Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 9
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Sie hatte den ganzen Tag gegrübelt und erneut alle Vor- und Nachteile eines Besuchs ihrer Enkelin gegeneinander abgewägt. Eine ganze Woche. Das war verdammt lang, um sich am Riemen zu reißen. Würde sie es wirklich schaffen, ohne vor ihrer Enkelin in Tränen auszubrechen? Würde sie es schaffen, positiv und fröhlich zu sein? All ihren Kummer, den der Tod ihres Mannes in ihr ausgelöst hatte, für eine Woche einfach ad acta legen?
Sie hatte plötzlich Angst, unglaubliche Angst, dieser Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Schwach werden zu können vor ihrer Enkelin, in Tränen vor ihr auszubrechen. Sie wusste, dass es weder ihr noch ihrem verstorbenen Mann etwas brachte, wenn sie sich weiterhin vergrub und die Augen bis zur Erschöpfung ausweinte! Sie wusste, dass sie endlich akzeptieren musste, dass das Leben weiterging. Ohne ihn. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie dafür schon bereit war. Ob sie es schaffen würde, ihre Enkelin nicht mit in ihren Schmerz und ihren Kummer hineinzuziehen, sondern im Gegenteil von Lisas Besuch zu profitieren, um endlich wieder nach vorne zu blicken. Es war die beste Gelegenheit, endlich den Tod ihres Mannes hinter sich zu lassen und zu akzeptieren, dass ihre Zeit noch nicht gekommen war, auch wenn sie das in den letzten Monaten mehr als einmal inständig gehofft hatte...
‚Nein‘, schalt sie sich selbst wütend, ‚meine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich habe noch eine wichtige Rolle auf dieser Erde. Es gibt noch Menschen, die mich brauchen, für die ich da sein muss.‘ Und dazu gehörte in erster Linie ihre Enkelin Lisa. Außerdem war da auch noch ihre Tochter... Annabel. Traurig senkte Hanna den Kopf. Wieso überkam sie immer das Gefühl, versagt zu haben, wenn sie an ihre Tochter dachte? Wieso war es ihr nie gelungen, so ein inniges Verhältnis zu ihr aufzubauen, wie sie es jetzt zu ihrer Enkelin hatte? Ab welchem Zeitpunkt hatten sie sich so unendlich voneinander entfernt?
Eigentlich hatte Annabel ihrem Vater schon immer näher gestanden als ihrer Mutter. Eine gewisse Eifersucht deswegen verspürt zu haben, leugnete Hanna gar nicht. Trotzdem hatte es sie hart getroffen, als ihre Tochter ihr dies eines Tages bei einer lautstarken Auseinandersetzung an den Kopf geknallt hatte. „Du bist ja nur eifersüchtig!“ hatte ihre Tochter sie angeschrien. „So wie du immer auf meine Beziehung mit Papa eifersüchtig warst!“
Dabei hatte Hanna es doch nur gut gemeint. Sie hatte ihre Tochter doch nur vor den Konsequenzen einer überstürzten Heirat mit Harald warnen wollen. Sie hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt, was die Beziehung ihrer Tochter zu diesem jungen, aufstrebenden Ingenieur anging. Dabei konnte sie ihrem Schwiegersohn noch nicht einmal konkret etwas zum Vorwurf machen. Sie hatte eben einfach nur das Gefühl, dass er ihre Tochter nicht so glücklich machen würde, wie sie es sich für sie immer gewünscht hatte. Zu sehr hatte sie sein Auftreten, seine Art, sein ganzes Verhalten an jemanden erinnert, der ihr vor langer Zeit einmal das Herz gebrochen hatte. Bei dem sie genauso wie Annabel völlig blind vor Liebe gewesen war, was sie mehrere Male sehr tief hatte fallen lassen.
Hanna seufzte. Im Nachhinein konnte sie es ihrer Tochter nicht verdenken, ihre gut gemeinten Warnungen in völlig falschen Hals bekommen zu haben. Immerhin hatte Harald sich nichts, aber auch rein gar nichts zu Schulden kommen lassen und ihre Tochter, soweit sie das als Außenstehende beurteilen konnte, immer korrekt behandelt. Doch da waren diese kleinen Gesten und Blicke, die er anderen Frauen zukommen ließ, wenn sie in größerer Gesellschaft waren. Genauso wie Hannas erste große Liebe damals. Sie war davon überzeugt, dass Harald zu der Sorte Mann gehörte, die immer wieder die Anerkennung und Bestätigung anderer Frauen suchten. So sehr, dass es ihnen langfristig schlichtweg unmöglich war, sich mit einer einzigen Beziehung zufrieden zu geben!
