Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 12
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Annabel war total aufgeregt. Sie freute sich darauf, die Überraschung endlich mit ihrem Mann zu teilen. Nachdem sie Lisa heute Mittag bei ihrer Mutter abgesetzt hatte, war sie sofort ins Reisebüro gefahren, um alles unter Dach und Fach zu bringen. Sie hatte lange überlegt, welches Ziel sie sich für eine Woche zu zweit aussuchen sollte. Nicht zu weit, aber doch weit genug, um dem grauen Regenwetter in Nordeuropa entfliehen zu können. Es sollte ein Urlaub werden, in dem sie seit langem endlich mal wieder die vertraute Nähe spüren sollten, die Annabel von dem, was in all den Jahren ihrer Beziehung gelitten hatte, am meisten fehlte. Also hatte sie kurzerhand das kleine Hotel auf Madeira ausgesucht, das sie schon einmal ganz am Anfang ihrer Ehe für eine romantische Woche zu zweit gebucht hatten.
Als ihr Mann die Haustür aufschloss, hatte sie sich eines ihrer Lieblingskleider angezogen und den Tisch mit dem schönen Geschirr und Kerzen gedeckt. Lächelnd ging sie auf ihn zu und nahm ihn bei der Hand. Mürrisch schob er sie beiseite: „Was ist denn hier los?“ brummte er. „Hab ich irgendeinen Geburtstag vergessen?“ Annabel versuchte mühsam die Enttäuschung, die in ihr hochstieg, weil er ihr noch nicht mal ein Lächeln geschenkt geschweige denn einen Begrüßungskuss gegeben hatte, herunterzuschlucken. ‚Keine Aufregung!’ redete sie sich ins Gewissen. ‚Er ist sicher nur müde von der anstrengenden Arbeitswoche. Wenn er erst einmal die Überraschung entdecken würde, würde er schon wieder freundlicher werden.’
„Ich dachte, wir machen uns mal wieder einen richtig gemütlichen Abend zu zweit. Nur wir beide. Das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht!“ Überrascht sah er sie an. Noch immer zeigte sich keinerlei Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht. „Und Lisa? Hast du sie zu einer ihrer Freundinnen abgeschoben?“ Annabel schluckte erneut. Dieses Mal waren es Tränen, gegen die sie vehement ankämpfte. War es schon so weit mit ihnen gekommen? Stand es schon so schlecht um ihre Beziehung, dass er sich noch nicht einmal über eine romantische Abwechslung mit ihr mehr freuen konnte? „Willst du dich nicht erst einmal setzen? Ich hab uns was Feines gekocht.“ Ihre Stimme zitterte vor lauter Angst und Nervosität. „Verdammt noch mal Annabel! Was soll das alles?“ fuhr er mit einem Mal aus der Haut. „Seit Wochen wechseln wir kaum mehr ein Wort, sind nur noch am Streiten, und mit einem Mal tischst du mir ein romantisches Candlelight-Dinner auf, als wäre alles in Butter! Tut mir leid, aber das kriege ich irgendwie nicht in meinen Kopf!“ Verzweifelt sah Annabel ihren Mann an und wischte sich die Tränen von der Wange, die sie trotz aller Anstrengung nicht hatte zurückhalten können. „Genau deshalb.“ flüsterte sie, doch er war schon wieder im Flur verschwunden, um seine Jacke aufzuhängen und die Hausschuhe anzuziehen.
Sie hörte, wie er tief durchatmete, bevor er zurück zu ihr ins Wohnzimmer kam. Sie stand noch immer an derselben Stelle, unfähig den nächsten Schritt zu machen. Er sah sie von der Tür aus an. „Annabel, es tut mir leid, ich hätte nicht so aus der Haut fahren dürfen.“ sagte er schließlich versöhnlich. „Ich bin einfach nur ein wenig müde.“ Wie gerne hätte sie es gesehen, wenn er sie jetzt einfach in den Arm genommen oder ihr besänftigend über die Wange gestreichelt hätte. So wie er es früher immer getan hatte, wenn sie mal aneinander geraten waren...
Aber trotz seiner versöhnenden Worte blieb Harald am anderen Ende des Raumes stehen und wahrte die Distanz. Annabel kämpfte vehement gegen die Resignation an, die sie Stück für Stück übermannte. „Schon gut.“ flüsterte sie dann. „Setz dich am besten erst mal. Wenn du etwas gegessen hast, geht es dir sicher gleich besser. Sie hörte, wie er langsam und tief durchatmete. Sie wusste, dass das seine Art war, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Schweigend brachte sie die Suppe herein, die sie heute Nachmittag gutgelaunt in Erinnerung an eines ihrer ersten Treffen vorbereitet hatte, bei dem sie ihm dieses Rezept das erste Mal gekocht hatte. Von der guten Laune war nun nicht mehr viel übrig, aber trotzdem würde sie sich zusammenreißen und alles so durchziehen, wie sie es den ganzen Tag über geplant hatte. Dabei war einer der wichtigsten Vorsätze, auf keinen Fall einen Streit anzufangen. Nicht an diesem Abend, an dem sie doch extra alles so arrangiert hatte, damit sie genau das, nämlich die ewigen Streitereien der letzten Wochen, ein für alle Male hinter sich lassen könnten, um wieder an das Glück anzuknüpfen, das sie die ganzen Jahre über verbunden hatte.
