Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 14

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Der Anruf ihrer Mutter hatte Lisa ganz durcheinander gebracht. Erst war sie einfach nur wütend gewesen. Wütend auf ihren Papa, weil er immer die Arbeit über alles andere stellte. Hätte er nicht ausnahmsweise mal eine Woche später auf Geschäftsreise gehen können? Nein, stattdessen machte er einfach ihre und Mamas Überraschung kaputt! Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, hatte ihre Mama auch noch beschlossen, trotzdem wegzufahren. Noch dazu mit einem alten Studienfreund! Was war bloß los mit den beiden? Konnten sie sich nicht wie ganz normale, vernünftige Eltern verhalten?

Wenigstens hatte sie sich vor ihrer Omi nichts anmerken lassen. Die hätte sich sicher gleich wieder Sorgen gemacht, aber genau das wollte Lisa doch vermeiden. Deshalb war sie doch hergekommen, damit ihre Omi endlich mal wieder auf andere, positive Gedanken kam! Und ausgerechnet jetzt mussten ihre Eltern Stress schieben! Lisa war wirklich sauer und natürlich viel zu aufgedreht, um sich nach dem Mittagessen auszuruhen, wie es bei ihrer Omi immer üblich war.

Also beschloss sie, Omis Mittagsschläfchen zu nutzen, um ein wenig durch das Haus zu streunen. Das würde sie auf andere Gedanken bringen. Denn es gab für sie nichts Schöneres, als durch die verschiedenen Räume zu gehen und jeden einzelnen bis ins Detail zu inspizieren. Es war, als würde sie eine Reise in die Vergangenheit machen. Überall standen und lagen Dinge, die so viel älter waren als sie, und die aus einer anderen Zeit zu kommen schienen. Natürlich hatte ihre Omi auch moderne Sachen, sogar einen Computer, der auf ihrem Büro im Gästezimmer stand, aber für Lisa waren die alten Sachen viel aufregender: alte Bücher, die ihre Omi selbst schon von ihrer Mutter und Großmutter bekommen hatte, eine alte Nähmaschine, die aussah, als käme sie direkt aus dem Museum, viele alte Fotos von Schwarzweiß-Aufnahmen über die ersten Farbfotos, die im Laufe der Zeit schon leicht angegilbt waren, bis hin zu selbst ausgedruckten Fotos von ihr als Baby, die ihre Omi von Lisas Mutter per E-Mail bekommen hatte (ja, Internet hatte ihre Omi auch!)...

Am allerliebsten stöberte Lisa allerdings auf dem Speicher. Allein die ganzen alten Spielsachen waren es immer wieder wert, dort hinauf zu gehen. Ihre Omi wusste das und hatte nichts dagegen, weil sie, wie sie ihr vor kurzem zugegeben hatte, als Kind selbst gerne auf den Speicher ihrer Großeltern gegangen war, um sich dort vorzustellen, wie die Generationen vor ihr hier gelebt hatten.

Als Lisa an diesem Nachmittag den Speicher betrat, wurde sie ein wenig traurig. Es war das erste Mal seit Opas Tod, dass sie hier hoch kam. Dieses Mal würde er nicht kommen, um sie herunterzuholen. Dieses Mal würde er nicht flüsternd von der Tür her angeschlichen kommen, um so zu tun, als sei er ein Geist, der auf dem Speicher seit Jahrhunderten umherirrte, und sie würde nicht so tun können, als hätte sie furchtbare Angst, um sich dann lachend seine Arme zu werfen..

Eine Träne rollte über Lisas Gesicht. Seit sie groß genug war, um allein auf den Speicher gehen zu dürfen, war immer er es gewesen, der sie irgendwann suchen kam. Es war ihr Opa gewesen, weil er genauso gerne geträumt hatte wie sie, während ihre Omi erst dann dazu kam, wenn sie beide allzu lange verschollen blieben, um mit einem Blick auf die Uhr daran zu erinnern, dass es Zeit zum Essen oder für irgendetwas anderes war.

Lisa sah sich zunächst von der Tür aus in dem großen mit Kisten überfüllten Raum um. Dieses Mal waren es nicht die Spielsachen, die sie anzogen, sondern eine Ecke mit alten Regalen, in denen nur vereinzelt ein paar eingestaubte Bücher standen. Die anderen hatte ihre Omi, wie sie beim Näherkommen feststellte, in Kartons verstaut, auf denen mit großen Buchstaben „Bücher und diverse Unterlagen“ stand. Sicherlich war dies zum Schutz geschehen, damit ihnen nicht dasselbe verstaubte und von Milben zerfressene Schicksal zuteil wurde, wie denen, die in den Regalen geblieben waren.

