder so eingeschnappt, dass sie noch nicht einmal mehr Lust hatten, weiter miteinander über das Thema zu diskutieren, das sie angeschnitten hatten, bevor sie sich wegen Nichts und wieder Nichts in die Haare geraten waren.
Lisa wartete noch ein paar Minuten, aber als weiterhin Totenstille im Wohnzimmer herrschte, schlurfte sie mit hängenden Schultern in ihr Bett und vergrub ihr Gesicht unter dem Kopfkissen. Was war bloß los mit allen? Wieso war nichts mehr so wie früher? Als Opa noch da war. Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Aber die Wut, die in ihr hochkam, war schließlich größer. Nein, dieses Mal würde sie nicht weinen! Sie würde den Kloß im Hals herunterschlucken und nicht mehr an ihre Eltern denken. Alles, was jetzt zählte, war ihre Omi. Und wenn ihre Eltern es nicht fertig brachten, Omi wieder zum Lachen zu bringen, dann würde sie es eben alleine tun. Gleich morgen würde sie sie anrufen und ihr sagen, dass sie kommen würde. Sie ganz alleine! Trotzig reckte sie das Kinn in die Höhe. Bis ihr plötzlich bewusst wurde, wie gut diese Idee im Grunde genommen war. ‚Genau das ist es!’ dachte sie. ‚Darauf hätte ich auch schon viel früher kommen könne!’ Sie würde alleine zu ihrer Omi fahren und sie auf andere Gedanken bringen. In einer Woche waren Schulferien. Früher, als Opa noch da war, hatte sie schließlich auch regelmäßig die Ferien dort verbracht. Warum also auch nicht jetzt? Außerdem könnten ihre Eltern dann endlich mal wieder zu zweit wegfahren. Vielleicht würden sie sich dann ja endlich mal wieder normal unterhalten, ohne ständig zu streiten... Je mehr Lisa über ihre Idee nachdachte, desto zufriedener wurde sie. Genauso würde sie es machen. Erst ihre Omi anrufen und dann ihren Eltern vorschlagen, mal eine Woche zu zweit wegzufahren. Dann würde alles wieder ins Lot kommen! Und mit diesem festen Vorsatz schlief Lisa zufrieden lächelnd ein.