Читать книгу Noch ein Leben - Antje Aubert - Страница 15

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Lisa sah ihre Omi aus verschlafenen Augen an. Sie saßen gemeinsam am wie immer reichlich gedeckten Frühstückstisch. Hanna grinste amüsiert, als Lisa zum x-sten Mal herzhaft gähnte. „Na, gestern Abend mal wieder bis in die Puppen gelesen?“ Lisa rief sofort knallrot an. „Ich... na ja...“ stammelte sie verlegen. „Lass nur gut sein, Schätzchen.“ lächelte ihre Omi und streichelte über ihre Hand. „Dafür kannst du absolut nichts. Das liegt bei uns in der Familie! Ich habe das schon gemacht, als ich jung war, dann deine Mutter und jetzt du! Wenn wir ein Buch anfangen, das uns fesselt, können wir es einfach nicht mehr aus der Hand legen, bis uns irgendwann ganz von selbst die Augen zufallen. Ist doch so, oder?“ Lisa nickte energisch und versuchte so das schlechte Gewissen abzuschütteln, das sie gegenüber ihre Omi hatte, weil das Buch, das sie dieses Mal so fesselte, deren intimsten Erinnerungen waren, die sie einfach so las, ohne gefragt zu haben.

Doch noch bevor Lisa sich darüber weiter Gedanken machen konnte, hatte ihre Omi schon das Thema gewechselt: „Wenn du nicht zu müde bist, würde ich dir vorschlagen, dass wir heute gemeinsam ins neue Einkaufszentrum fahren. Die haben heute verkaufsoffenen Sonntag! Den ganzen Tag lang! Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich noch nicht ein einziges Mal dort war, dabei hat es schon vor sechs Monaten aufgemacht!“ Lisas Augen begannen sofort zu strahlen. Sie liebte Einkaufsbummel, vor allem mit ihrer Omi, denn die hatte meistens viel mehr Zeit für so was als ihre Mutter. „Au ja!“ rief sie deshalb sofort. Hanna musste grinsen. Von Lisas Müdigkeit war mit einem Mal nichts mehr zu sehen. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, während sie tausend Fragen auf einmal stellte: Wie groß das Einkaufszentrum war, welche Läden es gab, wie lange sie bleiben würden, ob sie dort zu Mittag essen würden... „Langsam, kleines Fräulein! Nur keine Aufregung!“ bremste Hanna ihre Enkelin energisch ab. „Jetzt isst du erst mal in Ruhe dein Frühstück zu Ende, dann ziehst du dich an, und dann werden wir gemeinsam vor Ort alle deine Fragen beantworten, ok?“ „Ok.“ antwortete Lisa und trank eilig ihren Kakao aus.

Das Einkaufszentrum war einfach spitze! Lisa sah sich begeistert die vielen Rolltreppen an, die in alle Richtungen verliefen und die hohen Glasfenster, die das gesamte Gebäude wie ein riesiges Gewächshaus aussehen ließen. Am schönsten fand sie die große Glaskuppel in der Mitte des Daches, auf die im Moment dicke Regentropfen prasselten, die seitlich auf das Dach und weiter an den Glaswänden auf jeder Seite hinunterliefen. Sie fühlte sich wie unter einer riesigen Duschkabine, nur dass sie nicht nass wurde dabei!

Hanna sah sie von der Seite an. Wie gut es war, dass Lisa bei ihr war! Nie wäre sie alleine hierher gekommen! Doch jetzt, mit Lisa an ihrer Seite, die vor lauter Begeisterung gar nicht mehr wusste, wo sie noch hinschauen sollte, fühlte sie sich wohl. Es machte ihr richtig Spaß, endlich mal wieder einkaufen zu gehen, unter Leute zu kommen. Sie fühlte sich, als würde sie nach mehreren Monaten in der Dunkelheit endlich wieder Licht sehen. Und das obwohl heute noch nicht einmal die Sonne schien! Wie hatte sie sich nur so lange vergraben können? Wieso war sie nicht schon früher auf eine der zahlreichen Vorschläge von Chris eingegangen und hatte ihre vier Wände für mehr als nur die zwei, drei Einkäufe um die Ecke verlassen? Warum hatte sie sich so sehr von ihrer Trauer lähmen lassen?