„Also, wo ist Lisa denn nun?“ fragte er und brachte dabei sogar ein Lächeln zustande. Seine Tochter war sein ein und alles. „Bei meiner Mutter.“ Sie sah wie er die Stirn runzelte, doch er sagte nichts weiter dazu. Eine Weile aßen sie schweigend ihre Suppe. Als Annabel aufstand, um das Hauptgericht aus der Küche zu holen, sah er endlich den Umschlag auf dem Tisch. Ohne auf seine Frau zu warten, öffnete er ihn. Er entdeckte zwei Flugtickets und eine Hotelreservierung. Madeira. Dort, wo sie ihren ersten gemeinsamen Urlaub nach den Flitterwochen verbracht hatten. Wenn er sich richtig erinnerte, war es sogar dasselbe Hotel.
Von der Küchentür aus konnte sie sehen, wie er den Inhalt des Umschlages in seiner Hand begutachtete. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. ‚Bitte, bitte, lass ihn sich freuen!’ flehte sie innerlich. Sie hielt die Schüssel mit dem Fleisch und den Nudeln so fest umklammert, dass er nicht mitbekam, wie ihre Hände zitterten, als sie wieder ins Wohnzimmer kam. Sie stellte alles auf dem Tisch ab, setzte sich wieder neben ihn und sah ihn erwartungsvoll an: „Und? Freust du dich? Eine Woche nur wir zwei! Auf Madeira. Erinnerst du dich noch? Ich hab dasselbe Hotel bekommen wie damals!“
Er reagierte nicht, starrte nur ausdruckslos vor sich hin. Annabel hielt einen Moment inne, dann fuhr sie verunsichert fort: „Es war Lisas Idee. Sie wollte meine Mutter auf andere Gedanken bringen und deshalb die Osterferien alleine bei ihr verbringen. Sie meinte, dass wir dann auch endlich mal wieder zu zweit Urlaub machen könnten. So richtig romantisch...“ Annabel sah erneut zu Harald, hoffte inständig auf eine Reaktion. Irgendeine! Selbst wenn er aus der Haut fahren würde, Hauptsache, er sagte endlich was! Doch es war totenstill im Zimmer und er blickte immer noch starr auf die Flugtickets.
Annabel spürte, wie sich ihre Angst langsam in Übelkeit verwandelte, doch sie zwang sich, weiter ruhig zu bleiben und abzuwarten. Sie zitterte am ganzen Körper, obwohl es angenehm warm im Raum war. Harald ließ den Umschlag und die Flugtickets sinken. Dann sah er sie mit einem Blick an, der sie alles andere als zuversichtlich stimmte, bevor er den Kopf in seine Hände stützte, ihn immer wieder schüttelte und anfing zu weinen.
Annabel war wie gelähmt. In den ganzen Jahren ihrer Ehe hatte sie ihn erst einmal weinen sehen. Das war vor fünf Jahren, als seine Mutter gestorben war. Damals hatte sie ihn spontan in die Arme genommen und wie ein Kind gewiegt, bis der Tränenstrom versiegt war. Er hatte sie gewähren lassen, hatte sich hinterher sogar dafür bedankt. Doch nun wusste sie nicht, was sie tun sollte. Er war ihr so fremd geworden in den letzten Monaten. Sie hatte Angst mit ihrer Reaktion vielleicht alles nur noch schlimmer zu machen. Deshalb sagte sie erst mal gar nichts. Sah ihm einfach nur schweigend zu.
Als er schließlich seinen Oberkörper aufrichtete und die nassen Wangen mit der Hand abwischte, wagte sie es doch, ihm die Frage zu stellen, die ihr schon so lange auf der Zunge brannte, nicht erst seit heute Abend: „Was ist los, Liebling? Bitte sag’ es mir. Sag’ endlich, was los ist? Ich spür doch schon seit Monaten, das etwas nicht stimmt!“ In dem Moment, als sie die Frage zu Ende gestellt hatte, wurde ihr mit einem Mal klar, wieso sie sie nicht schon viel früher gestellt hatte: Sie hatte Angst vor der Antwort. Angst, etwas zu erfahren, das sie gar nicht hören wollte. Auch wenn sie insgeheim immer noch hoffte, dass es dafür gar keinen Grund gab.
Er sah sie mit rotverweinten Augen an. Sein Blick drückte ein Bedauern aus, das ihr unter die Haut ging. Sie fröstelte. „Es tut mir so unendlich leid!“ sagte er. „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.“ Annabel merkte, wie ihr Magen immer mehr rebellierte. „Was tut dir leid, Harald?“ fragte sie und sah ihm direkt in die Augen, auch wenn er ihrem Blick auswich. Sie fühlte sich hundeelend.
