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Auf dem Weg zum Busbahnhof, der bergab durch die engen Straßen der Altstadt führte und den Vincent im Laufschritt hinter sich brachte, weil er fürchtete, zu spät dran zu sein, erhielt er eine Nachricht von Héctor. Sein Flug war mit Verspätung gelandet, er stand gerade erst am Gepäckband. Vincent legte den Rest der Strecke gehend zurück und kam sich ein wenig bescheuert vor.

Er kaufte sich ein Cola-Wassereis und beobachtete die Straßenhändler, die sich um einen einfahrenden Flughafenbus scharten. Neben ihm stand eine alte Frau im Schatten einer Platane. Sie hielt einen Zettel in der Hand, der in Klarsichtfolie geschlagen war und Zimmer für 9 Dollar die Nacht bot. Sie hielt sich von dem Gedränge fern und blickte hoffnungsvoll zu den Touristen, von denen sie weitgehend unbeachtet blieb. Die Frau schien unfähig oder nicht willens, an dem aggressiven Kampf um Aufmerksamkeit teilzunehmen. Sie war sicher neu in dem Gewerbe. Vincent empfand ein unvermittelt starkes Mitleid mit ihr. Er wollte ihr Geld geben, wusste aber, dass er sie ohne Gegenleistung beschämen würde. Er spazierte einmal um den Kreisel und schmiss das zur warmen Cola-Soße zerlaufene Eis in den Abfall. Die Stadt machte es einem schwer, guter Laune zu sein.

Mit dem Erscheinen des nächsten Flughafenbusses wich seine Schwermut jedoch der leisen Vorfreude, nicht mehr alleine zu sein. Er sah Héctors Lockenkopf aus dem Bus steigen und sich nach einem bekannten Gesicht umsehen. Sie trafen sich auf halbem Wege und fielen sich in die Arme.

»Das sind ja richtige Showeinlagen«, sagte Héctor, als er sich von ihm löste. Er deutete auf die falschen Soldaten mit ihren ungeladenen Gewehren. »Wie ein düsteres Disneyland für Erwachsene.«

»Warte ab, ich bringe dich später auf den Boulevard zur Wachablösung der SU-Miliz. Soll ein großes Spektakel sein.«

Sie folgten dem erstbesten Taxi-Fahrer, der seine Dienste anbot, und ließen sich zum Apartment bringen. Vincent stellte die schwere Kameraausrüstung im Flur ab und öffnete hastig die Fenster, um den Alkoholdunst zu vertreiben. Er zeigte Héctor das Gästezimmer, das nicht viel größer war als das geblümte King-Size-Bett, das sich darin befand. Die Klimaanlage, die an der Außenwand des Gebäudes angebracht war, verdeckte einen Großteil des Fensters.

»Hübsch«, sagte Héctor.

»Es kostet dich immerhin nichts.«

»Die letzten Wochen habe ich auf Lehmböden geschlafen, ich beschwer mich nicht«, sagte Héctor und verabschiedete sich ins Badezimmer. Vincent setzte Nudelwasser auf und spürte, wie die Schwere der vergangenen Tage von ihm abfiel. Er musste an seine Studienzeit denken, als er mit Héctor einige Monate zusammengelebt hatte. Er hatte sich immer mit Menschen umgeben, die interessanter waren als er, oder zumindest zügelloser, was auf dasselbe hinauslief. Selbst heute, mit Anfang dreißig, war das nicht anders. Vincent wusste, dass er die Veranlagung zu einer ausgewachsenen Midlife Crisis in sich trug. Sie konnte schon in den nächsten Jahren ausbrechen, sollte seine Arbeit weiterhin nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die er sich wünschte.

Er schob kleingeschnittenes Gemüse in eine Pfanne, als Héctor aus dem Badezimmer kam. Er war nur mit einer Boxershorts bekleidet. Auf dem Kopf trug er einen Turban, den er sich mit einem Frotteehandtuch gebunden hatte. Vincent musste lachen, und einen anderen Zweck schien Héctor auch nicht verfolgt zu haben. Er verschwand in seinem Zimmer, kam angekleidet und bestens gelaunt zurück und aß mit Vincent zu Mittag.

Héctors Aufmerksamkeit waberte beständig an der Oberfläche seines ohne Zweifel scharfen Verstandes. Er hatte das Talent, die Gesprächsfäden seines Gegenübers formal aufzugreifen, nur um sie dann aus ihren Kontexten zu lösen und als Grundlage für die eigenen Gedanken zu nutzen. Wer nicht genau aufpasste, konnte Héctor deshalb für einen aufmerksamen Gesprächspartner halten. Gewöhnlich ließ sich Vincent darauf ein. Die Gespräche glichen dann einem Pingpong-Spiel: schnell, kunstvoll, durchaus amüsant und mit einem hohlen Geräusch beim Aufprall. In der sengenden Hitze konnte er diesem Spiel allerdings wenig abgewinnen. Sie saßen auf der Dachterrasse des Sparta und tranken kaltes Importbier.

