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Als Annabel am nächsten Morgen vom Wecker wach geklingelt wurde, brauchte sie erst einmal ein paar Minuten, um sich klar zu werden, wo sie war und was gestern passiert war. Alleine aufzuwachen war nichts Neues für sie. Allzu oft war Harald auf Geschäftsreise gewesen und hatte sie tage-, ja manchmal sogar wochenlang mit Lisa alleine gelassen. Die Gewissheit allerdings, dass er sie betrogen hatte, weg und höchstwahrscheinlich genau in diesem Moment bei der anderen war, und nichts mehr so sein würde wie früher, das war etwas, das neu war für Annabel. Neu und sehr schmerzhaft. Sie fühlte sich wie nach einer durchgezechten Nacht, dabei hatte sie nicht mal das Glas Wein ausgetrunken, das sie sich für ihr Candlelight-Dinner eingeschenkt hatte!

Lustlos wälzte sie sich aus dem Bett. Wenn sie nicht zu spät zum Flughafen kommen wollte, musste sie sich beeilen. Doch irgendwie fehlte ihr für alles und jedes die Kraft. Sie kannte dieses Gefühl von früher. Von der Zeit vor Harald, als sie sich während ihres Studiums immer wieder in die falschen Typen verliebt hatte und sie immer wieder aufs Neue enttäuscht wurde. Wie oft hatte Simon ihr damals den Trennungsschmerz erleichtert, indem er für sie da war, ihr zuhörte, sie sich an seiner Schulter ausweinen ließ oder aber sie mit seinen Späßchen mir nichts dir nichts wieder zum Lachen brachte.

Auch heute war in gewisser Weise er es, der ihr den nötigen Auftrieb gab, um sich nicht ganz hängen zu lassen. Hätte er ihr gestern Nacht nicht mir nichts dir nichts zugesagt, anstelle von Harald mit ihr nach Madeira zu fliegen, hätte sie nicht nur das Geld für eine Woche Urlaub verloren, sondern sie wäre mit Sicherheit direkt beim Aufwachen in einen Teufelskreislauf aus Selbstmitleid und Selbstvorwürfen gefallen, aus dem sie so schnell keinen Ausweg gefunden hätte.

So aber blieb ihr gar keine Zeit, über ihr verlorenes Glück mit Harald nachzudenken. Sie musste noch die letzten Sachen einpacken, das Haus auf Vordermann bringen und sich um ein Taxi kümmern. Erst als sie die Tür hinter sich schloss und in das Auto stieg, das vor ihrer Tür wartete, kehrte das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenwerdenseins, das sie schon beim Aufwachen überkommen hatte und das so unzertrennlich mit jeder schmerzhaften Trennung verbunden war, zurück. Sie kam nicht umhin, sich zu sagen, dass sie jetzt eigentlich mit Harald in diesem Taxi auf dem Weg zum Flughafen sitzen müsste. Dass sie gestern um die Zeit noch so glücklich gewesen war bei der Idee, ihn überraschen zu können. Dass es verdammt noch mal nicht fair war, dass sie nun ihr ganzes Leben wieder von vorne aufbauen, die Strapazen einer Scheidung auf sich nehmen und dabei ihre Tochter so gut wie möglich außen vor lassen musste! Warum hatte er ihr das angetan? Warum? Natürlich wusste sie, dass sie nicht die erste war und auch nicht die letzte sein würde, die durch diese Hölle ging. Aber verdammt noch mal, womit hatte sie das verdient?!

Der Taxifahrer warf ihr einen mitleidigen Blick zu, weil sie zum x-ten Mal versuchte, die Tränen von den geschminkten Augen zu tupfen, ohne dass ihr die ganze Wimperntusche übers Gesicht lief. So sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es einfach nicht, den Tränenfluss zu stoppen. Erst als das Flughafengebäude in Sicht kam, zwang sie sich, den Kloß im Hals endgültig hinunter zu schlucken, weil sie Simon nicht mit verheulten Augen gegenüber treten wollte. Natürlich hätte er es verstanden und sie sofort getröstet, aber wenn sie sich nicht ein wenig besser in den Griff bekam, würde sie die ganze Woche über nur Rotz und Wasser heulen. Und das war dieser Scheißkerl, der sich ihr Ehemann nannte, wirklich nicht wert!