„Ich kann nicht mit dir in Urlaub fahren.“ sagte er und räusperte sich. „Es wäre nicht recht. Nicht, nach allem, was passiert ist...“ Annabels Herz klopfte bis zum Hals. Irgendwie wusste sie, was er als nächstes sagen würde, hatte es vielleicht die ganze Zeit über insgeheim gewusst und den Moment der Wahrheit absichtlich hinausgezögert. „Ich habe jemand anderen.“ bestätigte Harald nun ihre schlimmsten Vermutungen. „Seit ungefähr vier Monaten. Ich hab das nicht gewollt! Ich meine, natürlich muss ich es gewollt haben, sonst wäre es nicht passiert. Aber ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Wirklich nicht! Am Anfang dachte ich, es sei nur ein Ausrutscher, eine Nacht der Versuchung, der ich nicht widerstehen konnte. Aber mit der Zeit... Annabel! Ich hab das wirklich nicht gewollt. Ich wollte dir nicht weh tun. Ich wollte nicht all das kaputt machen, was wir uns aufgebaut haben. Ich wollte, dass wir weiterhin eine glückliche Familie sind: du, Lisa und ich!“
Annabel versuchte Ordnung in ihren Kopf zu bringen. Ihre Gedanken überstürzten sich. Drehten sich im Kreis. Sie hätte jetzt etwas sagen sollen. Hätte vielleicht Fragen stellen sollen, um das alles besser zu verstehen. Wer war die andere und wo hatte er sie kennen gelernt? Seit wann genau ging das schon so? Ach nein, das hatte er ja schon erwähnt. Vier Monate. Sie versuchte, sich ihrer Gefühle klar zu werden, doch das einzige, was ihren Verstand mit Beschlag belegte, war das Wörtchen „wollte“! Harald war nicht dabei, sich zu entschuldigen, versuchte nicht einen Fehler wieder rückgängig zu machen. Er bat sie nicht, ihm zu verzeihen, um wieder ganz neu mit ihr anzufangen. Er hatte gesagt „Ich wollte, dass wir weiterhin eine glückliche Familie sind!“. Ich wollte – nicht: Ich will! Das war eindeutig die Vergangenheitsform!
„Was soll das heißen ‚wollte’?“ sprach Annabel ihren Gedanken laut aus. Sie musste sich einfach Klarheit verschaffen, auch wenn es noch viel mehr weh tun würde als allein schon die Tatsache, betrogen worden zu sein. Harald sah kurz zu ihr hin. Er sah unentschlossen aus. Dann stand er auf, ging quer durchs Zimmer zum Fenster und blieb dort mit verschränkten Armen stehen. Er schien zu überlegen. Wollte die richtigen Worte finden, wenn das in einer solchen Situation überhaupt möglich war. „Ich...“ begann er dann erneut und drehte sich langsam zu ihr um. „Annabel, ich würde dir so gerne sagen, das es einfach nur eine Affäre ist, eine Affäre war! Aber das kann ich nicht.“ Er machte eine Pause, als wolle er die Worte wirken lassen. „Weil es gelogen wäre!“ beendete er den Satz und stieß einen Seufzer aus.
Annabels Augen füllten sich mit Tränen. Was erzählte er ihr da überhaupt? Sie kam sich vor, wie in einem schlechten Film. „Wenn Lisa nicht wäre,“ fuhr er fort, „dann hätte ich schon längst...“ Da platzte Annabel der Kragen: das war einfach zu viel des Guten! „Du Mistkerl!“ schrie sie. „Und ich hab mir die ganze Zeit über die Augen ausgeweint, weil ich dachte, es sei alles meine Schuld, dass wir in letzter Zeit so viel streiten. Meine Schuld, weil ich nicht mehr arbeite und du allein für uns aufkommen musst. Gegrübelt, wie ich dir helfen könnte, damit du nicht mehr so viel Überstunden machen musst! Mir Vorwürfe gemacht und alle möglichen Alternativen gesucht, die uns aus dieser Sackgasse wieder hinausbringen könnten! Wie oft saß ich abends da und hab auf dich gewartet und mir gesagt, wie glücklich ich mich schätzen kann, einen Mann zu haben, der sich so für seine Familie aufopfert. Der alles tut, bis in die Puppen arbeitet, um uns ein angenehmes Leben zu bescheren. Ich dachte, der Stress sei schuld an deiner ständigen Gereiztheit und an unseren Streitereien! Pah! Kein Wunder, dass ich nicht mehr an dich herankam! Du warst ausgelaugt, weil die andere dich nach Feierabend regelmäßig auf Trab gehalten hat! Was hätte ich da noch ausrichten können? Und ich war so naiv zu glauben, dass du das alles nur zum Wohl der Familie getan hast. Wie oft habe ich mir auf die Zunge gebissen, weil ich mir sagte, dass es ungerecht von mir wäre, dir immer wieder vorzuhalten, dass du viel zu spät nach Hause kommst! Mein Gott, wie blöd ich war!“
Sie spürte, wie ihr die Tränen immer wilder übers Gesicht liefen. Ihr war speiübel. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft! Also ging sie kurzerhand zur Garderobe und griff nach ihrem Mantel. „Annabel!“ rief Harald ihr hinterher. „Wenn du jetzt gehst...“ Er brach mitten im Satz ab, bewusst, wie absurd eine solche Drohung seinerseits in Anbetracht der Lage war. An der Haustür drehte Annabel sich noch einmal zu ihm um. Im Gegensatz zu ihrer inneren Verfassung, klangen ihre Worte völlig ruhig: „Ich nehme an, dass du ohne Probleme einen anderen Ort zum Schlafen finden wirst. Wenn nicht, kannst du ja immer noch in ein Hotel gehen. Auf jeden Fall möchte ich dich nicht mehr sehen, wenn ich in –“ Sie sah auf die Uhr. „ - sagen wir einer halben Stunde zurückkomme. Was Lisa angeht, so möchte ich, dass sie im Moment weiterhin davon ausgeht, dass wir morgen glücklich zusammen nach Madeira fliegen werden. Ich habe ihr versprochen, sie übermorgen von dort anzurufen. Das werde ich auch tun. Alles weitere überlege ich mir bis dahin und halte dich auf dem Laufenden.“ Dann zog sie die Tür ins Schloss und trat in die kühle Nachtluft, die sie gierig in sich aufsog. Sie ging die Straße hinunter in Richtung Innenstadt.