„Omi! Schau mal, da ist ein Geschenkladen! Ohhh, haben die süße Teddys! Komm, lass uns schnell reingehen!“ Ungeduldig zog Lisa sie an der Hand hinter sich her. Hanna musste lachen. „Du weißt aber schon, dass uns die Läden nicht davon laufen, Lisa?“ neckte sie ihre Enkelin. „Und Ladenschluss ist auch erst in sechs Stunden!“ Lisa blieb abrupt stehen und sah ihre Omi tadelnd an: „Du machst dich über mich lustig!“ Hanna stupste ihre Enkelin an der Nase. „Ich? Nein, woher denn?“ Und dann brachen sie beide in schallendes Gelächter aus.

Als sie am späten Nachmittag wieder zu Hause ankamen, spürten sie beide ihre Füße nicht mehr. „Ich glaub, ich muss mich jetzt erst einmal setzen!“ sagte Hanna. Sie waren voll beladen mit Einkaufstüten und Geschenkpaketen. „Willst du, dass ich uns einen Tee mache?“ fragte Lisa ihre Omi. „Oh ja, mein Schatz, sei so lieb!“ Lisa verschwand in der Küche und Hanna machte einen Moment lang die Augen zu. Die Bilder dieses ereignisreichen Tages spielte sich wie ein Film vor ihr ab. Die zahlreichen Geschäfte – sie war sich sicher, dass sie nicht ein einziges ausgelassen hatten -, ihre ständig plappernde Enkelin, das gemeinsame Mittagessen in einem dieser Fast-Food-Läden – Lisa hatte sich geweigert, ein „normales“ Restaurant auch nur in Erwägung zu ziehen! -, die Heimfahrt, auf der sie beide lauthals „I’m singing in the rain!“ geträllert hatten, weil der Regen noch immer nicht nachgelassen hatte. All diese Eindrücke ließ sie noch einmal an sich vorüber ziehen. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Es tat gut, das Leben wieder zu spüren.

„Omi?“ Lisa rüttelte sie sanft am Arm. „Möchtest du vielleicht lieber erst ein wenig schlafen und wir trinken den Tee später?“ „Nein, ist schon gut. Wenn ich jetzt schlafe, dann bekomme ich die ganze Nacht kein Auge mehr zu. Lieber lege ich mich heute Abend etwas früher hin.“ „Ok, dann kannst du in die Küche kommen. Der Tee ist nämlich schon fertig.“ „Lisa?“ Hanna streckte ihren Arm nach ihrer Enkelin aus, um sie zurückzuhalten. „Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass das eine wunderbare Idee von dir war, eine Woche zu mir zu kommen?“ „Findest du wirklich?“ Lisa versuchte die vor Rührung aufkommenden Tränen hinunterzuschlucken. „Ich hatte nämlich schon Angst, dass du nur zugesagt hast, weil du nicht anders konntest und nicht weil du mich wirklich bei dir haben wolltest!“ Hanna musste lächeln. Sanft streichelte sie über Lisas Wange. „Du bist etwas ganz Besonderes, mein Schatz! Wie könnte ich dich nicht bei mir haben wollen?“

Direkt nach dem Abendessen hatte sich ihre Omi in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Sie hatte sich dafür entschuldigt, Lisa nicht länger Gesellschaft zu leisten, aber der Tag, so schön er auch gewesen war, hatte sie sehr angestrengt, und vor dem Fernseher wäre sie sowieso nur eingeschlafen. Lisa hatte ihr versichert, dass das in Ordnung sein, sie wolle ohnehin den ganzen Abend lesen. Und das entsprach der vollen Wahrheit! Jetzt, nachdem sich ihre Aufregung um den Einkaufsbummel und das anschließende Auspacken der vielen Tüten und neuen Sachen gelegt hatte, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Omis Tagebuch! Also ging sie schnurstracks, kaum dass ihre Omi ihr Gute Nacht gesagt hatte, in ihr Zimmer, zog sich ihren Schlafanzug an, kramte das Tagebuch aus ihrem Rucksack hervor und machte es sich in die dicke Decke gewickelt und mit zwei Kissen im Rücken in ihrem Bett gemütlich.