Simon wartete bereits am Eincheckschalter. Schon von weitem hatte sie ihn wieder erkannt, doch sie gab ihm bewusst kein Zeichen, damit sie den Moment des Wiedersehens und die Vorfreude darauf noch ein wenig hinauszögern konnte. Annabel wusste, dass sie sich im Gegensatz zu ihm verändert hatte. Sie trug ihr Haar nicht mehr so kurz wie beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, und seit ihrer Schwangerschaft mit Lisa hatte sie die überschüssigen Pfunde nie wieder ganz verloren. Als sie nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war, stellte sie ihren Koffer ab und sah ihm eine Weile zu, wie er mit der Dame am Schalter flirtete. „Simon?“ sagte sie dann zaghaft. Er drehte sich um und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Annabel!“ Er kam auf sie zu und drückte sie fest an sich. „Ich freu mich dich zu sehen!“ „Ich mich auch, Simon!“

Pünktlich um zehn hob die Maschine nach Madeira ab. Simon hatte sofort gesehen, dass Annabel geweint hatte, und alles daran gesetzt, ihr zum weiteren Trübsalblasen keine Zeit zu lassen. Er erzählte unaufhörlich Anekdoten aus seinem Leben als Berufsschullehrer. Am Anfang lachte er noch alleine darüber, doch mit der Zeit taute Annabel mehr und mehr auf, vergaß ihren Kummer für die Zeit des Fluges und stimmte herzhaft in sein Lachen mit ein.

Als sie im Hotel auf Madeira ankamen, versuchte Annabel vergeblich, aus dem reservierten Doppelzimmer zwei Einzelzimmer zu machen. Selbst gegen Aufpreis war nichts zu machen gewesen. Das Hotel war komplett ausgebucht, so dass sie nicht umhin kamen, sich ein Zimmer teilen zu müssen. Großzügig bot Simon an, auf der Sitzcouch neben dem Fernseher zu schlafen. Annabel antwortete daraufhin, dass sie sich abwechseln würden: eine Nacht sie, eine Nacht er, damit jeder mal in den Genuss des großen, breiten Bettes kam. „Okay, Partner.“ sagte Simon und zwinkerte ihr zu. „Aber vielleicht wird das gar nicht lange nötig sein, wenn ich erst mal auf die Pirsch gegangen bin und eine einsame Lady aufgerissen habe, die mich den Rest der Woche bei sich einquartieren wird.“

Annabel musste grinsen. „Du bist also immer noch Single und immer noch derselbe Charmeur wie damals.“ schmunzelte sie. Er legte sein Casanova-Lächeln auf und meinte theatralisch: „Yeah, Baby, mir kann keine widerstehen!“ Sie lachte. „Keine außer mir, weil du mir alle deine Schandtaten und Aufreißtricks anvertraut hast. Ich wusste, was mich erwartet hätte, wenn ich deinem Charme erlegen wäre! Deshalb habe ich der Versuchung nie nachgegeben!“ Simon kam mit schnellen Schritten auf sie zu, riss sie herum, als würde er Tango mit ihr tanzen, verstellte seine Stimme zu einem tiefen Bariton und meinte: „Das ist alles nur eine Frage der Zeit, Süße!“

Einen Moment lang verharrten sie in dieser Stellung und das Lachen, das er bei ihr ausgelöst hatte, verstarb langsam. Sie spürte, wie ihr Herz begann schneller zu schlagen und eine Sekunde lang glaubte sie, er würde sie in seine Arme ziehen und küssen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie genau davor Angst gehabt, als Simon ihr gestern so spontan zugesagt hatte. Die Zeit des Studiums war lange her. Sie waren nicht mehr die zwei Studenten, die die besten Kumpels der Welt waren. Sie waren beide erwachsene Menschen. Und Simon war ein sehr einfühlsamer und attraktiver Mann. Der Mangel an Zärtlichkeiten mit Harald in den letzten Monaten und sein Geständnis, eine andere zu haben, hatten Annabel so zugesetzt, dass sie durchaus in der Lage gewesen wäre, sich einfach in Simons Arme fallen zu lassen! Freundschaft hin oder her!

„Ich glaube, es wird Zeit, dass ich Lisa anrufe!“ meinte Annabel schließlich mit einem Räuspern und wand sich aus Simons Armen. „Klar, kein Problem. Dann drehe ich so lange mal eine Runde. Es sei denn, du brauchst mich?“ Annabel verstand sofort, was er damit sagen wollte und wusste, sein Angebot zu schätzen. „Nein, das ist lieb von dir, aber da muss ich jetzt erst mal alleine durch.“ Er wandte sich zum Gehen. „Aber Simon: Danke, dass du da bist. Es tut gut zu wissen, dass es jemanden gibt, auf den man zählen kann. Ich bin wirklich froh, dass ich dich gestern angerufen habe.“ „Ich auch.“ Er zwinkerte ihr aufmunternd zu und verließ das Zimmer.