Als Annabel eine Stunde später wieder vor der Tür ihres kleinen Eckhauses ankam, brannte nur noch das Licht in der Einfahrt. Haralds Auto stand nicht mehr auf dem Parkplatz. Er war also wirklich weg. So wie sie es von ihm verlangt hatte. Sie hatte sich die ganze letzte Stunde versucht, darüber klar zu werden, was sie empfand. Außer einer gähnenden Leere hatte sie nichts gefunden. Ja, sie fühlte sich leer. Ausgelaugt und leer. Und unglaublich naiv. Wie hatte sie sich nur so sehr von ihm ins Bockshorn jagen lassen können? Dabei war ihr der Gedanke, er könne fremd gehen, durchaus schon gekommen. Doch sie hatte ihn immer erfolgreich verdrängen können. So sehr, dass sie seit Lisas Vorschlag mit der romantischen Reise zu zweit tatsächlich wieder davon überzeugt war, dass alles nur eine Frage der Zeit war. Der Zeit, die ihr Mann, wie sie geglaubt hatte, zu sehr in die Arbeit steckte. Der Zeit, die sie sich schon so lange nicht mehr für sie beide genommen hatten. Der Zeit, die sie eine Woche gemeinsam auf Madeira hätten, und nach der sie wieder genauso glücklich wie vorher zurückkommen würden.
So sehr konnte man sich täuschen! So sehr konnte man sich selbst etwas vormachen! Sie schloss die Haustür auf. Es war merkwürdig, das Haus so still vorzufinden. So ganz allein zu sein. Natürlich hatte sie oft schon Abende allein verbracht, aber nie war sie im Haus ganz allein gewesen. Lisa war da gewesen. Und ihr Mann war auch immer irgendwann gekommen. Wenn auch spät, aber gekommen war er immer. Allein der Gedanke daran, wie er sich all die Abende mit der anderen vergnügt hatte, während sie sich Stunde um Stunde mehr um ihn gesorgt hatte. Jedes Mal. Jeden Abend. Seit vier Monaten! Allein der Gedanke daran, machte sie wütend! Sie war nicht so sehr verletzt als vielmehr wütend!
Doch dann ging sie ins Wohnzimmer und sah den noch immer gedeckten Tisch. Der Umschlag lag noch da, wo er ihn hatte fallen lassen. Er war weg. Es war vorbei. Langsam ging sie weiter ins Schlafzimmer. Der Koffer, den sie für Madeira gepackt hatte, stand unangerührt vor dem Bett. Ein zweiter Koffer fehlte. Er musste ein paar Sachen gepackt und mitgenommen haben. Wahrscheinlich war er jetzt schon bei ihr, bei der anderen. Vielleicht lagen sie sogar schon wieder gemeinsam im Bett... Hastig schüttelte Annabel den Kopf. Nein, nein, sie durfte nicht daran denken! Das würde ihr nur unnötig weh tun!
Aber auch ohne ihn sich mit der anderen vorzustellen, spürte sie, wie der Schmerz immer größer wurde. Sie hatte ihn verloren. Er hatte sie betrogen. Aber als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte er sie gleich ganz ausgetauscht. Hatte sie einfach fallen gelassen. Die ganzen gemeinsamen Jahre in kürzester Zeit weggeschmissen. Als wäre es nichts. Genauso überstürzt wie er ihr damals den Heiratsantrag gemacht hatte, hatte er nun seine Geliebte zur Nummer eins gemacht. Und wenn Lisa nicht wäre, hätte er vielleicht noch nicht einmal vier Monate damit gewartet!
Sie fragte sich, wie sie wohl reagiert hätte, wenn er ihr einfach nur einen Seitensprung gestanden hätte? Hätte sie ihm verziehen? Hätte sie seine Entschuldigung akzeptiert und wieder mit ihm von vorne angefangen, als sei nichts gewesen? Sie wusste es nicht und war fast erleichtert, nicht vor dieser schweren Entscheidung gestanden zu haben. Er hatte sie ihr abgenommen, die Entscheidung, auch wenn sie es letztendlich gewesen war, die ihn gebeten hatte zu gehen. Aber hatte sie wirklich eine andere Wahl gehabt, nachdem er ihr gestanden hatte, dass es mehr als nur eine Affäre für ihn war?