Auch wenn Pierre nichts unternahm, um aus unserer Freundschaft mehr werden zu lassen, so trafen wir uns fast täglich, um gemeinsam miteinander zu essen, entweder bei mir oder bei ihm. Ich genoss unsere Abende zu zweit und für mich hätte es ewig so weitergehen können. Doch Anke, der ich ausführlich von unseren Treffen Bericht erstattete und die natürlich längst gecheckt hatte, dass ich mich in Pierre verliebt hatte, bedrängte mich immer mehr, sie einmal mit einzuladen, damit sie Pierre auch kennen lernen konnte. Natürlich hatte ich nichts dagegen, im Gegenteil, ich wollte unbedingt ihre Meinung zu Pierre hören, wissen, was sie von ihm hielt und sie dann auch fragen, ob sie glaubte, dass er vielleicht doch ein paar Gefühle für mich hegen könnte. Anke war im Moment meine einzige und somit auch beste Freundin hier. Ich vertraute ihr.

Dass es ein Fehler gewesen war, Anke und Pierre miteinander bekannt zu machen, merkte ich im Grunde genommen schon, als sich die beiden das erste Mal gegenüber standen. Anke war wie zur Salzsäule erstarrt und Pierre auch. Es war nicht unbedingt das, was man Liebe auf den ersten Blick nannte, nein, mit Liebe hatte das Ganze wahrscheinlich noch am wenigsten zu tun, aber es war eine körperliche Reaktion, die zwischen den beiden stattfand und die mir sofort einen Stich ins Herz versetzte. Ich ließ mir nichts anmerken, versuchte so natürlich wie möglich zu bleiben und hoffte inständig, dass ich mir nur wieder einmal etwas einbildete.

Es blieb nicht bei dem einen Abend zu dritt, es wurde vielmehr zur Gewohnheit. Die Initiative dafür ergriffen beide, mal Pierre, mal Anke. Und ich erwiderte nichts. Wie sollte ich auch? Anke war meine Freundin und für Pierre waren meine Gefühle mittlerweile so stark, dass ich alles getan und akzeptiert hätte, nur um ihn weiterhin regelmäßig sehen zu können. Und was hätte ich auch sagen sollen: ‚Hallo, ich will mit Pierre alleine sein, auch wenn er es allem Anschein nach nicht will!’

Je öfter wir uns zu dritt trafen, desto mehr schrillten in mir die Alarmglocken, besser die Finger von allem zu lassen und desto mehr klammerte ich mich - entgegen aller Vernunft – an den dünnen Strohhalm des Vertrauens, der mich glauben ließ, dass Anke nicht nur ihr fester Freund sondern auch unsere Freundschaft wichtiger waren als irgendeine vorübergehende körperliche Anziehungskraft zu Pierre. Und ich redete mir auch weiterhin ein, dass zwischen mir und Pierre etwas ganz Besonderes lag und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch er das erkannte. Seine allzu offensichtliche körperliche Reaktion auf Anke übersah ich dabei einfach geflissentlich!

Wir unternahmen also regelmäßig etwas zu dritt. Natürlich bekam ich mit, wie die beiden sich oft vielsagende Blicke zuwarfen. Doch das Problem war, dass Pierre auch mir solche Blicke zuteil werden ließ, und jedes Mal, wenn er das tat, machte mein Herz wieder einen entzückten Hüpfer und mein Verstand schaltete sich aus. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, dass Anke, die größer und schlanker als ich war, körperlich gesehen, das Rennen bei Pierre mit großem Vorsprung für sich gewinnen würde.

Wenn ich hin und wieder den Mut fand und Anke auf ihre zweideutige Verhaltensweise gegenüber Pierre und ihre Beziehung zu ihrem Freund ansprach, reagierte sie immer nur sehr ausweichend: „Natürlich liebe ich meinen Freund... irgendwie, das heißt, ich will ihn auf keinen Fall verlieren. Das mit Pierre hat gar nichts zu bedeuten. Und außerdem willst du doch was von ihm. Ich würde doch nie...“ Sie brachte den Satz nie zu Ende und sie strafte mit jeder Geste, jedem Wort, jedem Blick gegenüber Pierre ihre Worte lügen, wenn wir uns zu dritt trafen. Und Pierre schien sehr anfällig für Ankes unterschwellige Art, ihn anzumachen.

