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Das Apartment lag in der Altstadt von Thikro. Vincent suchte auf dem Klingelschild nach dem Namen der Haushälterin, konnte aber in dem ihm fremden Alphabet nichts erkennen. Er sah sich nach jemandem um, der ihm weiterhelfen konnte, und war dankbar, als eine Frau auf den Balkon trat und ihm zuschrie, ob er der Ausländer sei. Sie warf ihm einen Schlüssel hinunter und rief, sie würden sich im dritten Stockwerk treffen.

Vincent wurde von einer kleinen Alten und ihrer erwachsenen Tochter durch das Apartment geführt. Die Räume waren nach der Belagerung kernsaniert worden und strahlten die klinische Frische eines Neuwagens aus. Die Tochter erklärte ihm die Bedienung der Klimaanlage, des Flatscreens und des Wasserfiltersystems. Am Ende der Runde zählte sie ihm die Schlüssel in der Handfläche ab. Bei Problemen solle er sich an die Mutter wenden, sie wohne im Erdgeschoss und könne den Google Übersetzer bedienen, Kleidung wasche und bügle sie gegen Gebühr. Sie verabschiedeten sich, und Vincent schloss hinter ihnen die Tür. Sie hatten kein einziges Mal danach gefragt, was er die beiden Monate über in Thikro mache. Womöglich konnte man darauf keine ehrbare Antwort erwarten.

Vincent ging ins Badezimmer und ließ das Waschbecken volllaufen. Er wusch sich im Gesicht und unter den Armen und zog sich ein frisches Hemd an. Er setzte sich auf sein Bett, öffnete die schallisolierten Fenster und ließ den Lärm der Straße eindringen. Die Vorhänge bewegten sich leicht im Wind. Zum ersten Mal, seit er frühmorgens ins Taxi gestiegen war, kam er zur Ruhe. Er hätte nun einen Mittagsschlaf machen können, aber die Neugier drängte ihn an die Mauer. Der Gedanke, dass nur wenige Gehminuten entfernt die zivilisierte Welt endete, faszinierte ihn. Er dachte an mittelalterliche Darstellungen der Erdscheibe, an deren Rändern Schiffe in den Abgrund stürzten und im Schlund eines Ungeheuers verschwanden. Neben einer nahezu rührenden Naivität zeugten diese Stiche gleichermaßen von Abenteuerlust. Sie erzählten von den Grenzen dessen, was dem Menschen bekannt und erfahrbar war, und nichts anderes wurde den Touristen in Thikro verkauft. Die Mauer war eine Weltenscheide, die Frieden und Krieg voneinander trennte. Ein geordnetes Staatswesen traf auf die rivalisierenden Machtansprüche verfeindeter Milizen, die sich gegenseitig unter Dauerbeschuss hielten und in Folterkellern jeder Menschlichkeit beraubten. Vincent wusste, dass es eine Aussichtsplattform gab, die den Blick auf die andere Seite der Mauer bot. Er griff sich die Schlüssel und verließ die Wohnung.

Die Gassen der Altstadt gingen steil bergauf, und Vincent musste sich nach vorn beugen, um die Steigung auszugleichen. Schwitzende Leiber drückten sich aneinander vorbei oder begutachteten die Auslagen der Geschäfte. Eine Reisegruppe zog sich wie ein Bandwurm durch die Gasse, angeführt von einer Frau, die einen Regenschirm in die Höhe reckte, um in der Menge erkannt zu werden. In der Luft hing der Geruch von gebratenem Fleisch, das die Straßenköche in Brot drückten und mit tonlosen, allein durch den Zungenschlag variierten Schreien bewarben.

In den engen Häuserschluchten neigten sich die Wände einander zu, Stromleitungen und Balkone schienen sich wahllos zu kreuzen. Neben ihm gingen zwei Rucksacktouristen, offenbar auf der Suche nach ihrer Unterkunft. »Es ist nicht mehr weit«, raunte der Mann seiner Freundin zu, deren Dreads ihr schweißnass ins Gesicht hingen. Vincent horchte das Paar unauffällig aus, stieß jedoch nicht auf verwertbares Material. Er ließ die beiden zurück, als sie einem Jungen auf der Straße Hasch abkauften.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Steigung abflachte und die Mauer in Sicht kam. Vincents Pulsschlag beschleunigte sich. Die Gasse mündete in der neuen Hauptschlagader der Stadt, die parallel zu den Grenzanlagen verlief und Boulevard genannt wurde. Mit sichtlichem finanziellem Aufwand war hier eine Amüsiermeile errichtet worden, die aus Bars, Restaurants, Diskotheken und Stripclubs bestand. Die Häuser besaßen nur eine schmale Straßenseite und erstreckten sich schlauchartig nach hinten. Dicht gedrängt, wie mit hochgezogenen Schultern, reihten sie sich aneinander. Gegenüber verlief die Mauer, sechs Meter hoch und gekrönt mit Stacheldraht. Einige Gebäude waren aufgestockt worden, um einen Blick über die Mauer zu ermöglichen. Von den Dachterrassen bot sich freie Sicht ins Kriegsgebiet.