Zögernd kniete sich Lisa vor einen der Kartons. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Erlaubnis, in den alten Spielsachen rumzustöbern und mit ihnen zu spielen, auch für die Bücher galt. Vielleicht sollte sie erst ihre Omi fragen, ob sie auch damit einverstanden war? Andererseits waren Bücher mittlerweile wie Spielsachen für sie. Sie war einfach älter geworden und ihre Interessen hatten sich verlagert, oder? Wenn sie ehrlich war, war sie einfach zu neugierig, um nicht gleich einen der Kartons aufzumachen. Sie war zu ungeduldig, um wieder hinunterzugehen, ihre Omi zu wecken, zu fragen und dann womöglich bis morgen warten zu müssen, um wieder hier hoch zu kommen. Das schien ihr wie eine Ewigkeit, wo sie doch schon so dicht davor war, diesen Karton zu öffnen! Und außerdem waren es doch nur Bücher, oder? So lange sie nicht auf private Unterlagen von Omi und Opa stieß, hätte ihre Omi sicher nichts dagegen... Von diesem letzten schlagenden Argument überzeugt, wischte Lisa ihre letzten Zweifel mit der Staubschicht auf dem Karton weg und begann ihre Entdeckungsreise.

Der erste Karton war voller Kochbücher, Bücher über Kindererziehung und Schwangerschaft sowie alten Modezeitschriften mit Schnittmustern. Nichts, was Lisa als Lektüre wirklich interessierte. Der zweite Karton war schon interessanter: darin befanden sich Kinder- und Jugendbücher. Neugierig überflog sie die Zusammenfassungen auf den Buchrücken. Das waren sicherlich die Bücher, die ihre Mutter früher gelesen hatte, denn sie erinnerte sich an die Namen einiger Romanhelden, von denen sie ihr erzählt hatte.

Lisa bildete neben sich einen Stapel mit ausgewählten Büchern, die sie mit vom Speicher nehmen wollte. Dagegen hatte ihre Omi sicher nichts einzuwenden. Und wenn doch, dann würde sie sie einfach wieder nach oben bringen. Sie wollte gerade den Karton wieder zu machen, als sie ganz unten etwas sah, das sie innehalten ließ. „Hanna’s Tagebuch“ stand in schöner Handschrift auf einem liebevoll dekorierten, ungefähr 1cm dicken DIN A5-Schreibheft.

Lisa wusste nicht warum, aber ihr Herz fing plötzlich aufgeregt an zu klopfen. Sie wollte nur mal kurz reinschauen und es dann sofort wieder zurücklegen. Versprochen! Fasziniert schlug sie die erste Seite auf und las laut den Titel, den ihre Großmutter dort eingetragen hatte:

Hanna’s Tagebuch

Meine erste große Liebe

Lisa sah auf ihre Armbanduhr. Wie lange war sie jetzt schon hier oben? Ihre Omi konnte jeden Moment aufwachen. Besser, sie legte das Buch sofort zurück in die Kiste und nahm den Stapel an Kinderbüchern mit hinunter! Doch so sehr sie auch versuchte, sich zur Räson zur rufen, sie schaffte es einfach nicht, das kleine Büchlein aus der Hand zu legen. Sie wollte es gerade wieder aufschlagen, als sie ihre Omi von unten rufen hörte: „Lisa?“ Erschrocken fuhr sie zusammen. „Lisa? Bist du da oben?“ Ohne zu überlegen schob sich Lisa das Buch unter den Pulli und klemmte es in ihrer Hose fest. „Ja, Omi!“ rief sie dann. „Ich komme schon!“ Sollte sie die anderen Bücher nun mitnehmen? Als Ablenkung wäre das vielleicht gar nicht schlecht. Andererseits, wenn sich ihre Omi erinnerte, dass in dem Karton mit den Kinderbüchern auch noch andere, persönlichere Dinge gewesen waren, würde sie vielleicht Fragen stellen? Lisa kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. „Lisa?“ rief ihre Omi schon wieder. „Ja, sofort!“ antwortete sie und lud sich kurzerhand den Stapel mit Kinderbüchern auf den Arm. Egal, das Risiko würde sie eingehen! Zur Not würde sie ihre Omi einfach direkt auf das Tagebuch ansprechen. Ehrlich währte ja bekanntlich am längsten, oder?