Ich litt immer mehr, wenn wir uns zu dritt trafen. Die Situation wurde immer unerträglicher und ich klammerte mich immer mehr an etwas, das so offensichtlich zum Scheitern verurteilt war. Ich hatte Angst vor dem Tag, an dem es wohl oder übel zu einer Entscheidung kommen würde. Ich spürte, dass dieser Tag immer näher rückte. Zwar unternahmen weder Pierre noch Anke etwas, um die Situation zu ändern. Aber ich wusste, dass eine Entscheidung gefällt werden musste, weil ich es einfach nicht mehr länger aushielt. Schweren Herzens schrieb ich also einen Brief an Pierre. Ich offenbarte ihm all meine Gefühle und bat ihn, mir genauso offen zu sagen, was er für mich empfand. Ich schob den Brief freitags nachmittags unter seiner Tür durch, direkt bevor ich zum Bahnhof ging, um übers Wochenende zu meinen Eltern nach Hause zu fahren. Ich hatte ihn in dem Brief gebeten, am Sonntag Abend bei mir vorbeizukommen, wenn ich wieder zurück war, um gemeinsam über alles zu reden. Anke hatte mir gesagt, dass sie an diesem Wochenende in der Stadt bleiben würde, weil ihr Freund sie besuchen kam. Zumindest konnte ich also davon ausgehen, dass Pierre und sie das Wochenende nicht gemeinsam verbringen würden.

Das war allerdings nur ein kleiner Trost. Das ganze Wochenende über war ich total nervös, konnte keinen klaren Gedanken fassen, und vertraute mich schließlich meiner Mutter an, weil ich mir keinen Rat mehr wusste. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, sprach sie etwas aus, das ich immer versucht hatte, von mir zu weisen, das ich einfach nicht wahr haben wollte: „Meinst Du wirklich, dass Anke eine echte Freundin ist, wenn sie dir so offensichtlich in den Rücken fällt?“ Sie hatte recht. Natürlich hatte sie recht, auch wenn dazu natürlich immer zwei gehörten. Pierre trug an dem ganzen genauso viel Schuld wie Anke. Aber irgendwie hatten wir beide diesen Punkt erst einmal zur Seite geschoben. Ich entgegnete ihr, dass Anke die einzige „Freundin“ sei, die ich im Moment hatte und dass ich Angst hatte, sie zu verlieren. Angst hatte, in der für mich immer noch fremden Stadt plötzlich wieder ganz alleine zu sein und von vorne anfangen zu müssen. Ich weinte. Sie legte tröstend den Arm um mich und meinte: „Vielleicht ist es das Beste, wenn ihr beide einfach noch mal in Ruhe über alles redet. Warte, wie Pierre am Sonntag auf deinen Brief reagiert, und dann rede noch mal mit Anke über alles.“ Es tat so gut, mit jemanden darüber sprechen zu können. Bisher hatte ich immer nur Anke, um mich auszuheulen, aber die war natürlich keine große Hilfe gewesen in letzter Zeit.

Als ich am Sonntag wieder in mein Zimmer im Wohnheim zurückkehrte, war ich total nervös. Ich hatte Pierre geschrieben, mit welchem Zug ich zurückkam, und ihn gebeten, noch am Sonntagabend vorbeizukommen. Doch als es immer später wurde, verlor ich langsam aber sicher die Hoffnung. Schließlich musste ich mich damit abfinden, dass er nicht mehr vorbeikommen würde. Aber auch wenn ich total enttäuscht war, so hatte ich zumindest meinen Stolz bewahrt und war ihm nicht hinterhergelaufen.

Als ich am nächsten Tag von der Uni zurückkam, hatte ich immer noch keine Reaktion von ihm. Kein Zettel unter der Tür, mit dem er mir sonst immer Bescheid gab, wenn es um ein Treffen oder eine Information ging. Ich hatte einen Französischtest für den nächsten Tag vorzubereiten und hoffte, dass mich diese Arbeit genauso ablenken würde wie der Unterricht an der Uni. Aber ich schaffte es nicht, mich auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Ich konnte immer nur an Pierre denken und an das, was Anke mir heute morgen an der Uni gesagt hatte. Pierre war nämlich am Samstag bei ihr aufgetaucht, um mit ihr zu reden. Da ihr Freund bei ihr war, kam es zu keinem persönlichen Gespräch. Trotzdem hatten sie den Nachmittag zu dritt verbracht. Er war also zu ihr gegangen. Im Gegensatz zu mir hatte er nicht gewusst, dass ihr Freund da war. Er war also mit der Absicht zu ihr gegangen, mit ihr unter vier Augen zu reden, vielleicht sogar mehr. Allein der Gedanke daran versetzte mir einen schmerzhaften Stich ins Herz. Mein ungutes Gefühl hatte mich also nicht getäuscht: er interessiert sich für sie, nicht für mich! Ich hätte am liebsten losgeheult. Aber ich war wie versteinert. Und ich brachte keinen anderen Gedanken zustande, als den, dass ich unbedingt mit ihm sprechen musste. Auch wenn ich die Wahrheit nun kannte, ich wollte sie von ihm hören. Ich musste sie von ihm hören, sonst würde ich niemals Ruhe finden.

