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9 Wolf Graf von Kalckreuth (1887-1906)

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1900 (Ölgemälde des Vaters Graf Leopold von Kalckreuth)

19 Jahre - Freitod

Wolf Graf von Kalckreuth wurde 1887 in der Dichterstadt Weimar als ältester Sohn des anerkannten Malers Leopold von Kalckreuth geboren, der hier an der Kunstakademie wirkte. Seit seiner Kindheit war der hochbegabte Schriftsteller und Übersetzer durch die „englische Krankheit“ körperlich beeinträchtigt gewesen – die heute als Rachitis bekannte Erkrankung führte durch Vitamin-D-Mangel zu einer Fehlbildung seiner Beine. Er wurde von klein auf von Orthopäden zu Orthopäden geschleift, bekam Einlagen und Schienen – jedoch alles ohne wirklichen Erfolg. Seine „Schulterblätter und Rippen schief, Rückgrad ausgeboten. Die Rippen drücken auf die Organe, behindern das Herz“ (ärztliche Diagnose).

Durch die Beeinträchtigung im Leben entwickelte sich zwischen Wolf und seiner Mutter eine starke Bindung. Er wurde in einem goldenen Käfig großgezogen und wuchs sehr behütet auf. Vielleicht zu behütet, denn als er 18 Jahre alt wurde, wollte er unbedingt zum Militärdienst. Vielleicht, um auszubrechen, sich zu beweisen, dass er so wie seine Altersgenossen ein echter Kerl war? Jedenfalls wurde er bei der Musterung als untauglich eingestuft. Erst nachdem Wolf Graf von Kalckreuth ein Immediatsgesuch beim König eingereicht hatte und sich auf seine einflussreichen Familienmitglieder berief, durfte er am 1. Oktober 1906 in die Artillerie-Kaserne in Cannstatt einrücken. Doch noch einmal zurück:

1890 gab der Vater Leopold von Kalckreuth sein Lehramt auf und zog samt der Familie nach Schlesien auf das Gut Höckricht bei Klein Oels. Neun Jahre später ging es weiter nach Stuttgart. Dort besuchte der Sohn Wolf das humanistische Karls-Gymnasium und begann mit ersten dichterischen Arbeiten und Übersetzungen. Seine größte und erfolgreichste Übersetzung sollte „Die Blumen des Bösen“ von Baudelaire werden, die am Ende seines Lebens eine besondere Bedeutung erhielt.

Die letzten Monate, kurz nach dem Abitur, verbrachte er mit vielem Reisen, vor allem durch die Niederlande. Dabei verfasste er Sonette und übersetzte weiter. Wie viele junge Männer seiner Generation war er von der künstlerischen Bewegung „Fin de siecle“ erfasst und verkörperte nur zu gut die hierfür typische Agonie: seine Texte klingen oft wie die eines Sterbenden – eines Mannes, der sich seiner Endlichkeit bewusst war. Seine Dramen und Prosaentwürfe sind voller Melancholie. So schrieb er in einem seiner Gedichte:

Zu schwach für die Arbeit, zu feig zum Genuss!

Ich wollte, ich könnte endlich zum Schluss

Eingehen in den stillen Hafen.

Ich hatte den Funken zu höherem Flug,

Jedoch zur Tat nicht Stärke genug…

Nun lasst mich ruhig schlafen!

Seine Eltern schienen sich schon länger einer gewissen Todessehnsucht des Sohnes bewusst gewesen zu sein - auch wenn der Schock am Ende seines Lebens trotzdem tief saß.

Nur 9 Tage nach Antritt in der Kaserne von Cannstatt wurde Wolf Graf von Kalckreuth mit einem Schuss in der rechten Schläfe tot auf seinem Bett liegend aufgefunden. Die Anforderungen des Militärdienstes waren weitaus höher als er es sich hätte vorstellen können. Aufgrund seiner körperlichen Beeinträchtigung hatte der junge Mann keine Chance, mitzuhalten.

Es war 04:30 Uhr gewesen, als Anwohner einen Schuss gehört und die Polizei verständigt hatten. Sie fand neben dem Leichnam ein aufgeschlagenes Buch. Es war… seine eigene Übersetzung der „Blumen des Bösen“, mit den Zeilen: „Tod! Greiser Kapitän, es ist Zeit! Lass uns die Anker lichten!“

Hinterlassen hatte er der Familie einen in Schönschrift verfassten Abschiedsbrief, den seine Mutter über 20 Jahre danach mit ins Grab nehmen sollte. In diesem Brief freute er sich darauf, bald mit den Großen, Plato, Dante und Goethe, zu sein; sie (die Eltern) sollten sich mit ihm freuen, da es ihm ja nun gut gehe. Jetzt beginne sein schönstes und größtes Erlebnis (Quelle: „Der Freitod Wolf Graf von Kalckreuth“, Manfred Schmid).

Leopold:

„Um nichts ist er von uns gegangen, hat unser Glück auf immer zerstört. Und doch kann ich ihm nicht zürnen. Es lag in ihm, der Tod stand ihm näher als das Leben… Nun liegt er still auf seinem Bett, wie ein Held auf seinem Schild, mit entschlossenem Gesicht – und hat es überstanden.“

War sein Gesamtwerk anfangs nur Liebhabern und Kennern bekannt, so wurde sein Schaffen dank eines ihm gewidmeten Requiems von Rainer Maria Rilke im Jahr 1908 einer großen Öffentlichkeit vertraut. Obwohl die beiden sich nie persönlich begegnet waren, fühlte Rilke mit der Familie und konnte die Leiden des Künstlers – zumindest in Teilen – gut nachvollziehen, da er genau wie Wolf in seiner Militärzeit sehr gelitten hatte.

Der Grundstein zur Todessehnsucht wurde sicherlich schon früher in Kalckreuths Leben gelegt, ob seine Erfahrung bei der Armee der Auslöser oder nur der eh schon gesuchte Grund gewesen ist – das könnte nur er selbst beantworten. Und er tut es wohl auch, durch seine Gedichte.

Sonett

Die Lüfte werden seltsam klar und leicht,

denn alle Hoffnung ist im Sand bestattet

und selbst die Macht der Schwermut ist ermattet,

die ich geliebt, wie alles, was entweicht.

Nun ist der Pfad der blassen Nacht erreicht,

den ihr im Leben längst vergessen hattet.

Er ist so zart, so wundersam beschattet,

dass kein Gefilde ihm an Wehmut gleicht.

Der Pfad auf weißem, schleierhaftem Moose,

der Pfad ins Niebetretne, Wesenlose. -

Und wenig nehme ich dahin von hier.

Doch eh die Sinne sich in Nacht versenken,

schenkt mir ein leises, zitterndes Gedenken,

schenkt die Erinnerung toter Sehnsucht mir!

Ein Herz erlischt

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