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Ein Dienstagmorgen in der Georg-Klingenberg-Schule in Berlin-Biesdorf, einer Inte­grierten Sekundarschule (ISS), die als Schulform in Berlin seit 2010 Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammenführt.

Normalen Unterricht gibt es diese Woche in der Klingenberg-Schule nicht, denn die Schülerinnen und Schüler arbeiten im Rahmen der Projektwoche in besonderen Arbeitsgruppen. In Raum 404 haben sie sich zum Projekt »Flucht und Vertreibung« versammelt und begrüßen als Gäste unter anderem Ahmed, 19 Jahre alt, aus Syrien, und Othman, 28 und aus dem Irak. »Wir haben an unserer Schule keine eigene Flüchtlingsklasse und auch kaum Kinder mit Migrationshintergrund«, sagt Monika Kassner, Referendarin an der ISS und eine der Betreuerinnen des Projekts. In der Fachkonferenz Ethik hatte sie zusammen mit ihren Kolleginnen Caroline Gruhne und Anja Pribbenow überlegt, wie sich der Projektwochenschwerpunkt »Buntes Berlin« mit dem aktuellen Flüchtlingsthema in Verbindung bringen lässt. Und auch, wie man Schülerinnen und Schülern vermitteln kann, dass es Flucht und Wanderungsbewegungen in der Geschichte eigentlich schon immer gab und sie deshalb als Phänomen nicht neu, sondern völlig normal sind.


Bild rechts: Joshua Kriesmann, Helen Schmitz und Paula Fredrich von »Schüler Treffen Flüchtlinge e. V.«

So sind an diesem Morgen mehrere ältere Berlinerinnen und Berliner dabei, die als Zeitzeugen von den Flüchtlingsströmen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs berichten können – und eben Ahmed und Othman, die beide erst seit einigen Monaten in Deutschland leben. Den Kontakt zu den beiden Flüchtlingen hat der gemeinnützige Verein »Schüler Treffen Flüchtlinge e. V.« hergestellt, der von Lernenden des europäischen Gymnasiums Bertha-von-Suttner in Berlin-Reinickendorf gegründet wurde. Helen Schmitz und Paula Fredrich, beide 16 Jahre alt, sind in diesem Verein aktiv und begleiten Ahmed und Othman heute. In kleinen Tischgruppen sitzen sie jeweils mit einigen der Acht- und Neuntklässler von der ISS zusammen und helfen, die erste Scheu beim Kontakt zu den jungen Männern aus Syrien und dem Irak zu überwinden. Die Schülerinnen und Schüler haben sich Fragen aufgeschrieben.

»Mit wem sind Sie geflohen?«, wollen sie von Ahmed wissen. »Wie war die Flucht? Haben Sie einen Schaden davongetragen? Hatten Sie Essen und Trinken dabei?« Der 19-jährige Syrer überlegt kurz, bevor er antwortet. Er sei mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen, berichtet er. Und es gebe viele, sehr viele schlechte Erinnerungen, die ihn immer wieder bedrücken. Der Hunger und die Frage der Versorgung sei da eher das kleinere Problem gewesen. Andererseits habe er seit seiner Ankunft in Deutschland keine Benachteiligung erlebt und sei sehr dankbar, dass er jetzt in Sicherheit sei.

»Viele Schüler haben hier schon ganz bestimmte Vorurteile Flüchtlingen gegenüber“, erzählt eine Lehrerin unterdessen. Diese drehen sich um die Belästigung von Frauen und den Diebstahl von Handys, und genau an diesem Punkt will die Projektwoche ansetzen, um bisherige Denkgrenzen aufzusprengen. In den Gesprächsrunden kann man sehen, dass das Konzept aufgeht: Nachdem die anfängliche Zurückhaltung überwunden ist, kommt schnell ein Gespräch zustande, bei dem die ISS-Lernenden sich voller Stolz bemühen, bei Verständnisproblemen auf Englisch weiterzufragen.

Am Tisch nebenan erzählt Othman von seiner Flucht vor der Terrormiliz »Islamischer Staat« aus dem Irak. Sein Leben geriet in Gefahr, weil er den Familiennamen Mohammed trägt – und damit in den Augen der Fundamentalisten Gotteslästerung begeht. Seit dem 3. Oktober 2015 ist Othman in Deutschland, »um ein neues Leben zu beginnen und alles Schlimme hinter mir zu lassen«. Schnell wird klar: Für die Schülerinnen und Schüler der Projektgruppe ist dies eine willkommene Gelegenheit, das Thema Flucht und Vertreibung ganz genau zu hinterfragen und einen eigenen Zugang zu Betroffenen zu finden.