Den ganzen Nachmittag über ging ich in regelmäßigen Abständen an seinem Zimmer vorbei und klopfte an seine Tür. Er war nicht da. Ich erinnerte mich schließlich, dass er montags nach der Uni immer Fußball spielte. Ich kam also gegen sieben Uhr wieder, und dieses Mal hatte ich Glück. Er öffnete mir die Tür.

Ich wusste nicht wirklich, was ich erwarten sollte. Ich rechnete damit, dass er mir sagen würde, dass er sich in Anke verliebt hatte. Dass es ihm leid täte, weil dadurch unsere Freundschaft fürs erste unmöglich wurde. Eine ganz kleine, dünne Stimme in mir sagte: ,Sei froh, es ist besser so.’ Aber gleichzeitig hatte ich wahnsinnige Angst davor, wieder allein zu sein. Allein mit meiner enttäuschten Liebe für ihn, die in so kurzer Zeit so unglaublich tief geworden war, dass mein Herz sich schmerzhaft zusammenkrampfte, als ich ihm nun gegenüber stand. „Komm ‘rein.“ flüsterte er. Ich kam mir so bescheuert vor. Was für eine Demütigung! Woher nahm ich nur die Kraft, nicht einfach loszuheulen?

„Hast Du meinen Brief gelesen?“ Ich hasste nichts mehr, als lange um den heißen Brei zu reden. „Ja.“ Mehr nicht, einfach Totenstille. „Und?“ „Ich weiß nicht.“ „Du warst bei Anke am Wochenende. Warum?“ Ich schluckte, damit die aufkommenden Tränen nicht doch noch triumphierten. „Ich wollte wissen, was sie für mich empfindet. Aber ihr Freund war da. Ich weiß, dass sie ihn nicht liebt. Das hat man gesehen.“ Ich sagte nichts. Ich fühlte mich merkwürdig leer. Ich spürte, dass es keinen Sinn machen würde, irgendetwas zu erwidern. Ich spürte, dass alles einfach so kommen würde, wie es musste. „Setz Dich.“ sagte er und zeigte auf sein Bett. „Ich muss Dir jetzt etwas erzählen, was mir sehr wichtig ist.“ Ein Teil in mir hätte am liebsten gesagt: „Lass mich in Ruhe. Ich will nichts mehr hören.“ Aber ein anderer Teil trieb mich wie durch eine unsichtbare Kraft an, mich zu setzen und ihm zuzuhören.