Annabel nahm ihre Handtasche und holte das Handy heraus. Sie hatte es direkt nach der Landung wieder eingeschaltet in der Hoffnung, eine Nachricht von Harald zu haben, die ihr mitteilte, dass er Lisa, wie gestern angekündigt, angerufen und ihr die Notlüge mit seiner unerwarteten Geschäftsreise unterbreitet hatte. Doch ihre Mailbox hatte keine gespeicherten Nachrichten und auch das Display zeigte keine Anrufe in Abwesenheit an. Sie überlegte, ob sie Harald kurz anrufen sollte, doch allein der Gedanke daran, ihn zu sprechen, bereitete ihr ein flaues Gefühl im Magen.

Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwei. Die beste Zeit, Lisa anzurufen, bevor ihre Mutter ihren Mittagsschlaf machen würde. Aber hatten sie nicht vereinbart, dass sie warten würde, bis Harald Lisa angerufen hatte? Verdammt noch mal, wieso hatte er sie noch nicht angerufen? Je länger sie darüber nachdachte, desto größer wurde ihr Bedürfnis mit ihrer Tochter zu reden und ihr die Situation selbst zu erklären. Harald konnte dann immer noch seinen Teil dazu beitragen, oder? Und überhaupt: wieso sollte sie auf Harald Rücksicht nehmen? Wenn sie Lust hatte, mit ihrer Tochter zu sprechen, dann würde sie das auch tun!

Als das erste Freizeichen in der Leitung ertönte, fing ihr Herz vor Aufregung wild an zu klopfen. Das war das beste Zeichen, dass sie Angst hatte. Angst davor, nicht die richtigen Worte zu finden. Angst, dem ganzen nicht gewappnet zu sein. Angst, ihre Tochter das erste Mal in ihrem Leben anlügen zu müssen. Nein, nicht anlügen, korrigierte sie sich. Nicht die ganze Wahrheit erzählen. Das war nicht dasselbe, oder doch?

„Hier bei Hanna Stock, guten Tag!“ meldete sich Lisa direkt, und Annabel fiel ein Stein vom Herzen, dass sie dadurch nicht auch noch ihrer Mutter irgendwelche Lügen auftischen musste. „Hallo mein Mäuschen!“ sagte sie zärtlich. „Hallo Mama!” freute sich Lisa. „Und, wie hat Papa reagiert? Hat er sich über die Überraschung gefreut?“ Annabel senkte traurig den Kopf. Unbewusst passierten wieder die Bilder des gestrigen Abends vor ihren Augen und sie musste mehrmals schlucken, um vor Lisa nicht in Tränen auszubrechen. „Naja, wie soll ich dir das erklären? Papa... Er wäre wirklich gerne...“ „Nein!“ unterbrach Lisa sie wütend. „Sag jetzt bloß nicht, dass er unsere ganze Überraschung kaputt gemacht hat!“

Annabel spürte, wie ihr die ersten Tränen über die Wange liefen. Sie versuchte tapfer, ihre Stimme zu kontrollieren, musste jedoch erneut mehrere Male schlucken, bevor sie weitersprach: „Lisa, ich weiß, dass du enttäuscht bist und glaub mir, ich war es nicht weniger! Aber es gibt im Leben manchmal Dinge, die man nicht ändern kann. Papa wird dich selbst gleich noch anrufen und dir erklären, warum er nicht kommen konnte!“ Uff, wenigstens konnte Annabel sich nicht vorwerfen, Lisa direkt angelogen zu haben. Im Gegenteil, sie hatte ihr im Grunde genommen nur die Wahrheit erzählt. Was Harald anschließend daraus machen würde, war seine Sache!

„Und warum hast du mich dann gestern Abend nicht gleich angerufen, um mir zu sagen, dass du doch nicht in Urlaub fährst?“ Annabel sah ihre Tochter richtiggehend vor sich, wie sie mit geballten Fäusten, zusammengezogenen Augenbrauen und Schmollmund im Telefonsessel ihrer Mutter saß. Wie gut konnte sie ihren Ärger und ihre Enttäuschung verstehen, und wie gerne hätte sie ihr die ganze Wahrheit erzählt! Aber im Moment musste sie sich mit der Kurzfassung davon begnügen, wenn sie den Schaden, der durch die Trennung von Harald ohnehin noch groß genug für Lisa werden würde, erst einmal in Grenzen halten wollte.