Genau das ist auch das Ziel des Vereins »Schüler treffen Flüchtlinge e. V.« (STF). »Wir haben festgestellt, dass es bei unseren Mitschülern eine große Hilfsbereitschaft und ein riesiges Interesse am Thema Flucht und Flüchtlinge gibt«, erzählt STF-Vorsitzender Joshua Kriesmann. Doch der Wunsch, im Schulalltag mehr dazu zu machen, scheitere oft an Unsicherheiten der Schulleitung und daran, dass engagierte Lehrerinnen und Lehrer ohnehin schon viel zu tun haben. »Also haben wir gedacht: Da müssen wir Schüler selbst ran«, sagt Joshua. Zusammen mit anderen Aktiven der Schülervertretung wurde im September 2015 zunächst eine Sammelaktion für eine Flüchtlingsunterkunft gestartet, die auf viel Resonanz stieß. »Wir haben dann solche Unterkünfte besucht und festgestellt, dass sie in erster Linie normalerweise keine Spenden brauchen, sondern sich besonders über soziale Kontakte freuen«, sagt Helen Schmitz, »oft geht es dabei um Zeit: zum Beispiel, um mit den Kindern zu spielen, damit die Eltern ungestört Deutsch lernen können.« Hochmotiviert suchten die Schülerinnen und Schüler des europäischen Gymnasiums Bertha-von-Suttner nach Mitstreitern – und waren schnell erfolgreich. »Im Kernteam der Initiative sind wir zu fünft aktiv, drei weitere Mitschüler unterstützen die Projektplanung – und dann gibt es alleine an unserer Schule noch 40 bis 50 Unterstützer, die vom Deutschunterricht über die Kinderbetreuung, von den Gesprächen mit Flüchtlingen in anderen Schulen bis zur Hilfe in den Willkommensklassen aktiv sind«, erzählt Dorothea Bähr vom STF-Vorstand.

Aus der lockeren Initiative wurde kurz darauf ein richtiger Verein, um dem Ganzen mehr Struktur zu geben. Denn neben Sammelaktionen und konkreter Hilfe für Flüchtlinge und Flüchtlingskinder wollen die STF-Akteurinnen und -Akteure ihre Idee auch an andere Schulen weitertragen und damit neue Formen der Begegnung möglich machen. »Unser Ziel ist es, an möglichst vielen Schulen ähnliche Teams zu etablieren, die dann ihrerseits Aktivitäten entwickeln und Hilfe organisieren«, sagt Joshua Kriesmann. Im Moment steht die Organisation eines Fußballturniers für Willkommensklassen aus ganz Berlin auf dem Plan, außerdem ein Training für Flüchtlingskinder beim Basketball-Bundesligisten Alba Berlin. Ein gemeinsames Koch-Event unter dem Titel »STF kocht!«, bei dem deutsche Schülerinnen und Schüler und Flüchtlingskinder zunächst in der Küche aktiv waren und anschließend einen langen, gemeinsamen Abend miteinander verbrachten, gab es schon.

Diese Idee von STF war so überzeugend, dass auch die Jury des von der Bertelsmann-Stiftung ausgelobten Jugendintegrationswettbewerbs »Alle Kids sind VIPs« auf den Verein aufmerksam wurde und STF im Frühjahr 2016 mit einem Preis bedachte. Mit dem Wettbewerb unter der Schirmherrschaft von Staatsministerin Aydan Özoguz, der Beauftragten der deutschen Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, zeichnet die Stiftung Jugendliche zwischen elf und 21 Jahren aus, die sich für Vielfalt an der Schule einsetzen und ehrenamtlich engagieren. »Der Verein wurde von Jugendlichen selbst gegründet und wird von ihnen eigenverantwortlich geleitet, alle Aktivitäten planen und führen sie selber durch«, lobt die Jury die Arbeit der STF-Aktiven. Dabei werde nicht nur den Flüchtlingen konkret geholfen und ihre Teilhabe an der Gesellschaft unterstützt, »sondern das gemeinsame Tun verbindet sie mit einheimischen Jugendlichen, die ebenfalls Neues lernen – aus der Gemeinsamkeit wächst Vertrauen und somit stärkt die Initiative Integration und Zusammenhalt«, heißt es in der Laudatio. Gleichzeitig aber seien Aktionen wie das gemeinsame Kochen so einfach gehalten, dass sie ohne großen Aufwand auch von anderen Schulen und Vereinen übernommen werden können. »Helfen, Lernen, Verstehen – darum geht es uns«, sagt Joshua Kriesmann. Eine Idee, die ankommt: Neben der praktischen Hilfe durch Mitschülerinnen und Mitschüler gab es schon Geldspenden, etwa von einer Schülerin, die spontan 100 Euro an STF übergab wegen der guten Arbeit, die der Verein macht. Mit der US-amerikanischen Botschaft in Berlin ist mittlerweile ein Sponsor dabei, der das Engagement der Schülerinnen und Schüler noch einmal besonders unterstützt: So wurde der STF-Vorstand zu einem internationalen Seminar in Zagreb eingeladen, bei dem es um Fluchtgründe in Europa ging. »Wahnsinn, was unsere einfache Idee plötzlich für Kreise zieht«, sagt Dorothea Bähr und strahlt.

Was sie denn in der noch jungen Geschichte ihres Vereins am meisten berührt hat? Die STF-Akteure müssen nicht lange überlegen. »Für mich ist es die Rückmeldung, dass das, was wir machen, gerade gebraucht wird und genau das Richtige ist. Ich kann als Schüler keine Unterkünfte in der Türkei bauen, aber ich kann Menschen hier in Berlin helfen«, sagt Joshua Kriesmann. »Mich bewegen die Begegnungen«, sagt Dorothea Bähr: »Da gab es beim Kochen einen kleinen Brand im Ofen – und zehn Minuten später tanzten wir zu arabischer Musik. Da waren die anderen keine Flüchtlinge mehr, sondern Freunde.« Und Helen Schmitz sagt: »Ich hätte nie gedacht, dass man die Gesellschaft wirklich verbessern kann.«

Die Flüchtlinge sind da!

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