Er begann von seiner Kindheit zu erzählen. Und von einem Mädchen, dass er schon kannte, seitdem er ein ganz kleiner Junge gewesen war. Sie waren Nachbarn gewesen. Schon immer. Und seit er denken konnte, war er davon überzeugt gewesen, dieses Mädchen eines Tages zu heiraten. Der kleine Junge hatte sich ein Leben lang eingeredet, dass sie füreinander geschaffen waren, und der junge Mann, der er mittlerweile war, glaubte weiterhin an diese Fügung des Schicksals. Er beschrieb sie in den schillerndsten Farben und den höchsten Tönen. Jedes Wort von ihm über sie tat mir in der Seele weh. Je länger und ausführlicher er erzählte, desto mehr hätte ich am liebsten laut geschrien, dass er endlich aufhören sollte. Es tat so verdammt weh! Aber ich schrie nicht. Ich hörte weiter zu und ließ die Tränen leise meine Wangen hinunter laufen. Er sagte, es wäre wie ein Traum, den er nicht vergessen konnte. Es war nie mehr zwischen ihnen gewesen als nachbarschaftliche Freundschaft, aber das hatte für ihn keine Bedeutung. Im Gegenteil, er wollte gar nicht mit ihr zusammen sein, noch nicht. Er wollte den richtigen Moment abwarten und sie dann einfach heiraten, wie in seinem Traum, den er seit seiner Kindheit mit sich herumtrug und behütete wie seinen Augapfel. Er sagte, er sei nie eifersüchtig gewesen, wenn sie einen Freund gehabt hatte. Weil er wusste, dass irgendwann ihre gemeinsame Zeit kommen würde. Er schrieb ihr regelmäßig Liebesbriefe und besuchte sie jedes Jahr an Weihnachten, wenn sie beide daheim bei ihren Eltern waren. Ich sah ihn durch meinen Tränenschleier an und flüsterte: „Und sie, was sagt sie dazu?“ Er zögerte einen Moment. „Sie weiß von meinem Traum, von meinen Gefühlen. Ich habe sie ihr nie verheimlicht. Anfangs hat sie sich davon geschmeichelt gefühlt, danach ist sie eine Zeitlang sehr wütend auf mich gewesen und hat mir verboten, ihr zu schreiben und sie zu besuchen. Aber vor kurzem haben wir uns zufällig wieder getroffen und sie war einverstanden, unsere Freundschaft wieder aufzunehmen, wenn ich mit dem „Unsinn“ von früher aufhöre. Seitdem habe ich ihr nur noch ganz normale, freundschaftliche Briefe geschrieben. Das heißt, bis vor kurzem. Da habe ich dann doch wieder damit angefangen. Ich habe ihr geschrieben, dass ich sie heiraten will, aber sie hat mir nicht darauf geantwortet. Noch nicht.“ Er machte eine Pause und sah kurz zu mir rüber. „Weißt Du“, fuhr er fort, „Du bist die einzige, der ich diese Geschichte bisher erzählt habe. Ich war noch nicht mit vielen Mädchen zusammen. Und ich hatte noch nie eine ernsthafte, lange Beziehung. Sie war der Grund dafür. Ich kann mich in niemand anderen verlieben. Ich kann vielleicht mit jemand anderem zusammen sein, aber ich kann mich nicht verlieben, weil ich eines Tages Stéphanie heiraten werde. Verstehst Du das?“ Am liebsten hätte ich gesagt, dass er völlig verrückt war und dass das alles nur Blödsinn sei, Kinderträume, Spinnerei! Doch tief in meinem Inneren konnte ich ihn verstehen. Auch ich war eine Träumerin. Auch ich hatte mich schon in Traumwelten geflüchtet, die sonst keiner nachvollziehen konnte. Aber bei all meinem Verständnis überwiegte ein anderes Gefühl noch viel mehr: der Schmerz. Es tat weh, dass er diese Gefühle nicht für mich hatte. Es tat weh, dass diese Geschichte ihn für mich noch unerreichbarer machte als ohnehin schon. Eine Weile sagten wir gar nichts mehr. Meine Tränen waren mittlerweile versiegt, als ich tonlos fragte: „Und Anke?“ „Ich weiß auch nicht, ich fühle mich merkwürdig von ihr angezogen. Aber ich weiß, dass es rein körperlich ist.“ ,Und bei mir?’ hätte ich am liebsten hinzugefügt. Doch ich konnte mir die Antwort denken. Wir waren Freunde. Wir verstanden uns prima. Ich war diejenige, der er solche Geschichten wie mit Stéphanie erzählen konnte. Vielleicht sollte ich mich einfach damit zufrieden geben. Vielleicht sollte ich sogar froh darüber sein. Was würde es mir bringen, mit ihm zusammen zu sein mit der Gewissheit, dass er bereits eine andere liebte, eine andere heiraten wollte? Und außerdem war da auch noch Anke, von der er sich unweigerlich angezogen fühlte. Wo sollte da überhaupt noch Platz für mich sein? Es war wirklich besser so. Kurz und schmerzlos. Schmerzlos... nein, es war alles andere als schmerzlos. Er hatte in kürzester Zeit und völlig unbewusst mein Herz mit Beschlag belegt, und es würde verdammt weh tun, es mir wieder zurückzuholen... Deshalb schaffte ich es auch nicht, einfach aufzustehen und zu gehen. Deshalb musste ich ihm noch diese eine letzte Frage stellen: „Und was empfindest Du für mich?“ Er sah mich lange an und sagte nichts. Dann rückte er näher an mich heran, zog mich in seine Arme und antwortete: „Ich weiß nicht, was ich empfinde, aber ich weiß, was ich will!“

Als ich am nächsten Morgen nach einer kurzen Nacht neben ihm aufwachte, war ich glücklich. Ich wusste, dass es dafür wenig Grund gab nach allem, was er mir gestern erzählt hatte, aber ich war naiv und wollte einfach glauben, dass ich den ersten erfolgreichen Schritt auf einem langen, steinigen Weg geschafft hatte. Dem Weg zu seinem Herzen.