„Es war sehr spät gestern, Mäuschen. Ich wollte dich und Omi nicht wecken. Und außerdem...“ Annabel zögerte einen kurzen Moment, bevor sie weitersprach. „Ich bin trotzdem in Urlaub geflogen.“ „Du bist trotzdem geflogen? Alleine? Aber wieso denn?“ „Ach Mäuschen. Ich wusste zuerst selbst nicht, ob ich fliegen sollte oder nicht. Aber weißt du, ich hatte mich wirklich auf den Urlaub gefreut. Es ist schon so lange her, dass ich das letzte Mal so eine Reise gemacht habe. Und außerdem hätte ich die Reise wenn überhaupt nur teilweise zurück erstattet bekommen. Da dachte ich, dass ich auch davon profitieren könnte. Verstehst du das?“ Lisa sagte einen Moment gar nichts. Sie schien zu überlegen. „Ja, doch.“ meinte sie dann. „Klingt irgendwie logisch, vor allem wegen dem Geld, das du sonst verloren hättest.“

Das erste Mal seit Beginn des Gespräches musste Annabel lächeln. Ihre Tochter war genauso praktisch veranlagt wie sie. „Und was hast du mit Papas Ticket gemacht?“ Logisch, dass diese Frage sofort hinterher kommen musste! Annabel atmete tief durch. Jetzt kam der wirklich schwierige Teil. Der Teil, den Lisa sicher am wenigsten verstehen würde. „Ich habe einen alten Studienfreund mitgenommen!“ Es war plötzlich totenstill in der Leitung. Annabel wartete einen Moment, dann fuhr sie fort: „Ich glaube, du hast ihn schon einmal gesehen, aber da warst du noch ganz klein. Wir waren während des Studiums die besten Freunde, haben viel zusammen unternommen. Ich habe dir sicher schon Fotos von unseren Ausflügen und Ferien gezeigt...“

Lisa spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie verstand kein Wort von dem, was ihre Mutter ihr erzählte. Wieso fuhr sie plötzlich mit einem Studienfreund weg? Und wo war ihr Papa? Was hatte das alles zu bedeuten? Da sah sie plötzlich ihre Omi aus der Küche kommen. Sie erinnerte sich daran, dass sie hierher gekommen war mit der Absicht, ihre Omi aufzuheitern. Sie durfte ihr jetzt nicht noch zusätzlichen Kummer bereiten, egal wie sehr ihr die Nachricht ihrer Mutter zusetzte! Tapfer richtete sie sich deshalb in ihrem Stuhl auf und schluckte die Tränen herunter.

„Lisa? Lisa, bist du noch da?“ fragte Annabel besorgt in den Hörer. „Ja, natürlich.“ „Ich weiß, dass alles nicht ganz so läuft, wie wir es uns ausgedacht haben. Aber wir versuchen einfach, das Beste draus zu machen, ok?“ „Ok.“ Annabel seufzte. Wie gerne hätte sie ihre Tochter jetzt einfach in ihre Arme genommen und in Ruhe mit ihr über alles gesprochen. Stattdessen war sie Tausende von Kilometern weit weg und konnte nichts tun! „Mäuschen, wenn du willst, nehme ich gleich morgen den nächsten Flug zurück und wir machen uns zu zweit eine schöne Woche zu Hause oder irgendwo, wo du immer schon mal hin wolltest!“ „Nein, nein, Mama, ist schon gut. Mach dir um mich keine Sorgen, mir geht es sehr gut hier bei Omi!“

Annabel wollte schon etwas erwidern, als sie innehielt. Sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu verstehen, dass sie das, was sie sich vorgenommen hatte, auch bis zum Ende durchzog. Lisa war zu ihrer Omi gefahren, um sie eine Woche lang auf andere Gedanken zu bringen. Nichts würde sie davon abbringen, selbst ein geplatzter Überraschungsurlaub ihrer Eltern nicht! Ein Gefühl von unendlicher Liebe und Stolz überkam Annabel. Lisa war wirklich ein Goldstück! Annabel würde alles tun, um sie so weit wie möglich aus ihren Problemen mit Harald herauszuhalten.