Wassernebel stob zwischen die vollbesetzen Tischreihen, um sie zu kühlen. Vincent hatte diese Form der Klimatisierung nie verstanden – man fühlte sich kaum erfrischt und hinterher nur klebriger. Héctor band seine schweißverklebten Locken nach hinten und blickte sich nach Motiven um. Mit der Canon, seiner Reservekamera, die er ständig bei sich trug, machte er Aufnahmen von den Nachbartischen. Hinter dem gläsernen Windschutz lagen die Grenzanlagen und das Kriegsgebiet.

»Eins noch«, sagte Vincent, der ihm die Information nicht weiter vorenthalten wollte. »Morgen kann ich eine Reisegruppe an den Schießstand begleiten. Mit dem Veranstalter ist schon alles abgesprochen, die sind richtig glücklich, dass jemand über sie berichtet. Die haben ein großes Stück Land und ein Arsenal halbautomatischer Waffen, auf das sie die Leute loslassen. Schießstände, Hürdenläufe, Schützengräben, wie bei Full Metal Jacket. Das wären wirklich großartige Motive …«

»Morgen?« Héctors Stirn legte sich in Falten. Er legte die Kamera ab.

»Ich weiß, das ist viel verlangt, du bist gerade erst angekommen …«

»Du hast mir ein paar freie Tage versprochen. Sonst hätte ich auch in Indien bleiben können, ein paar Tage Goa, da hätte ich nichts dagegen gehabt.«

Vincent hob beschwichtigend die Hände. »Nach dem Schießstand hast du deine Ruhe, versprochen. Ich schaufle dir ein paar Tage frei, eine ganze Woche, wenn du möchtest. Das mit dem Schießstand ging wirklich nur morgen, der Veranstalter konnte mir keinen anderen Termin anbieten.« Zumindest nicht mehr in dieser Woche, aber das war nahe genug an der Wahrheit, dass er sich selbst von der Unausweichlichkeit seiner Forderung überzeugen konnte.

»Das finde ich nicht cool, Vincent.«

»Ist auch nicht cool. Ich stehe knietief in deiner Schuld. Ich bin wertlos vor deinem Antlitz. Ich bin Gewürm unter deinen Schuhen.«

Damit brachte er Héctor zum Lachen.

»Es ist nur ein halber Tag, um fünfzehn Uhr sind wir zurück.«

»In Ordnung.«

»Außerdem schmeckt indisches Bier nach Mist. Trinken die noch immer dieses Kingfisher

»Dünnes Argument, Vincent.«

In den nächtlichen Gassen der Stadt hätte er das Haus beinahe nicht wiedergefunden. Zwei Mal musste er umkehren, bis er plötzlich davor stand. Vincent klopfte am Tor und lehnte sein Ohr daran. Er hörte das Scharren eines Stuhls, ansonsten blieb es still.

»Ich will zu Sam«, sagte er.

Das Tor schwang auf, und der Junge, der ihnen geöffnet hatte, führte sie in den Innenhof. Sam erkannte ihn sofort wieder. Er prostete Vincent mit der Red-Bull-Dose zu, die er in der Hand hielt und wünschte ihnen einen schönen Abend.

»Hast du deinen Wingman mitgebracht?«

Vincent antwortete ihm lustlos. Sie wollten sich nicht lange aufhalten; beide waren müde und hatten morgen einen langen Tag. Héctor trug ein dickes Bündel Scheine bei sich, das er gerade aus einem Bankautomaten gezogen hatte und gleich wieder loswerden wollte. Er deckte sich mit ein paar Gramm Koks, Gras und größeren Mengen Pep ein. Vincent stand in höflicher Distanz und hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er beobachtete ein paar Kinder, die auf Bobbycars saßen und Wettrennen durch den Innenhof fuhren.

»Für dich nichts, mein Freund?«, fragte Sam, und Vincent winkte ab. Er nahm eine Sprachnachricht für Milo auf, mit dem er mittlerweile auch privaten Kontakt hielt. Er teilte ihm letzte Instruktionen für den morgigen Tag mit und Milo reagierte prompt mit dem bissigen Sarkasmus, den Vincent so sehr an ihm schätzte. Grinsend schob er sein Handy zurück, während Sam den Einkauf über den Tisch reichte.

»Kommt bald wieder vorbei, meine Freunde!«, sagte er und brachte sie zum Tor. Sie teilten sich einen Joint auf dem Nachhauseweg und ignorierten die Straßenköche, die ihre Gasgrills bereits ausgeschaltet hatten und ihre letzten gefüllten Fladenbrote zu Geld machen wollten, bevor sie mit den übrigen Abfällen im Straßengraben landeten.

Getriebene

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