Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 7
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Hand in Hand liefen sie die Straße entlang. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont und tauchte die Stadt in ein rötliches Licht. Sie war glücklich. Er war wieder da. Sie waren wieder zusammen. Sie gingen weiter, bis er plötzlich stehen blieb, ihr Gesicht in seine Hände nahm und ihr tief in die Augen sah: „Eines Tages werde ich dich entweder heiraten oder... töten.“ Und dann küsste er sie und ihr Herz quoll über vor Glück. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne flößte eine wohltuende Wärme in ihr Gesicht. Er hatte von Heirat gesprochen! Endlich würden sie zusammen bleiben und endlich würden sie glücklich sein. Mehr war nicht wichtig. Sie suchte mit ihren Augen die Sonne und als sie ihren Blick wieder zurück auf ihn richtete, brauchte sie ein paar Sekunden, um wieder klar zu sehen. Doch sein Gesicht hatte sich verändert. Seine Augen starrten sie kalt an und sein teuflischer Blick löste eine Angst in ihr aus, die sie vorher noch nie gespürt hatte, bevor seine Stimme immer und immer wieder sagte: „Eines Tages werde ich dich töten. Eines Tages werde ich dich töten. Eines Tages werde ich dich töten...“
Hanna zuckte zusammen und fuhr in ihrem Bett hoch. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie überhaupt wusste, wo sie war. Das war schon die zweite Nacht hintereinander, in der sie solch einen merkwürdigen Alptraum hatte. Wieder war ihr die Szene irgendwie bekannt vorgekommen. Wieder glaubte sie, sich in dem jungen Mädchen wieder erkannt zu haben. Und doch konnte sich keinen richtigen Reim daraus machen.
Sie schüttelte sich vehement, bevor sie nach dem Morgenmantel griff und das Bett verließ. Langsam schien sie wirklich durchzudrehen. So ein Unsinn aber auch! Wie kam sie nur auf solch merkwürdige Ideen? Wenn sie so weiter machte, würde sie noch in der Klapsmühle enden! Sie musste an Chris denken und das, was sie ihr gestern alles an den Kopf geknallt hatte. Natürlich hatte sie recht. Wie gerne hätte sie ihr gesagt, dass sie ja so recht hatte! Dass es langsam Zeit war, wieder herauszukommen, unter Leute zu gehen, auf andere Gedanken zu kommen! Aber es war so unendlich schwer loszulassen. Zu akzeptieren, dass das Leben zu zweit mit ihm ein für alle Mal vorbei war. Dass es nie wieder so sein würde wie vorher, wie mit ihm. Aber dass es deshalb für sie noch lange nicht vorbei war. Dass IHR Leben weiter ging.
Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie ganz einfach Angst. Eine Heidenangst! Davor, wieder von vorne anfangen zu müssen. Davor, immer wieder auf Leute zu stoßen, die sie auf ihren Mann ansprachen und somit die Wunde immer wieder aufs Neue aufreißen würden. Und ein bisschen hatte sie auch Angst vor dem Tag, an dem die Erinnerungen an ihn anfangen würden zu verblassen...
Sie hatte gerade ihren Kaffee ausgetrunken, als das Telefon klingelte. Auch wenn sie heute Morgen zum ersten Mal seit seinem Tod ernsthaft damit angefangen hatte, sich mit der Idee auseinander zu setzen, dass ihr Leben ohne ihn weiterging -weitergehen musste, so war sie noch nicht bereit, diese Idee mit jemandem zu teilen, schon gar nicht mit all denen, die ihr seit Monaten genau dies immer wieder ans Herz legten!