Sie ließ sich kraftlos aufs Bett fallen und fing erneut an zu weinen. Wieso? Wieso hatte es soweit kommen müssen? Wieso hatten sie nicht vorher einen Ausweg gefunden, bevor er sich mit einer anderen eingelassen hatte? Wie gerne hätte sie jetzt mit jemandem geredet, ihr Herz ausgeschüttet. Doch der einzige, mit dem sie immer über all ihre Sorgen und Probleme geredet hatte, war ihr Vater gewesen. Und der war nun nicht mehr da. Natürlich hatte sie auch die ein oder andere Freundin, aber mit denen wollte sie darüber im Moment nicht reden. Wieso konnte sie sich auch nicht erklären, aber es war nun einmal so.
Sie drehte sich zur Seite und sah den Koffer auf dem Boden stehen. Eine Woche Madeira! Wie gerne wäre sie mal wieder in Urlaub geflogen! Wenn sie Glück hatte, würde sie vielleicht wenigstens einen Teil der Reise zurückerstattet bekommen, obwohl sie die Reisebüroangestellte heute ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass es sich um ein Lastminute-Sonderangebot handelte, das eine Stornierung ausschloss.
Sie stand auf, um die gepackten Sachen wieder in den Schrank zu räumen. Wie fröhlich war sie gewesen, als sie heute Nachmittag alles sorgfältig vorbereitet hatte, hatte sich ausgemalt, wie sie gemeinsam am Strand entlang laufen und abends gemütlich in dem kleinen, verträumten Restaurant essen würden...
Das Glücksgefühl, das sie den ganzen Tag über begleitet hatte, gemischt mit der freudigen Erwartung auf seine Reaktion, hatte einer dumpfen Ernüchterung Platz gemacht. Platz machen müssen. Sie hatte keine andere Wahl! Sie war nicht gefragt worden! All die schönen Pläne für die Zukunft, die Hoffnung, irgendwann doch noch ein zweites Baby zu bekommen, Lisa weiterhin gemeinsam heranwachsen zu sehen, all das hatte sich an einem einzigen Abend in Luft aufgelöst. Nichts würde mehr so sein wie vorher...
Lisa! Meine Güte, was sollte sie ihr bloß sagen! Wie sollte sie es ihr sagen und vor allem wann? Eigentlich hätte sie sich gleich morgen ins Auto setzen und zu ihr und ihrer Mutter fahren müssen, aber allein schon der Gedanke daran bereitete ihr ein flaues Gefühl im Magen. Außerdem war Lisa so begeistert von der Idee gewesen, ihre Omi endlich wieder auf andere, fröhlichere Gedanken zu bringen! Eine solche Nachricht würde dem Vorhaben sicherlich einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen!
Und trotzdem! Früher oder später musste sie es ihr sagen. Da ging kein Weg dran vorbei! Warum also nicht davon profitieren, dass Lisa bei ihrer Mutter war, um dieser schwierigen Situation nicht so völlig allein ausgesetzt zu sein? Ihre Mutter würde ihr sicherlich helfen, das Richtige zu tun und zu sagen. Ja, und sie würde es sich sicherlich nicht nehmen lassen, ihr ein „Das hab ich dir doch von Anfang an gesagt!“ in Bezug auf Harald an den Kopf zu knallen. Nein, danke! Darauf konnte sie im Moment wirklich verzichten!
Sie hatte Haralds Sachen mittlerweile alle weggeräumt und wollte gerade anfangen, auch ihre Kleider zurück in den Schrank zu legen. Doch irgendwie brachte sie es nicht fertig! Sie hatte sich wirklich auf diese Reise gefreut! Allein die Idee, mal wieder richtig wegzufahren, hatte sie ihr Trübsal der letzten Wochen mit einem Schlag vergessen lassen. Es war nicht nur die Aussicht gewesen, mal wieder mit Harald zu zweit wegzufahren. Es war auch die Tatsache, nach all den Jahren seit Lisas Geburt, in denen sie immer nur höchstens zwei von den sechs Schulferienwochen zu dritt weggefahren waren und dann auch immer nur an Orte, die nicht allzu weit entfernt gewesen waren, weil Harald für seine Arbeit erreichbar bleiben musste und wollte, endlich mal wieder eine Flugreise auf eine traumhaft schöne Insel machen zu können. Sie hatte sich die ganzen letzten Tage über ausgemalt, wie es wäre, endlich wieder am Meer zu stehen und mit nackten Füssen im schäumenden Wasser der Brandung den Strand entlang zu laufen...
Zum Teufel noch mal! Wieso musste Harald ihr ausgerechnet heute Abend die ganze Wahrheit erzählen? Er hatte ihr vier Monate lang etwas vorgemacht. Hätte er damit nicht auch noch diese eine Woche warten können! Dann hätte sie wenigstens noch diese Reise mitnehmen können, wenn er ihr sonst schon nichts mehr ließ von ihren gemeinsamen Jahren! Erschöpft ließ sie den Kopf in ihre Hände sinken. Was sollte sie jetzt bloß machen?