Ich ließ es mir nicht nehmen, Anke an der Uni sofort zu erzählen, dass Pierre und ich die Nacht zusammen verbracht hatten und wie es dazu gekommen war. Es war eine gewisse Genugtuung für mich, das konnte ich nicht leugnen. Den Teil mit seinen Gefühlen für sie und der Geschichte mit Stéphanie ließ ich natürlich weg. Sie schien... fast überrascht. Vielleicht sogar leicht enttäuscht. Allerdings nur einen kurzen Moment, dann fasste sie sich wieder und setzte ihr unschuldiges Lächeln auf.

Wenn ich ganz ehrlich war, wusste ich nicht genau, wie es weitergehen sollte. Aber ich war ganz fest davon überzeugt, dass es nicht bei dieser einen Nacht bleiben würde. Und ich behielt recht. Wir sahen uns noch häufiger als vorher und verbrachten regelmäßig die Nächte zusammen. Ich war glücklich, einfach nur glücklich und nichts anderes zählte mehr für mich als unsere Momente zu zweit. Der Rest war vergessen. Alles, was vorher geschehen war und auch alles, was sich abspielte, wenn wir uns hin und wieder zu dritt trafen und die beiden sich weiterhin Blicke zuwarfen, die mehr als nur freundschaftlich waren. Ich sah einfach nicht hin, wollte es nicht sehen. Ignorierte es geflissentlich, weil ich Pierre nicht verlieren wollte. Und weil ich die Freundschaft zu Anke nicht verlieren wollte. Denn diese Freundschaft war das einzige, was ich im Moment hatte außer Pierre.

Pierre sagte mir nie, dass er mich liebte. Noch nicht einmal, dass er mich gern hatte. Er schlief mit mir und genoss es, dass ich ihn mit Liebesschwüren überhäufte. Für ihn war die Sache klar: Er hatte mir von Anfang an gesagt, woran ich bei ihm war, und dass ich nicht mehr von ihm zu erwarten hatte als die gemeinsamen Stunden zu zweit. Und ich hatte mich darauf eingelassen.

Die Zeit verging und ich begann, weitere Bekanntschaften zu schließen. Die Beziehung zu Pierre, so wackelig sie auch war, hatte mir Selbstvertrauen gegeben und ich spürte gleichzeitig das dringende Bedürfnis, Alternativen zu meiner Freundschaft zu Anke zu finden. Unter anderem auch deshalb, weil sie immer noch so gesprächig wie ein Mönch mit Schweigegelübde war und ich das ganze Gegenteil davon. Ich brauchte Leuten, die genauso gerne plauderten wie ich, wenigstens hin und wieder...

Es war an einem der Fußballabende im Wohnheim, als Pierre und ich mit einer ganzen Meute von Leuten in der Heimbar saßen, um das Spiel anzuschauen. Ich war nicht nur gekommen, weil Pierre da war, sondern weil mich Fußball schon immer interessierte. Die Stimmung war sehr gut. Da ich eines der wenigen Mädchen war, fiel ich den Jungs natürlich auf. Einer von ihnen, der neben mir saß, wartete, bis Pierre zu Laurent rüberging, um ein Gespräch mit mir anzufangen: „Hi“, sagte er, „ich bin Sascha. Wie kommt’s, dass Du Fußball guckst?“ Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und unterhielten uns prima. Zuerst bekam Pierre davon gar nichts mit. Im Allgemeinen vermied er es, vor den anderen zu zeigen, dass wir zusammen waren und hielt sich dementsprechend selten in meiner Nähe auf, wenn wir mit anderen unterwegs waren. Ich betrachtete diese Tatsache als Bestandteil unserer unausgesprochenen Vereinbarung, dass wir zusammen waren ohne wirklich ein Paar zu sein. Es machte mir mittlerweile auch viel weniger aus als am Anfang. Immerhin hatte das an diesem Abend zum Beispiel den Vorteil, dass ich mich ungestört mit Sascha unterhalten konnte. Doch plötzlich schien sich Pierre wieder an mich zu erinnern und schaute von dort, wo er mit Laurent zusammen stand, zu mir herüber. Als er sah, wie vertieft Sascha und ich ins Gespräch waren und dabei sogar das Fußballspiel völlig vergessen hatten, kam er plötzlich mit einem Satz zu uns herüber und legte besitzergreifend den Arm um mich. „Hallo.“ begrüßte Sascha ihn freundlich und sah amüsiert auf den Arm auf meiner Schulter. „Ich kenne Dich. Du wohnst auf meinem Flur.“ Eigentlich verstanden sich die beiden auch recht gut, aber es war von Anfang an zu spüren, dass Pierre mein herzlicher Kontakt zu Sascha missfiel. Seine Eifersucht gefiel mir, wenn sie auch mehr als unbegründet war, denn Sascha hatte mir längst von seiner Freundin erzählt, mit der er schon über zwei Jahre zusammen war. Das sagte ich auch zu Pierre, als wir später auf meinem Zimmer waren und er erneut keinen Hehl daraus machte, dass er eifersüchtig war. „Wenn Sascha nicht eine Freundin hätte, würde er es garantiert bei Dir versuchen. Davon bin ich überzeugt!“ Ich musste lächeln. War er vielleicht doch auf dem besten Wege mehr Gefühle für mich zu entwickeln, als er es ursprünglich vorgehabt hatte? Tatsache war jedenfalls, dass er Sascha auf dem Kieker hatte und es nur äußerst ungern sah, dass wir es uns zur Regel machten, uns einmal die Woche zum Plaudern zu treffen, und daraus eine immer engere Freundschaft zwischen uns entstand. Mir tat diese Freundschaft in dem ganzen Gefühlsdurcheinander mit Pierre und Anke total gut. Mit Sascha konnte ich über alles reden, über meine Beziehung mit Pierre, über den Unistreß, über Fußball, über Musik, einfach über alles. Ich wusste, dass er für mich da war, wenn ich Probleme hatte und umgekehrt. Unsere Freundschaft war aufrichtig und ehrlich.