Deshalb nahm sie nicht ab und ließ den Anrufbeantworter laufen: „Hallo Omi, hier ist Lisa.“ hörte sie ihre Enkelin flüstern und bereute es sofort, nicht abgenommen zu haben. „Wollte dir nur ganz kurz sagen, dass ich vorhabe, die Schulferien bei dir zu verbringen, aber Mami und Papi wissen noch nichts davon. Kannst du das nicht irgendwie hinbekommen, dass sie einverstanden sind?“ Kurze Pause und dann plötzlich: „Mist, Mami ist im Anmarsch, muss auflegen. Tschüss, bis bald!“
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. So klein und schon so gewitzt! Wenn Lisa sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es auch durch. Schon als Baby hatte sie alle immer so lange auf Trab gehalten, bis sie das, was sie wollte, auch bekam, ob das nun ihr Fläschchen, eine neue Windel oder Mamis Arm zum Einschlafen war.
Vor dem Tod ihres Mannes war Lisa öfter in den Schulferien zu ihnen gekommen. Sie hatte sich mit ihrem Opa immer sehr gut verstanden und manchmal hatte sie die beiden stundenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen, weil sie irgendwo in einem Geschäft oder beim Spazieren gehen die Zeit völlig vergessen hatten. Allein bei dem Gedanken daran kamen ihr schon wieder die Tränen in die Augen und ihr guter Vorsatz von heute Morgen, endlich nach vorne zu schauen, erschien ihr wieder einmal völlig unmöglich.
Sie setzte sich in ihren Lieblingssessel und stieß einen tiefen Seufzer aus. Was würde sie ihrer Enkelin überhaupt noch bieten können, jetzt, da er nicht mehr da war? Und würde sie es überhaupt schaffen, eine ganze Woche lang gute Laune vorzuspielen, wenn sie doch, wie gerade jetzt mal wieder, schon bei der kleinsten Erinnerung an ihn, anfing zu weinen? Sie schüttelte traurig den Kopf. ‚Nein, Lisa’, dachte sie, ‚Ich kann dir nicht das bieten, was du möchtest. Ich bin nicht stark genug dazu!’
Doch wie sollte sie das ihrer Enkelin bloß beibringen? Hanna stieß erneut einen Seufzer aus. Und was, wenn sie sich doch darauf einlassen würde? Was, wenn das vielleicht genau der Ausweg war, auf den sie so lange vergeblich gewartet hatte? Was, wenn diese Woche zu zweit ihr den Weg aus ihrem dunklen Tunnel, in dem sie sich seit dem Tod ihres Mannes befand, ermöglichen würde? War es nicht vielleicht genau das, was sie brauchte, um ihre Trauer endgültig zu besiegen? Eine Woche lang so zu leben wie vorher? Als wäre nichts geschehen, als würde das Leben einfach so weitergehen. Eine ganze Woche lang, und nicht nur einen Tag, an dem man abends all das, was sich angestaut hatte, einfach so wieder in einem Tränenbach laufen lassen konnte, sobald das Auto ihrer Tochter um die Ecke gebogen war.
Denn dieser Tatsache musste sie nun einmal ins Auge schauen: das Leben ging weiter und sie würde sich nicht ewig hinter ihrer Trauer verschanzen können! Eine Woche mit Lisa. Mit ihr all das machen, was sie das ganze letzte Jahr vermieden hatte: unter Leute gehen, Nachbarn zu sich einladen oder deren Einladungen annehmen, einen schönen Film im Kino schauen, lachen! All diese Dinge, zu denen sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr in der Lage gewesen war, mit Lisa würden sie ihr sicher leichter fallen. Eine Woche mit ihrer Enkelin...
Ja, wenn sie es sich richtig überlegte, war das vielleicht gar nicht so verkehrt. Sie würde endlich den ersten Schritt aus ihrer Lethargie wagen können, auf den Chris schon so lange wartete. Sie würde sich langsam, mit jedem Tag ein bisschen mehr daran gewöhnen können. Und vielleicht würde sie ja am Ende dieser Woche wieder Gefallen daran finden. Vielleicht hätte sie dann endlich den Weg zurück ins Leben geschafft. Dieses Leben, das sie ohne ihn nicht hatte weiterleben wollen, aber das nun einmal da war und dem sie die Stirn bieten musste!
Ja, sie würde Lisa zu sich holen über die Ferien. Denn diese Chance, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, durfte sie sich einfach nicht entgehen lassen!