Annabel sah das alles natürlich anders. Und Hanna hatte nie den geringsten Beweis für ihre Theorie bekommen. Natürlich wünschte sie ihrer Tochter nichts sehnlicher, als dass dies noch lange so bleiben würde. Aber immer wieder überkam sie ein ungutes Gefühl, wenn sie ihren Schwiegersohn auf Familienfeiern oder anderen großen Festen aus der Ferne dabei beobachtete, wie er schönen Frauen hinterher sah und dabei dieses unverkennbare Funkeln in den Augen hatte, das den Reiz und die Lust der Verführung widerspiegelte.
Wie oft hatte Hanna versucht, sich zur Räson zu rufen und sich davon zu überzeugen, dass sie einfach zu schwarz sah; dass sie ihre eigene Geschichte von damals einfach zu misstrauisch gegenüber allen Männern oder zumindest solchen, die gerne flirteten und den Macho heraushingen ließen, hatte werden lassen. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass ihre Tochter alt genug war, um ihr Leben selbst zu meistern. Dass sie sich nicht einmischen sollte in eine Sache, bei der sie ihrer Tochter weder die Entscheidung noch die eventuell daraus resultierende Enttäuschung abnehmen konnte. Doch als Annabel nach einer nur sechsmonatigen Wochenendbeziehung freudestrahlend vor ihr stand und ankündigte, dass Harald sie um ihre Hand gebeten und sie bereits eingewilligt hatte, da hatte Hanna einfach nicht an sich halten können und ihr in ihrer mütterlichen Fürsorge vehement von dieser übereilten Heirat abgeraten!
Natürlich konnte ihre Tochter damals nicht ahnen, dass Harald bei Hanna all die süßsauren Erinnerungen ihrer ersten großen Liebe wachgerufen hatte. Wie auch! Hanna hatte lange, mühsame Jahren zwischen Leiden, Hoffnung und Nostalgie verbracht. Als es ihr dann endlich gelungen war, diese Geschichte ein für allemal ad acta zu legen, hatte sie sich geschworen, nie wieder darüber zu reden. Selbst ihr Mann war da keine Ausnahme gewesen. Sie hatte ihm zwar angedeutet, dass da mal jemanden gewesen war, der ihr sehr weh getan hatte. Doch in Einzelheiten war sie nie gegangen.
Erstaunt stellte Hanna fest, dass sie jetzt, nach all den Jahren, zum ersten Mal ein leichtes Bedauern empfand, ihrer Tochter nie etwas davon erzählt zu haben. Sie hätte sie damals zur Seite nehmen und ihr erklären sollen, warum sie Harald gegenüber so misstrauisch war. Dass das nichts damit zu tun hatte, dass sie ihn nicht mochte. Sondern damit, dass sie selbst einmal von einem Mann wie Harald sehr verletzt worden war, und sie als Mutter ihre Tochter einfach nur beschützen wollte.
Stattdessen hatten sie sich angeschrien. Die Auseinandersetzung war ausgeartet und zur großen Abrechnung zwischen Mutter und Tochter geworden. All die kleinen Dinge, die sich offensichtlich über Jahre angestaut hatten, hatten sie sich lautstark an den Kopf geworfen. Sie hatten sich gegenseitig sehr weh getan. Und keine von beiden hatte jemals den Mumm aufgebracht, das Thema erneut zur Sprache zu bringen und sich für die Art und Weise der Auseinandersetzung zu entschuldigen. Beim nächsten Zusammentreffen hatten sie einfach so getan, als sei nie etwas geschehen.
Doch von diesem Zeitpunkt an war ein Riss in ihrer Beziehung. Sie redeten nur noch das Nötigste miteinander. Wenn Annabel ein Problem besprechen wollte, ging sie damit zu ihrem Vater. Nicht, dass sie das vorher nicht auch schon oft getan hätte, aber nun war es systematisch so. Zu ihrer Mutter war Annabel höflich, aber distanziert. Annabels Vater hatte immer wieder versucht, beide dazu zu bewegen, aufeinander zuzugehen. Aber keine von beiden war dazu bereit gewesen. Und mit den Jahren war der Abstand immer mehr gewachsen.
Hanna wusste, dass Annabel insgeheim auf eine Entschuldigung von ihr wartete, vor allem weil sich bis heute ihr Misstrauen gegenüber Harald nie als berechtigt erwiesen hatte. Im Gegenteil: er zeigte sich als fürsorglicher Vater und zuvorkommender Ehemann. Doch Hanna schaffte es einfach nicht, die Zweifel gegenüber ihrem Schwiegersohn ganz wegzufegen. Deshalb hatte sie es auch nie fertig gebracht, sich mit ihrer Tochter über dieses Thema auszusprechen. Sie hätte nicht gewusst, wie sie es ihr hätte erklären sollen, ohne ihre eigene Geschichte von damals erzählen zu müssen. Und sie hatte auch Angst vor einer erneuten Auseinandersetzung, die alles nur noch schlimmer gemacht hätte.