‚Und was, wenn sie einfach alleine fliegen würde?’ schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. ‚Unsinn!’ schalt sie sich gleich selbst. Doch jetzt, da der Gedanke erst einmal aufgetaucht war, wurde sie ihn so schnell nicht wieder los. Hier zu Hause würde ihr sowieso nur die Decke auf dem Kopf fallen... Andererseits, alleine? Ganz alleine eine Woche in Urlaub fliegen? Nein, darauf hatte sie nun auch wieder keine Lust. Und wenn sie jemanden finden würde, der kurzfristig mit ihr mitkam...? Kurzfristig? Kurzfristig war gar kein Ausdruck! Wer würde schon spontan eine Woche wegfahren können, wenn der Flieger in nur ein paar Stunden abhob? Schließlich war es bereits elf Uhr abends und die Maschine war für morgen früh um 10 vorgesehen!
Doch Annabel hielt sich an dieser Idee fest wie eine Ertrinkende an einem Strohhalm. Systematisch ging sie die Liste ihrer Bekannten im Kopf durch. Die Pärchen schieden schon mal aus. Blieben die Singles oder Geschiedenen. Und wenn möglich jemand, der eher ihr nahe stand als Harald in Anbetracht der Umstände... Doch sie konnte noch so grübeln, es wollte ihr einfach niemand einfallen. Frustriert ließ sie sich zurück aufs Bett sinken und stieß einen großen Seufzer aus. „Und wenn ich mein Adressbuch von früher auskrame?“ überlegte sie laut. „Wenn die Telefonnummer nach all den Jahren überhaupt noch stimmen!“ Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Das Adressbuch lag noch genau da, wo sie es beim letzten Umzug verstaut hatte: in der untersten Schublade ihres Schreibtisches ganz hinten. Sie schlug es auf und ging die verschiedenen Namen durch. Die meisten davon waren mit bunten Erinnerungen aus ihrer Studienzeit verbunden, die ihr ein kurzes, nostalgisches Lächeln auf die Lippen zauberten. Allerdings hatte sie zu den meisten davon auch seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr!
Annabel seufzte erneut und blätterte Seite für Seite weiter. Was für eine unsinnige Idee! Am besten, sie akzeptierte endlich, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder sie flog alleine oder sie versuchte morgen früh, sich einen Teil der Reise zurückzahlen zu lassen! Sie war gerade beim Buchstaben ‚S’ angekommen, als ihr Blick auf einen Namen fiel, der ein breites Grinsen auf ihr Gesicht zauberte: Simon! Natürlich, wieso war sie da nicht gleich drauf gekommen! Und die Nummer, die neben seinem Namen stand, war eine Handynummer. Es bestanden also wirklich gute Chancen, dass sie ihn, egal wo er auch war, sofort erreichen konnte! Es sei denn, er hatte seine Nummer geändert. Aber wenn sie sich richtig erinnerte, war es noch gar nicht so lange her, dass sie das letzte Mal etwas von ihm gehört hatte. Höchstens ein oder zwei Jahre. Im Vergleich zu all den anderen, von denen sie zum Teil über zehn Jahre nichts mehr gehört hatte, waren das Peanuts!
Simon... Ein nostalgisches Lächeln umspann ihre Lippen. Simon war während ihres Studiums ihr bester Freund gewesen. Besser als irgendeine von ihren Freundinnen zu dieser Zeit. Und wenn sie es recht überlegte auch besser als irgendeine Freundin überhaupt bis heute. Sie hatten stundenlang reden können, zig Ausflüge an den Wochenenden gemeinsam gemacht und zusammen für die Prüfungen gelernt. Sie hatten alles miteinander geteilt bis zu den intimsten Geheimnissen. Alles, bis auf eins: ihre Beziehung hatte die Grenzen der Freundschaft nie überschritten. Sicherlich aus Angst, dadurch etwas kaputt zu machen, das nie wieder zu kitten gewesen wäre!
Ihre regelmäßigen Treffen hatten auch noch angehalten, nachdem Annabel Harald kennen gelernt hatte. Erst nach Annabels Hochzeit zog sich Simon immer mehr zurück. Annabel hatte zwar weiter versucht, den Kontakt zu halten, indem sie regelmäßig Weihnachts- und Geburtstagskarten an Simon schickte, aber offensichtlich war für die Freundschaft, die sie während der ganzen Studienjahre gehabt hatten, einfach kein Platz mehr.
Simon... Wie würde er wohl reagieren, wenn sie nach so langer Zeit wieder anrufen würde? Mit zitternden Händen griff Annabel zum Telefon und wählte die Nummer. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals, als das Freizeichen ertönte. Es läutete schon zum fünften Mal, als der Anrufbeantworter ansprang. Es war tatsächlich noch Simons Anschluss, aber er war nicht da. Annabel legte auf. Es würde sowieso nichts bringen, eine Nachricht zu hinterlassen, denn bis er sie abhören würde, wäre es für den Vorschlag, den sie ihm unterbreiten wollte, sicher schon zu spät. Wozu also unnötig Staub aufwirbeln? „Schade.“ murmelte sie und ging schweren Herzens wieder zu ihrem Koffer zurück. Dann würde sie eben doch alles stornieren. Allein zu fliegen war noch schlimmer als allein hier zu bleiben!