Als Pierre und ich ungefähr einen Monat zusammen waren und ich mal wieder übers Wochenende zu meinen Eltern fahren wollte, fragte ich ihn, ob er mitkommen wollte. In unserer Familie war es nichts Außergewöhnliches, jemanden mit nach Hause zu bringen, ob es nun ein einfacher Freund war oder mehr. Bei Pierre war das anders. Mit seinen Eltern redete er nie über irgendwelche Beziehungen abgesehen davon, dass er noch nie eine richtig feste gehabt hatte. Deshalb war seine erste Reaktion eher zurückhaltend. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, nach so kurzer Zeit meinen Eltern vorgestellt zu werden, ja sogar ein ganzes Wochenende dort zu verbringen. Für ihn war das, als ob damit der erste Schritt in Richtung feste Bindung, Hochzeit und so weiter eingeläutet würde. Eine solche Perspektive hatte aber für ihn nie zur Debatte gestanden. Wir hatten zwar seit unserer ersten Nacht nie wieder über seinen Traum mit Stéphanie gesprochen, aber ich wusste, dass sich an seiner Einstellung nichts geändert hatte. Und so lange sich an dieser Einstellung nichts änderte, würden sich für uns beide auch keinerlei Zukunftsperspektiven ergeben. Deshalb war für ihn die Idee, meine Eltern kennen zulernen nicht sehr logisch. Wäre da nicht seine Reise- und Entdeckungslust gewesen, hätte er die Idee, mit mir nach Hause zu kommen, sofort mit einem Handschlag von sich gewiesen und nie wieder zur Sprache gebracht. So aber war er hin- und hergerissen zwischen der Vernunft, unsere Beziehung nicht über eine gewisse Grenze gehen zu lassen, weil er mir darüber hinaus nichts versprechen konnte und wollte, und der Neugierde, die geweckt war, weil er die Gegend, in der meine Eltern lebten, noch nicht kannte.

Ich ließ ihm so viel Bedenkzeit, wie er wollte, und schließlich entschied er sich doch FÜR das Wochenende mit mir, nachdem er sich mehrere Male vergewissert hatte, dass meine Eltern deswegen nicht gleich das Aufgebot bestellen würden...

Lisa klappte seufzend das Tagebuch zu. Es war mal wieder Zeit, das Licht auszumachen. Hoffentlich würde sie morgen wieder einen Moment finden, um weiterzulesen. Diese Geschichte war ja richtig spannend! Merkwürdig, dass ihre Omi nie etwas davon erzählt hatte. Sie als Omi würde ihren Enkeln später sicher alle spannenden Geschichten aus ihrem Leben erzählen! Sie legte das Tagebuch wieder in das Rucksack-Versteck und knipste die Lampe aus. Sie stellte sich ihre Omi in jungen Jahren vor. Bestimmt hatte sie irgendwann schon mal alte Fotoalben mit ihr angeschaut, aber richtig erinnern konnte sie sich nicht mehr. Sie würde gleich morgen danach fragen!

Noch ein Leben

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