„Was bringst du denn da mit?“ fragte Hanna ihre Enkelin, als diese vollbeladen beinahe die letzte Treppenstufe verfehlte. „Ich hab da oben Kinderbücher gefunden!“ rief Lisa begeistert, um ihre Nervosität wegen des Tagebuches so gut wie möglich zu überspielen. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mir ein paar davon ausleihe!“ Hanna legte fragend die Stirn in Falten. „Wo hast du die denn gefunden?“ fragte sie sofort. „Ich dachte, ich hätte damals alles deiner Mutter mitgegeben, als sie hier ausgezogen ist.“ Lisas Herz klopfte bis zum Hals. „Anscheinend doch nicht!“ plapperte sie aufgeregt weiter, um sich nichts anmerken zu lassen. „Die waren in dem Karton vor den alten Buchregalen.“ „Vor den Buchregalen? Hmm.“ murmelte Hanna nachdenklich. Lisa sah, wie ihre Omi angestrengt überlegte. Vielleicht sollte sie ihr doch lieber gleich alles beichten, denn so wie sie ihre Omi kannte, würde sie sich früher oder später auch daran erinnern, dass in diesen Kartons noch andere Dinge gewesen waren, vor allem das Tagebuch! Zögernd machte Lisa den Mund auf. „Wahrscheinlich hat deine Mutter damals keinen Platz mehr gehabt und den Rest einfach auf dem Speicher gelassen.“ fuhr ihre Omi fort, bevor Lisa mit ihrem Geständnis anfangen konnte. „Natürlich kannst du sie mitnehmen. Behalte sie am besten gleich bei euch zu Hause!“ Hanna strich ihrer Enkelin liebevoll über die Wange. „Danke, Omi.“ sagte Lisa erleichtert und war froh, die Sache mit dem Tagebuch doch erst einmal für sich behalten zu können.

Lisa brachte die Bücher auf ihr Zimmer und legte sie neben ihre Kleider in den Schrank. Das Tagebuch stecke immer noch unter ihrem Pulli in der Hose. Vorsichtig zog sie es heraus. Gut, es war nicht verknickt! Sie sah sich suchend im Zimmer nach einem Platz um, wo sie es ohne Gefahr verstecken konnte. Da ihr im Moment erst einmal nichts Besseres einfiel, schob sie es unter ihre Matratze. Natürlich würde es da nicht bleiben können, weil ihre Omi regelmäßig die Betten auslüftete, aber bis heute Abend würde das schon in Ordnung gehen.

Lisa machte sich auf den Weg zurück in die Küche. Vom Flur aus sah sie durch die angelehnte Tür, wie ihre Omi liebevoll eine Wurstplatte vorbereitete. Sie blieb eine Weile stehen und sah ihr einfach nur zu. „Und, was hast du auf dem Dachboden außer den Büchern sonst noch so gefunden?“ sagte ihre Omi mit einem Mal, ohne sich umzudrehen, so dass Lisa vor Schreck kurz zusammenzuckte. „Woher weißt du denn, das ich hier stehe, du hast dich doch gar nicht umgedreht?“ Hanna musste lächeln. „Wusstest du denn nicht, dass ein intensiver Blick Wärme ausstrahlt, die der Beobachtete automatisch spürt?“ Lisa trat aus dem dunklen Flur in die Küche. Sie zog die Stirn in Falten und überlegte. „Jetzt, da du es sagst... Stimmt, dass ich auch schon manchmal das Gefühl gehabt habe, dass mich jemand anschaut, obwohl im ersten Moment gar niemand zu sehen war!“ „Siehst du. Genauso ging es mir mit dir eben. Ich habe deinen Blick gespürt. Allerdings weiß ich nicht, was er zu bedeuten hat. Willst du es mir vielleicht sagen?“ Erleichtert, dass Omi nicht auf ihrer ersten Frage, was sie auf dem Dachboden so lange gemacht hatte, beharrte, ging Lisa gerne auf diese zweite ein: „Ich habe mir einfach nur gedacht, dass ich großes Glück habe, so eine Omi wie dich zu haben und dass ich dich ganz doll lieb habe.“ Diese einfache und aufrichtige Erklärung ihrer Enkelin ließ Hanna in ihrer Bewegung inne halten. Sie war gerührt, so sehr gerührt, dass sie Mühe hatte, ihre Tränen, die sowieso nur darauf warteten, jede Minute in Sturzbächen über ihr Gesicht laufen zu können, zurückzuhalten. Sie atmete einmal tief durch, drehte sich dann zu ihrer Enkelin um und öffnete einladend die Arme. „Komm her, mein Schatz, und drück deine Omi mal ganz fest.“ Lisas Gesicht verwandelte sich in ein großes Strahlen. Sie lief ihrer Omi eilig entgegen und drücke sich fest an sie. Wie gut es tat, sich an sie zu kuscheln, dachte Lisa. So wie früher. Der einzige, der fehlte, um das Ganze perfekt zu machen, war Opa...