Gerade hatte sie ihr hübsches Abendkleid in den Schrank zurückgehängt, als das Telefon klingelte. Annabel sah auf die Uhr. Es war fast Mitternacht! Lisa und ihre Mutter waren sicher schon lange im Bett. Wer um Himmels konnte um diese Zeit noch bei ihr anrufen? Harald vielleicht?
„Hallo?“ meldete sie sich nach dem dritten Klingeln. „Hallo, mit wem spreche ich denn?“ hörte sie eine männliche Stimme sagen. Misstrauisch zog sie die Augenbrauen zusammen. „Annabel Maier, wieso?“ „Weil Ihre Nummer auf meinem Display angezeigt wurde. Sie haben versucht...Annabel? Die Annabel?“ „Simon!“ Ja, jetzt erkannte sie ihn auch. Eigentlich hätten sie seine Stimme sofort erkennen müssen nach all den Jahren, in denen sie gemeinsam Stunden über Stunden am Telefon, in Cafés und bei sich zu Hause geredet hatten. „Das ist ja ’n Ding!“ rief Simon nun in den Hörer. „Wieso rufst du mich denn urplötzlich und mitten in der Nacht an? Wo bist du denn?“ „Ach Simon...“ seufzte sie. „Wenn du wüsstest!“ Und dann platzte alles ohne Umschweife einfach aus ihr heraus und sie erzählte ihm unter Tränen all das, was sich heute Abend und in den letzten Monaten ereignet hatte.
Simon hörte ihr zu. Auch wenn sie zwei Jahre nichts voneinander gehört hatten und ihr letztes Zusammentreffen noch viel weiter zurücklag, schien es ihm völlig normal, dass er jetzt wieder für sie da war. Es war, als hätten sie sich nie aus den Augen verloren. Als würden sie immer noch gemeinsam studieren und Annabel schüttete ihm einmal mehr ihr Herz aus, weil sie von einem ihrer Freunde enttäuscht worden war. „Tut mir leid, wenn ich dich einfach so mitten in der Nacht überfalle, aber..“ „Ist schon gut.“ meinte Simon. „Dazu sind Freunde doch da.“ „Das tut verdammt gut, so etwas zu hören...“ Wieder fing Annabel an zu weinen.
Simon wartete ein wenig, bis das größte Schluchzen nachgelassen hatte. Er wusste, dass sie das jetzt brauchte, sein wortloses Verständnis. Früher war das auch immer der beste Weg gewesen, ihr zu helfen. Besser als alle besänftigenden Worte. Erst als ein letzter, abschließender Seufzer am anderen Ende der Leitung zu hören war, unterbreitete er ihr seinen Vorschlag, der sich schon seit dem Moment, als er ihren Namen und ihre Stimme erkannt hatte, in seinem Kopf geformt hatte: „Weißt du was? Wie wär’s, wenn wir uns morgen oder die Tage einfach mal treffen? Es ist schon eine Ewigkeit her, dass wir uns nicht gesehen haben, und soweit wohnen wir doch gar nicht voneinander weg!“
Annabel fiel ein Stein vom Herzen. Simon hatte sich kein bisschen verändert. Er war immer noch der gute, alte Kumpel, auf den sie jederzeit zählen konnte. Sie war froh, ihn angerufen zu haben. Wenn er schon ein Treffen vorschlug, dann würde er vielleicht auch ihr Angebot, mit ihr eine Woche wegzufahren, nicht abschlagen. „Naja“, begann sie etwas zögerlich aus Angst vor ihrer eigenen Courage, „deshalb hab ich dich eigentlich auch angerufen. Ich hatte nämlich ein Attentat auf dich vor...“ „Früher war ich für Attentate von dir immer zu haben! Schieß los!“ Simons Neugier war geweckt. „Ich weiß natürlich nicht, ob du mittlerweile auch in festen Händen bist oder…” Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und unterbrach sie schäkernd: „Sag jetzt bloß nicht, dass du wilden Sex mit mir haben willst, um dich an deinem Mann zu rächen!“ Annabel stimmte in sein Lachen ein. „Nein, nein. Keine Angst. Wir haben damals nie die Grenze der Freundschaft überschritten, dann werde ich heute auch nicht damit anfangen!“
Einen Moment lang war es still. Dann räusperte sich Annabel und fuhr fort: „Naja, ich hab doch jetzt die zwei Flugtickets und das Hotel und...“ „Ist gebongt!“ Simon unterbrach sie mitten im Satz, und seine Spontaneität brachte sie erneut zum Lachen. „Simon! Du kannst doch nicht einfach so... ich meine, du musst doch sicherlich erst einmal klären, ob du auf der Arbeit überhaupt...“ „Wieso Arbeit? Es sind doch Schulferien. Als Lehrer hat man da immer frei!“ „Lehrer? Seit wann bist du denn Lehrer? Das letzte Mal hast du doch noch in einem Unternehmen für... Was haben die noch mal hergestellt?“ „Willst du das jetzt wirklich wissen oder wollen wir die Diskussion über unser beider Leben in den letzten zehn Jahren nicht lieber auf morgen im Flugzeug verschieben?“ Annabel musste grinsen. „Immer noch derselbe Pragmatiker! Aber du hast recht. Es ist schon ziemlich spät, vielleicht sollten wir einfach einen Zeitpunkt und Ort für morgen am Flughafen vereinbaren und alles weitere dann sehen.“ „Gute Idee!“
Als Annabel kurz darauf den Hörer auflegte, war sie zwar erleichtert über Simons spontane Zusage, aber ein wenig mulmig war ihr auch. Immerhin hatte sie Simon seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen! Und jetzt fuhr sie einfach so mir nichts dir nichts mit ihm in Urlaub! Andererseits waren sie früher auch schon gemeinsam weg gefahren. Verlängerte Wochenenden in interessante Städte in ganz Europa, Skiurlaub, Sommerferien... immer hatten sie sich gut verstanden und nie waren sie in Versuchung gekommen, die Grenze der Freundschaft zu überschreiten. War es das, was ihr Angst machte? Dass sie die Grenze der Freundschaft mit Simon überschreiten könnte?