Die Jahre waren vergangen und es hatte sich eine Art Routine zwischen ihnen eingespielt. Bei jedem Besuch fiel Annabel ihrem Vater überglücklich in die Arme, während sie ihrer Mutter die Hand drückte und an Geburtstag und Weihnachten auch mal einen Kuss auf die Wange gab. Hanna bildete sich ein, dass dies irgendwann selbstverständlich für sie geworden war, doch der Stich, den es ihr jedes Mal versetzte, hatte nie an Intensität verloren. Wollte sie die letzten Neuigkeiten aus dem Leben ihrer Tochter erfahren, musste sie ihren Mann fragen, dem Annabel weiterhin alles ausführlich erzählte, während sie auf ihre Fragen nur ausweichende, mitunter sogar genervte Antworten gab. Wenn sie als Mutter instinktiv spürte, dass etwas mit ihrem Kind nicht stimmte, ließ sie ihren Mann anrufen, und in den meisten Fällen hatte sich ihre Sorge als berechtigt erwiesen. Annabel war ihrem Vater in solchen Fällen immer besonders dankbar, denn sie fand es tröstlich zu wissen, dass er spürte, wenn sie ihn brauchte, und dass er immer für sie da war. Dass ihre Mutter dahinter steckte, wusste sie nicht. Hanna wollte das nicht, denn sie war überzeugt, dass Annabel dann dicht gemacht hätte. Ihr war es lieber, dass ihr Mann die ganzen Lorbeeren abbekam, als womöglich gar keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter zu haben.
Mit dem Tod ihres Mannes hätte vielleicht alles wieder besser werden können. Doch auch da war alles so anders gelaufen als sie es sich gewünscht hätte. Sie erinnerte sich noch genau an den Moment, als die Polizei ihr die traurige Nachricht überbracht hatte. Sie war in Tränen ausgebrochen und in den Sessel gesackt. Chris war gerade bei ihr gewesen und hatte ihr sofort ein Beruhigungsmittel gegeben. „Ich muss Annabel anrufen.“ hatte sie immer wieder geschluchzt. Aber sie hatte es einfach nicht fertig gebracht, es tatsächlich zu tun. Mehrmals hatte sie den Hörer abgenommen und wieder aufgelegt. Schließlich war Chris es gewesen, die ihr diese Aufgabe abgenommen hatte. Hanna hatte immer wieder versucht, sich zu rechtfertigen und natürlich hatten alle Verständnis dafür aufgebracht, weil sie in einer Art Schockzustand gewesen war. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich weiterhin Vorwürfe machte, ihre Tochter nicht selbst angerufen zu haben. Sie hatte sich die ganzen letzten Jahre so sehr darauf verlassen, dass das Verhältnis zu ihrer Tochter über ihren Mann lief, dass sie nicht einmal am Tag seines Todes fähig gewesen war, diesen wichtigen Moment mit ihrer Tochter zu teilen.
Natürlich war Annabel sofort gekommen und sie hatten sich weinend in den Armen gelegen. Aber geredet hatten sie nicht. Es war einfach nicht der richtige Moment gewesen, über all das zu reden, was schon so lange zwischen ihnen stand. Und irgendwann hatte Hanna angefangen, sich abzuschotten. Nicht nur von Annabel, sondern von allen. Es war so viel einfacher gewesen, sich in die Trauer zu flüchten als über sie zu reden. Über sie und über all die anderen Dinge, die sie für ihr neues Leben ohne ihren Mann in Angriff hätte nehmen müssen.
Die Trauer war für Hanna wie eine Zuflucht geworden, wie ein Ort, an dem sie vor den anderen „in Sicherheit“ war. Wenn sie alleine war, war sie niemandem Rechenschaft schuldig. Sie musste nicht die ständigen Fragen beantworten, warum sie nach einem Jahr immer noch nicht wieder unter Leute ging, immer noch nicht wieder lachte, immer noch jeden Tag um den Verlust ihres geliebten Mannes weinte. Alleine brauchte sie sich nicht all die gut gemeinten Ratschläge anhören, was es alles gab, um über die Trauer hinweg zu kommen. Alleine konnte sie immer und immer wieder die alten und neueren Fotos von ihm anschauen, ohne dass ihr jemand vorhielt, sich die Wunde immer wieder neu aufzureißen!
Ihre Tochter und ihre Enkelin hatte sie erst zwei Mal seit dem Tod ihres Mannes wieder gesehen: an der Beerdigung und an Weihnachten. Alle anderen Besuche hatte sie vehement abgeblockt, und ihre Tochter hatte – wahrscheinlich in Anbetracht ihres schlechten Verhältnisses –nie lange versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die einzige, für die es Hanna leid tat, war Lisa. Sie wusste, wie gerne ihre Enkelin immer zu ihnen gekommen war. Zu ihnen beiden, nicht nur zu ihrem Opa. Allein schon aus diesem Grund hatte sie von Anfang an gewusst, dass sie nun den Vorschlag ihrer Enkelin, die Ferien bei ihr zu verbringen, nie hätte ausschlagen können...