Das Telefon unterbrach ihre innige Umarmung. Lisas Vater war dran und was er ihr zu sagen hatte, machte sie so wütend, dass sie einfach ohne sich zu verabschieden, den Hörer aufknallte! „Was ist denn los, Mäuschen?“ meinte Omi besorgt. Lisa zögerte einen Moment, immer noch fest entschlossen, ihrer Omi nicht zusätzlichen Kummer zu bereiten. Doch der Anruf von ihrem Vater war einfach zu viel für sie gewesen. „Papa denkt immer nur an seine Arbeit. Und jetzt ist Mama mit irgend so einem Studienfreund in den von mir und Mama geplanten Überraschungsurlaub geflogen!“ sprudelte es deshalb nun einfach aus ihr heraus, bevor sie sich hilflos in die Arme ihrer Omi warf und sich den ganzen Kummer, den sie schon seit dem Anruf ihrer Mutter angestaut hatte, von der Seele weinte.

Hanna hatte Lisa keine weiteren Fragen zu ihrem Tränenausbruch und dem Grund dazu gestellt, auch wenn sie noch so darauf brannte, mehr zu erfahren, und auch am liebsten gleich ihre Tochter angerufen hätte. Stattdessen stellte Hanna ihrer Enkelin während dem Abendessen tausend Fragen über die Schule, ihre Freundinnen und was sie so in ihrer Freizeit machte. Lisa erzählte gerne und ausführlich. Es gefiel ihr, dass sie Omis Aufmerksamkeit ganz allein für sich hatte und trotz der unerfreulichen Nachrichten ihrer Eltern heute freute sich erneut über ihre gute Idee, eine Woche ganz allein bei Omi zu verbringen. Als sie gegen neun Uhr in ihr Zimmer ging, war Lisa noch kein bisschen müde. Doch statt niedergeschlagen über das blöde Verhalten ihrer Eltern nachzugrübeln, zog sie ungeduldig ihren Schlafanzug an und schlüpfte unter die Decke, um endlich den Schatz, den sie heute Nachmittag auf dem Dachboden gefunden hatte, unter der Matratze hervorholen zu können: Omis Tagebuch...

Es begann alles damit, dass mir an diesem Abend in meinem 12m² kleinen Studentenzimmer in einem der riesigen Studentenwohnheime dieser Universitätsstadt die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Ich war jetzt seit rund zwei Wochen hier. Das erste Mal richtig weg von zu Hause. Unabhängig, selbst für mich verantwortlich, Studentin. Dieses Zimmer im Studentenwohnheim sollte mir den Einstieg erleichtern, damit ich neue Freunde kennen lernen konnte. Bisher hatte dies allerdings noch keine Früchte getragen. Ich war also völlig allein und langweilte mich zu Tode auf meinem Zimmer. Also ging ich in den Fernsehraum, der auf derselben Etage direkt an mein Zimmer grenzte.

Der Fernsehraum war vor allem dann gut besucht, wenn die Nachrichten liefen oder natürlich auch bei Fußballspielen, die viel interessanter waren, wenn man sie gemeinsam anschaute. In dem Moment, als ich den Fernsehraum betrat, war es für die Nachrichten noch zu früh, und ein Fußballspiel gab es heute (es war Sonntagabend) auch nicht. Aber eigentlich war mir auch ziemlich egal, was lief. Ich wollte einfach nur etwas anderes sehen, als die vier Wände von meinem schlauchförmigen Minizimmer.

Als ich ins Fernsehzimmer trat, war nur ein anderer Student da, den ich schon zwei- bis dreimal gesehen hatte, und der mich auch jetzt freundlich grüßte, mehr allerdings nicht. Ich zögerte einen Moment, setzte mich schließlich aber trotzdem zu ihm. Sehr gesprächig war er nicht. Im Gegenteil. Er starrte konzentriert in den Fernseher und zeigte damit recht deutlich, dass er – im Gegensatz zu mir – nicht in dieses Zimmer gekommen war, um Gesellschaft zu finden. Nichtsdestotrotz wollte ich zumindest solange bleiben, bis die Acht-Uhr-Nachrichten kamen, denn dann füllte sich der Raum oft ein bisschen mehr. Eine neue Bekanntschaft würde sich daraus vielleicht nicht unbedingt ergeben, aber immerhin war ich nicht mehr mutterseelenallein in meinem kleinen Zimmer.