„Lisa, ich hab dich ganz doll lieb, das weißt du, oder?“ „Ja, Mami.“ „Ich ruf dich wieder an, nachdem Papi dich angerufen hat, ok?“ „Das brauchst du nicht, Mama. Es reicht, wenn du mich alle zwei Tage oder so anrufst. Ich bin doch kein Baby mehr!“ Annabel musste lächeln. „Ich weiß, mein Mäuschen. Ich höre eben einfach nur gerne deine Stimme.“ „Ok, dann kannst du mich morgen wieder anrufen.“ „Das mach ich doch glatt!“ „Willst du Omi noch kurz sprechen?“ „Nein, nein, ich red ein anderes Mal mit ihr. Sag ihr einfach schöne Grüße!“ „Ok, tschüss Mama!“ „Tschüss, Mäuschen.“

Annabel schickte eine kurze Info-SMS an Harald, dass sie Lisa bereits angerufen hatte, ihm aber die Aufgabe überließ, ihr den „wahren“ Grund für seine Absage mitzuteilen. Dann ließ sie kraftlos das Handy aufs Bett gleiten und stieß einen Seufzer aus. Lange würde sie das nicht durchhalten. Allein während dieses kurzen Telefonats hatte sie mehrere Male an sich halten müssen, um nicht in Tränen auszubrechen. Wie sollte das bloß werden, wenn sie Lisa wieder gegenüber stehen würde? Annabel stand auf und ging ziellos im Zimmer auf und ab. Sie wollte nicht schon wieder weinen, spürte aber wie der Kloß im Hals immer dicker wurde, bis sie kaum mehr schlucken konnte. Sie brauchte unbedingt frische Luft! Da Simon noch nicht wieder zurück war und es keinen zweiten Zimmerschlüssel gab, ging sie auf den kleinen Balkon und atmete dort tief durch. Sie sah auf das Meer hinaus. Eine leichte Brise wehte den salzigen Duft der Gischt zu ihr hinüber.

„Der Ausblick ist einfach herrlich!“ Erschrocken fuhr Annabel herum. Sie hatte Simon nicht kommen hören. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken!“ „Nein, nein, ist schon gut. Ich bin nur...“ Annabel drehte sich weg. Er sollte sie nicht schon wieder weinen sehen. Simon legte besänftigend seine Hand auf ihre Schulter. „Weißt du, es macht mir nichts aus, wenn du weinst. Ich meine, du musst dich nicht vor mir verstecken. Ich kann das wirklich gut verstehen. Und wenn ich mit dir hierher gekommen bin, dann auch weil ich wusste, dass du jetzt eine starke Schulter zum Ausweinen brauchst.“ Er drehte sie zu sich um und zog sie in seine Arme. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, während er besänftigend über ihr Haar strich.

Als Annabel sich ein bisschen besser fühlte, setzten sie sich auf die beiden Stühle, die auf dem Balkon standen. „Erzähl mir ein wenig von dir.“ forderte sie Simon auf. .“Was hast du so getrieben in den letzten Jahren? Und wie kommt es, dass du jetzt Lehrer bist?“ Simon verstand, dass Annabel im Moment erst einmal nicht über ihre eigenen Probleme reden wollte. Deshalb ging er auf ihre Fragen ein und begann, ihr ausführlich aus seinem Leben zu erzählen.

„Ich glaube, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war deine Tochter kurz vor ihrer Einschulung, oder?“ „Ja, das kann hinkommen. Ich glaube, in dem Einkaufszentrum, in dem wir uns getroffen haben, haben wir gemeinsam die Schultüte für sie ausgesucht.“ „Richtig! Tja, das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her...“ Simon schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie schnell die Zeit vergeht...“ Dann erzählte er ihr von seinem Wechsel vom Diplom-Kaufmann zum Berufsschullehrer mithilfe eines Fernstudiums, von seiner letzten länger anhaltenden Beziehung und von seinem neuen Wochenendhäuschen, das er sich vor kurzem an der Nordsee gekauft hatte. Sie hörte ihm aufmerksam zu und stellte wie schon früher so oft fest, dass es einem bei Simons Erzählungen nie langweilig wurde. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können.

Irgendwann sah Simon auf die Uhr und meinte, dass es Zeit sei, sich ein wenig die Beine zu vertreten und dabei ein Restaurant fürs Abendessen ausfindig zu machen. Annabel war einverstanden. Als sie im Zimmer am Bett vorbeikam, sah sie auf dem Display ihres Handys, dass eine Nachricht eingegangen war: „Habe Lisa angerufen. Ist nicht gut auf mich zu sprechen. Hoffe, das legt sich mit der Zeit. Ruf mich an, um das weitere Vorgehen zu besprechen, wenn du von Madeira zurück bist! Mach‘ dir eine schöne Zeit auf Madeira;-), Harald.“ „Arschloch!“ brummte Annabel, und Simon wusste sofort, dass nicht er damit gemeint war...

Noch ein Leben

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