Annabel schüttelte den Kopf. Unsinn! Wieso sollte ihre Freundschaft nach so vielen Jahren plötzlich in ein wildes, gegenseitiges Verlangen umschlagen? Sie hatte in Simon noch nie mehr gesehen als einen guten Kumpel, wieso sollte sich das plötzlich ändern? Wenn sie ein ungutes Gefühl wegen dieser Reise mit ihm hatte, dann sicherlich nur wegen Lisa. Wie sollte sie ihrer kleinen Tochter das alles nur erklären? Wie sollte sie ihr verständlich machen, dass sie plötzlich mit einem anderen Mann in Urlaub gefahren war?
Dass Lisa sofort beim ersten Anruf von ihr fragen würde, wie es auf Madeira war und ob ihr Papa sich über die Überraschung gefreut hatte, stand ganz außer Zweifel. Aber wie sollte sie darauf reagieren? Sollte sie ihr die Wahrheit sagen? Die ganze, verdammte, beschissene Wahrheit, dass ihr Vater seit Monaten mit einer anderen rumhurte!? Nein, natürlich nicht! Natürlich durfte sie ihre kleine Tochter nicht mit der harten Realität der Erwachsenenwelt belasten. Natürlich würde sie eine andere Lösung finden müssen, auch wenn es ihr zuwider war, Lisa anlügen zu müssen. Aber vielleicht würde es reichen, ihr einfach nicht die ganze Wahrheit zu sagen? Wenn sie ihren Fragen geschickt ausweichen würde, dann würde sie sie doch gar nicht anlügen müssen, oder?
Während Annabel das Abendkleid wieder zurück in ihren Koffer legte und noch ein paar andere Sachen dazu packte, schaffte sie es einfach nicht, an etwas anderes zu denken als an ihre Tochter, und wie sie sich ihr gegenüber in Anbetracht der neuen Situation nun verhalten sollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, Lisa zu erzählen, dass ihr Papa nicht mehr zu Hause war, dass er sie, Annabel, ihre Mama, wegen einer anderen verlassen hatte. Schon gar nicht, nachdem sich ihr kleines Mäuschen so über ihre Idee mit der Überraschungsreise gefreut hatte. Sie war davon überzeugt gewesen, dass ihre Mama und ihr Papa einfach nur mal wieder gemeinsam Urlaub machen müssten, damit alles wieder gut würde. Sie hatte gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war und hatte mithelfen wollen, es wieder in Ordnung zu bringen.
Nein, sie würde es nicht übers Herz bringen, Lisa die Wahrheit zu sagen. Nicht gleich zumindest. Und schon gar nicht am Telefon. Natürlich hatte sie sich immer geschworen, ihre Tochter nie anzulügen. Aber es gab Situationen, in denen man einfach keine Wahl hatte, auch wenn sie genau wusste, dass die Geheimnistuerei nicht gut gehen konnte. Dass am Ende die Wahrheit doch ans Licht käme. Und dass sie dann ihrer Tochter zu allem Übel auch noch erklären müssen würde, warum sie sie belogen hatte...
Gerade als Annabel überlegte, wie sie ihren Entschluss, Lisa erst mal keinen reinen Wein einzuschenken, ihrem Mann mitteilen sollte, ertönte die Melodie ihres Handys, die ihr eine SMS ankündigte: „Werde Lisa morgen anrufen und sagen, dass ich kurzfristig für längere Zeit auf Geschäftsreise musste und deshalb eure Überraschungsidee nicht annehmen konnte. Ist das ok für dich?“ „Na, wenn das kein Zufall ist!“ murmelte sie verbittert. Aber da der Vorschlag ihrer eigenen Entscheidung entgegen kam, schickte sie Harald ein kurzes SMS zurück: „Ok. Sag mir bitte kurz Bescheid, wenn du sie angerufen hast. P.S.: Fliege morgen trotzdem nach Madeira.“