Den ganzen Tag war ich, abgesehen von einem Spaziergang, nicht raus gekommen. Die einzige Freundin, die ich bisher an der Uni gefunden hatte und mit der ich etwas hätte unternehmen können, hatte keine Zeit, weil sie mit ihrem französischen Freund unterwegs war, der fast jedes Wochenende aus Paris zu Besuch kam! Die hatte ein Glück! Einen festen Freund, noch dazu einen Franzosen! Das war vielleicht romantisch. Und irgendwie auch aufregend: er in Paris, sie hier in Deutschland! So etwas hätte ich mir auch gut vorstellen können...

Aber gut, eigentlich konnte ich mich nicht beklagen. Einen Freund hatte ich in meiner neuen Wahlheimat zwar noch nicht – wäre innerhalb von drei Wochen wohl auch etwas arg schnell gewesen - aber immerhin hatte ich in der kurzen Zeit schon eine neue Freundin gewonnen.

Anke studierte dieselben Fächer wie ich, und so hatten wir recht viele Kurse gemeinsam. Sie hatte als einzige in der Mensa sofort zugestimmt, als ich am ersten Tag schon einen Kinoabend vorgeschlagen hatte. So hatten wir uns also zu zweit vor dem Kino wiedergefunden und einen sehr netten Abend verbracht. Sie erzählte mir bisher zwar nur halb so viel von sich wie ich ihr von mir. Aber das war nichts Außergewöhnliches, weil ich schon immer sehr schnell sehr redselig und offen gegenüber anderen war, während viele erst ein wenig Zeit brauchten, bevor sie sich voll und ganz einer anderen Person anvertrauten.

Nachdem ich Anke mein halbes Leben erzählt hatte, erfuhr ich von ihr immerhin, dass sie ein Auslandsjahr in Paris hinter sich hatte, wo sie auch ihren Freund kennen gelernt hatte. Dieser kam sie nun regelmäßig besuchen, und sie hoffte, dass sie sich auch weiterhin so oft sehen würden, auch wenn jetzt schon abzusehen war, dass das Budget dafür schnell zu kostspielig werden würde...

Anke gehörte ganz im Gegensatz zu mir zu den Menschen, denen man jedes Wort aus der Nase ziehen musste, wenn man etwas über sie und ihr Leben erfahren wollte, und selbst dann bekam man zum Teil nur schwammige Antworten. Die ersten paar Male störte mich das kaum, weil ich gern erzählte und hoffte, sie damit auch ein bisschen mehr aus der Reserve zu locken. Aber in letzter Zeit fing mich das vor allem deshalb zu nerven an, weil es dadurch immer öfter zu absoluter Funkstille zwischen uns kam. Das schien sie nicht im geringsten zu stören, mich aber umso mehr. Zumal sie auch bei länger anhaltendem Schweigen nicht im entferntesten versuchte, daran etwas zu ändern.

Eine andere Eigenschaft Ankes, mit der ich auch nicht unbedingt zurecht kam, war die Tatsache, dass sie kein Gefühl dafür hatte, wann es Zeit war, zu gehen. Das heißt, sie sagte nie, dass sie gehen musste – es sei denn sie hatte einen dringenden anderen Termin. Das hatte zur Folge, dass es manchmal schwer war, sie „loszuwerden“. Sie blieb einfach sitzen, ohne etwas zu sagen, und war sich noch nicht einmal bewusst, dass die Person, bei der sie zu Gast war, auch noch andere Dinge zu tun hatte, als mit ihr gemeinsam Löcher in die Wand zu starren! Ebenso fehlte ihr das Gefühl dafür, wenn sie „fehl am Platz“ war, wenn sie „störte“. Platzte sie irgendwo herein, zog sie sich nicht diskret zurück, sondern blieb wie angewurzelt stehen und wartete, dass irgendwer irgendetwas unternahm, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. Irgendwer, nur nicht sie selbst! Ich fragte mich wirklich, warum ihr das nicht unangenehm auffiel. So unsensibel konnte man doch wirklich nicht sein, oder? Aber gut, abgesehen davon war Anke wirklich in Ordnung und wie gesagt meine bisher einzige, richtige Freundin hier.

Während ich also über meine neue Freundschaft zu Anke grübelte, saß ich an diesem Sonntagabend immer noch vor dem Fernseher, ohne auch nur einen Blick, geschweige denn ein Wort mit meinem Sesselnachbarn gewechselt zu haben. Nun gut, dann eben nicht. Ich wollte nur noch schnell die Nachrichten schauen und dann würde ich mit meinem guten Vorsatz, neue Leute kennen zu lernen, wieder in mein Zimmer verschwinden...

