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10 Raymond Radiguet (1903-1923)

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1923

20 Jahre - Typhus

Als ich begann, mich mit Raymond Radiguet auseinanderzusetzen, war mein erster Gedanke: was ein schöner Mann! Warum muss so einer mit 20 Jahren sterben.

Ihn auf sein Äußeres zu beschränken, ist jedoch unmöglich. Denn sein Geist brachte Werke hervor, die noch heute berühren. Angefangen hatte er mit Gedichten, die er dank der Tätigkeit seines Vaters als Karikaturist einer französischen Zeitung schon bald gedruckt sehen konnte. Bereits mit 17 Jahren schrieb der frühreife Dichter den Roman „Le diable au corps“ (Den Teufel im Leib), der einen Skandal hervorrief. Skandal daher, weil in diesem Roman eine Liebesgeschichte erzählt wird, die einer Frau, deren Mann im Krieg ist, und einem jungen Mann geschieht – die Protagonisten haben es sozusagen dem Krieg zu verdanken, dass sie zusammen sein können. Die Geschichte an sich ist sehr bewegend, sie zeigt das Auf und Ab der Gefühle eines erwachsen werdenden Menschen. Radiguet selbst hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Beziehung mit seiner Lehrerin hinter sich und war – so kann man sagen – nicht gerade unerfahren.

Bereits 1918, im zarten Alter von 16 Jahren, hatte er Jean Cocteau kennen und lieben gelernt. Diese Beziehung sollte Cocteau zeit seines Lebens beeinflussen. Nachdem Radiguet gestorben war, wurde Cocteau schwer opium- und alkoholabhängig, einen Zusammenhang mit dem Tod seines Freundes bestritt er allerdings bis zuletzt. Zu Radiguets Lebenszeiten hatte er das Talent seines Geliebten gefördert. Dank seines Einflusses wurde der Dichter vom Militärdienst befreit – auch das sei erwähnt, gerade im Hinblick auf das tragische Ende des zuvor benannten Wolf Graf von Kalckreuth.

Der auch als Dramatiker und Librettist tätige Radiguet gehörte, wie viele junge Menschen seiner Zeit, dem Fin de Siecle an. Der Fin de Siecle war eine künstlerische Bewegung um die Jahrhundertwende gewesen, die sich dem kulturellen Verfall gewidmet hatte. Sie glaubte, dass Platz für etwas Neues geschaffen werden musste, und war vom Leben im Alltag gelangweilt. Es entstand eine Subkultur der Bohémien und Dandys, die ihre eigene Vorstellung vom Leben kraft ihres künstlerischen Schaffens hervorbrachte.

So sehr wie sich heute alle auf Radiguets Jugendlichkeit und seine dafür eigentlich untypische Reife beziehen, so sehr war ihm dieser Vergleich schon immer zuwider gewesen. Er wollte keinesfalls durch „Jugendlichkeit“ bestechen, vielmehr war er davon überzeugt, dass – Zitat – „die größten Dichter die sind, deren Werk ihr Alter vergessen lässt“. So kleidete er sich für einen jungen Mann eher untypisch, ging mit Spazierstock raus und trug ein Monokel auf der Nase. Ja, er fühlte sich in seinem Jahrhundert fremd und erschien wie eine Gestalt aus vergangenen Zeiten. Mit Kubismus konnte er nichts anfangen, in der Literatur seiner Zeit gab es nur wenige Werke, die ihm etwas sagten (und für Musik war er völlig unempfänglich). Tatsächlich hatte er als Kind sich oft auf dem Boot seines Vaters versteckt, um dort ungestört stundenlang Bücher aus dem 17. und 18. Jahrhundert lesen zu können.

Trotz aller Bemühungen konnte er seinem Ruf nicht fliehen: Freunde nannten ihn scherzhaft Monsieur Bébé. Und natürlich war er nicht nur Opfer seiner Jugend und Schönheit – er nutzte sie auch, um als Künstler voranzukommen.

Cocteau sollte ein wichtiger Mensch im kurzen Leben des sehr schlecht sehenden Radiguets sein (er, so Cocteau, „hüpfte von Gehsteig zu Gehsteig“ und hatte den Gang eines verwundeten Vogels). Cocteau war es, der ihm einen selbst entworfenen Trinity-Ring aus drei verschiedenen Goldtönen als Liebespfand geschenkt hatte, der am kleinen Finger getragen wurde und in Insiderkreisen als „Schmuckstück homosexueller Liebe“ angesehen wurde. Cocteau war es auch, der in den letzten Stunden an Radiguets Seite gesessen hatte.

1923 erkrankte der Analytiker menschlicher Gefühle ganz plötzlich an der Fiebererkrankung Typhus, die im 19. und 20. Jahrhundert durch verunreinigte Nahrung und unsauberes Wasser hervorgerufen wurde. Die Salmonellen verbreiteten sich schnell im Körper des Dichters und führten am 12. Dezember zu seinem Tod. Noch drei Tage zuvor hatte er gesagt: „Am übernächsten Tag werden die Soldaten Gottes mich füsilieren“. Er hatte recht gehabt. Heute ist er ein Klassiker außer seiner Zeit, der dank seiner frühreifen Sichtweise völlig altersfrei betrachtet werden kann.


aus der Zeitschrift „Der Querschnitt“, Band-/Heftnummer 4. 1924, H.2/3, Sommer

"Mein wahres goldenes Zeitalter ist jetzt,

denn jetzt ist die einzige Zeit, die ich habe."

Ein Herz erlischt

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