Doch plötzlich ging die Tür auf und es kam eine zweite Person herein. Ich drehte mich nur ganz kurz um, um zu sehen, ob ich den Neuankömmling vielleicht vom Sehen kannte. Da dies nicht der Fall war und ich nicht wie ein Aasgeier wirken wollte, der zum Sturzflug ansetzte, sobald er Frischfleisch roch, drehte ich mich sofort wieder um, und starrte weiter in den Fernseher.

Ich bekam mit, wie er nach kurzem Zögern auf meinen Sesselnachbarn zuging und ihn erfreut begrüßte. Die beiden kannten sich demnach. Sie unterhielten sich eine Weile, doch dann wurde es wieder still und man hörte nur noch den Fernseher. Während des ganzen Gesprächs hatte ich mich nicht ein einziges Mal gerührt und weiterhin angestrengt in den Fernseher gestarrt, obwohl mich das Programm nicht im geringsten interessierte. Mich interessierte viel mehr das, über was die beiden redeten. Über ihre Anfänge hier in der neuen Stadt, über ihr Studium. Wie gerne hätte ich an ihrer Diskussion teilgenommen, meine eigenen Erfahrungen mit ihnen ausgetauscht. Mitgeredet eben. Aber ich traute mich einfach nicht und das ärgerte mich umso mehr, als ich sah, wie der Neuankömmling Anstalten machte, wieder zu gehen. Im Gegensatz zu meinem Sesselnachbarn erweckte er ein gewisses Interesse in mir, das ich mir selbst nicht erklären konnte. Aber da war irgend etwas, das mich wie magisch bei ihm anzog. Das bisschen, was ich von ihm im Halbdunkel des Fernsehraumes gesehen hatte, gefiel mir. Die Art, wie er mit meinem Sesselnachbarn geredet hatte, sein kleiner, aber feiner französischer Akzent, gefiel mir. Und da ich nun mal auch mit der Absicht hierher gekommen war, neue Bekanntschaften zu schließen, gab ich mir schließlich einen Ruck und fragte ihn, ob er Franzose sei. „Ja, wieso?“ antwortete er und drehte sich zu mir um. Und dann fingen wir an, uns zu unterhalten. Über mein Studium, über seins, über die Stadt, das Wohnheim. Wir kamen von einem Thema ins nächste, ohne auch nur eine Sekunde zu stocken. Wir unterhielten uns ohne zu merken, wie die Zeit verging. Ich spürte, wie mein Herz merkwürdig nervös n seiner Gegenwart klopfte, und fragte mich, woher das wohl kam. Ich sah ihn mir etwas genauer an. Er war dunkelblond und hatte braune Augen. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig, aber es war vor allem seine Ausstrahlung, die mich dazu veranlasste, ihn als gutaussehend zu bezeichnen. Wie ich aus dem Gespräch erfuhr, hieß er Pierre und war zwei Jahre älter als ich. Als wir nach einer Dreiviertelstunde schließlich den Fernsehraum verließen und uns auf dem Flur verabschiedeten, war ich mehr als zufrieden mit meinem Sonntagnachmittag, auch wenn Pierre allem Anschein nach nicht einmal halb so beeindruckt von unserer Bekanntschaft war wie ich. Aber immerhin hatten wir unsere Zimmernummern mit einer gegenseitigen Einladung mal vorbeizuschauen ausgetauscht, und das war doch schon mal ein guter Anfang!

Natürlich erzählte ich am nächsten Tag an der Uni sofort Anke davon, dass ich einen Franzosen im Wohnheim kennen gelernt hatte. Sie zeigte sich sofort sehr interessiert und meinte, dass wir ja vielleicht mal etwas zu dritt machen könnten, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Anke meinte, dass ich doch gleich heute Nachmittag schon bei ihm vorbei gehen könnte, um ihm den Vorschlag zu unterbreiten. Doch auch wenn ich mir fast sicher war, dass er von sich aus nicht als erster bei mir auftauchen würde, wollte ich nicht gleich 24 Stunden nach unserem ersten Treffen bei ihm auftauchen. Ich wollte wenigstens ein oder zwei Tage verstreichen lassen, damit es nicht allzu offensichtlich war, wie ungeduldig ich war, nähere Bekanntschaft mit ihm zu schließen!

Ich wartete also den Montag ab und ging erst am Dienstag zu ihm. Ich hatte mir einen Vorwand ausgedacht, um bei ihm anzuklopfen, weil ich mir sonst total idiotisch vorgekommen wäre. Ich wollte ihn einfach darum bitten, mir bei meinen französischen Grammatik- und Übersetzungsübungen behilflich zu sein. Mein Herz pochte wie wild, als ich auf seine Tür zuging. Ich kam mir vor wie ein frisch verliebter Teenager, der zu seinem ersten Date ging. Es war geradezu lächerlich, denn ich kannte ihn ja nicht einmal richtig! Wieso also diese merkwürdige Reaktion?

„Hallo“, stotterte ich, als er die Tür öffnete. „Hallo.“ Zumindest hatte er mich sofort wieder erkannt! Außerdem schien er sich auch zu freuen, mich zu sehen, denn er lächelte und bat mich herein. „Ich wollte dich nicht stören, aber ich dachte mir, dass du mir vielleicht bei meinen Französischaufgaben behilflich sein kannst.“ Ich trat in sein Zimmer und sah mich um. „Was ist denn das?“ fragte ich ihn amüsiert, als ich in der Ecke neben dem Schreibtisch einen überdimensional großen Plüschhund entdeckte. „Das ist... er hat noch keinen Namen. Aber als ich ihn im Kaufhaus gesehen habe, musste ich ihn einfach mitnehmen!“ „Der ist ja fast so groß wie mein Kühlschrank. Der muss dich ja ein Vermögen gekostet haben!“ „Na ja, man gönnt sich ja sonst nichts!“ Er grinste. „Meine Güte, was für ein Kalb!“ sagte ich nur, als ich mich näherte. „Nein, das ist ein Hund.“ verbesserte er mich. Ich musste lachen. „Ja, ja, natürlich, aber das sagt man so im Deutschen, wenn ein normalerweise eher kleines Tier, wie ein Hund, größer als normal ist, dann sagt man Kalb dazu - umgangssprachlich.“ Er sah mich begeistert an. „Das ist ja interessant, das muss ich mir sofort aufschreiben.“ Er kramte ein kleines Heft hervor, das anscheinend voll war mit deutschen Wörtern, Satzteilen und sogar ganzen Wendungen, die er, wie er mir dann erklärte, bei seinen etlichen Deutschlandaufenthalten irgendwo aufgeschnappt hatte. „Das ist echt eine gute Idee. Das mit dem Aufschreiben. Das werde ich mir merken.“ Er deutete nun auf meine Unterlagen in der Hand und fragte: „Worum geht’s denn?“ Ich erklärte ihm, was wir gerade in französischer Grammatik machten, und er warf einen Blick darauf. Doch dann sagte er plötzlich: „Ich würde Dir gerne helfen, aber ich muss jetzt gleich weg. Vielleicht können wir heute Abend weiterreden.“ „Wann bist Du denn wieder da?“ „So gegen sechs. Dann muss ich noch was essen und dann...“ „Wir können doch zusammen essen. Ich kann uns was machen.“ schlug ich vor. „Okay.“ meinte er, zog seine Jacke über und wandte sich zur Tür. „Ich muss noch einen Freund hier im Wohnheim abholen. Er ist auch Franzose. Wenn Du Lust hast, stelle ich ihn Dir vor.“ „Gerne.“ sagte ich und wir machten uns auf den Weg.

Laurent war nicht nur äußerlich ein ganz anderer Typ als Pierre. Er hatte dunkle Haare und sprach lange nicht so gut Deutsch wie Pierre. Er machte auch gar keine Anstalten, Deutsch zu reden, obwohl Pierre mich sogar auf Deutsch vorstellte. Eigentlich war das ideal, war doch ein weiteres meiner Ziele gewesen, auch außerhalb der Uni so viel wie möglich Französisch zu reden. Pierre hingegen hatte mir schon gestern klar zu verstehen gegeben, dass er hier sei, um sein Deutsch zu verbessern, weil er sonst auch gleich in Frankreich hätte bleiben können. Also wollte er im Gegensatz zu mir, so WENIG wie möglich Französisch sprechen. Das konnte ich natürlich sehr gut nachvollziehen. Und natürlich wäre aus diesem Gesichtspunkt heraus, Laurent der geeignetere Französischkontakt für mich gewesen. Trotzdem war ich leicht enttäuscht, als Pierre nun vorschlug: „Vielleicht kann Laurent Dir ja bei Deinen Französischaufgaben helfen. Er ist da sowieso besser als ich. Und dann kannst Du auch Französisch reden.“ „Klar.“ sagte ich und versuchte mehr recht als schlecht, meine Enttäuschung zu verbergen. „Natürlich nur, wenn er auch einverstanden ist.“ Laurent reagierte kein bisschen. Er stand einfach nur da und sah fragend zwischen Pierre und mir hin und her, bis Pierre schließlich meinte: „Ihr könnt euch ja ein anderes Mal darüber unterhalten. Aber jetzt müssen wir los.“ Und schon waren die beiden auf dem Weg zum Ausgang.

Lustlos trottete ich zurück zu meinem Zimmer. Was war nur los mit mir? Wieso fühlte ich mich so niedergeschlagen? Es gab doch keinerlei Grund dafür, denn immerhin kam er heute Abend zum Essen zu mir. Das war doch schon was. Und trotzdem: die Tatsache, dass er ohne weiteres bereit war, mich zum Lernen an seinen Freund „abzuschieben“, frustrierte mich. Wenn es nach mir ginge, hätte ich bereits jetzt schon am liebsten jede freie Minute mit ihm verbracht. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch, wenn ich ihn sah und hätte am liebsten aller Welt erzählt, dass ich ihn kennen gelernt hatte. Er hingegen schien in meiner Bekanntschaft nichts weiter Außergewöhnliches zu sehen. Zumindest schien sie ihm nicht so wichtig, dass er möglichst viel Zeit mit mir verbringen wollte, und sei es auch nur, um französische Grammatikübungen zu machen... ,Meine Güte, Hanna!’ schalt mich meine innere Stimme. ‚Jetzt mach mal halblang! Du hast ihn gerade erst kennen gelernt. Und er dich. Es ist nicht jeder so ungeduldig und draufgängerisch wie du! Und das ist auch verdammt gut so!’

Meine etwas angeknackste Stimmung verbesserte sich im Laufe des Nachmittags je näher mein Rendezvous mit Pierre rückte. Wie auch immer seine Einstellung zu mir sein mochte, ich freute mich, ihn zu sehen. Und das allein zählte im Moment.

Mein Herz spielte mal wieder verrückt, als es kurz vor sieben an der Tür klopfte. Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel und öffnete. Schon am Sonntagabend hatte ich diese unerklärliche Anziehungskraft, die er auf mich ausübte, gespürt, seinen Charme, dem ich mich nicht entziehen konnte. Doch nun, als er in der Tür vor mir stand, gesellte sich zu alledem noch ein weiteres Gefühl, zu dem mir nichts anderes als das Wort Schicksal einfiel. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber ich wusste in diesem Moment, dass etwas Besonderes zwischen uns passieren würde. Etwas, das man so leicht nicht vergaß.

Er kam in mein Zimmer und sah sich ebenso neugierig um, wie ich mich bei ihm umgesehen hatte. Ich hatte das Essen bereits vorbereitet und bat ihn, sich zu setzen. Wie schon am Sonntag verging die Zeit wie im Flug. Es war nicht eine Sekunde langweilig. Wir konnten stundenlang miteinander reden, erzählten uns gegenseitig alle Anekdoten unseres bisherigen Lebens und waren fasziniert von unseren Geschichten. Wir entdeckten eine Unmenge an Gemeinsamkeiten, und die wenigen Unterschiede waren wie das Salz in der Suppe, das zu neuen Diskussionen Anlass gab, um den anderen von den Vorteilen seiner Sichtweise zu überzeugen. Aber trotz all der Zweisamkeit, die zwischen uns entstand, spürte ich sofort, dass Pierre nicht vor hatte, die Schwelle der Freundschaft zu überschreiten. Ich hatte keine richtige Erklärung dafür abgesehen von der Tatsache, dass ich vom Aussehen her vielleicht einfach nicht sein Typ war. Und es verwirrte mich umso mehr, da ich dieses Gefühl, dass ich etwas ganz Besonderes mit ihm erleben würde, einfach nicht los wurde.

Lisa spürte, wie ihr die Augen immer mehr zufielen. Dabei hätte sie so gerne noch weiter gelesen! Aber der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es höchste Zeit war, eine Pause zu machen, immerhin war es schon kurz nach Mitternacht! Sie zog ihren Rucksack ans Bett heran und verstaute das Tagebuch ganz unten im hinteren Fach, so dass es niemand - vor allem ihre Omi nicht - sehen konnte. Dann kuschelte sie sich unter die Decke und fiel innerhalb von Sekunden in einen traumreichen Schlaf, in dem sie ihre Omi in jungen Jahren mit einem gutaussehenden und charmanten Franzosen am Strand spazieren gehen sah...

Noch ein Leben

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