Vincent presste den Rücken gegen eine Hauswand und legte staunend den Kopf in den Nacken. Die Mauer bestand aus unverputztem Beton. Etwa alle zweihundert Meter erhob sich ein Wachturm, der von Stacheldraht und Überwachungskameras umgeben war. Ein schmaler Geländestreifen trennte den Boulevard von der Mauer. Zwei Spurrillen zeigten an, wo sich die Geländewägen der Grenzpatrouillen ihre Bahn schlugen. Gegenüber saßen die Menschen in Sonnenstühlen, ihre Stühle zur Mauer ausgerichtet, als betrachteten sie das Meer.

Vincent spazierte den Boulevard entlang, ohne den Blick von der Mauer zu nehmen. Innerhalb kürzester Zeit wurden ihm Gras, Hasch, Ketamin und MDMA angeboten sowie weitere Drogen, deren Codewörter er nicht kannte. Die jungen Dealer lehnten an Häuserwänden oder begleiteten ihre Zielgruppe ein Stück des Weges. Manche hielten eingeschweißte blauen Pillen zwischen den Fingern. Love-Love zischten sie, rieben das Plastik aneinander und sahen mit ihren eingefallenen Gesichtern und dem ruhelosen Blick nach allem anderen als Love aus.

Trotz der Popmusik, die von den Terrassen der Restaurants zu ihm drang, verlor die Mauer nichts von ihrer unerbittlichen Gewalt. Selfie-Sticks wurden aus der Menge gereckt, um den Grenzverlauf durch die Stadt und über die Berge einzufangen. Vincent verfolgte einige Gespräche, die sich zur Existenz der Mauer meist lobend, seltener kritisch, aber allesamt ehrfürchtig äußerten. Unauffällig notierte er sich O-Töne und ging weiter. Er ignorierte die Versuche der Kellner, ihn an einen Tisch zu lotsen, bis sich ihm einer in den Weg stellte. Der Mann deutete auf überbelichtete Fotos von Würstchen mit gebratenen Tomaten und erklärte, dass das Frühstück im Pork House noch bis sechzehn Uhr serviert werde. Vincent lehnte ab, doch der Mann versperrte ihm abermals den Weg. Er sprach wie zu einem Freund, um dessen Wohlbefinden er sich sorgte. Ob er lieber ein Bier trinken wolle? In der Bar werde Bier in Gallonen ausgeschenkt. Vincent verzichtete auf eine Antwort und schob sich an ihm vorbei.

Er begann, seinen Spaziergang mit der Handykamera aufzuzeichnen, und sprach seine Eindrücke für seine Follower auf. Zwischen den gastronomischen Angeboten befanden sich Läden, in denen billige Handyschalen, Gürtel, Jeans und Fußballtrikots verkauft wurden. Für wenig Geld konnte man sich Tattoos stechen oder Henna auftragen lassen. An den Büros der Tourismusagenturen hingen Bilder von Tagesausflügen, auch Paintball-Gelände und Schießstände wurden beworben. Vincent nahm einen Flyer entgegen und wurde von einem Agenten in ein Gespräch verwickelt. Der Mann hielt ihm einen Ordner hin und zeigte Fotos von Sturmgewehren und Handfeuerwaffen, die sich auf einem nahegelegenen Schießstand abfeuern ließen. Vorschriften gebe es keine, nur volljährig müsse man sein und zum Zeitpunkt des Besuchs nicht alkoholisiert. Vincent ließ sich die Kontaktdaten des Agenten auf den Flyer schreiben und verabschiedete sich. Mit dem guten Gefühl, einen ersten Ansatz für seine Recherchen gefunden zu haben, setzte er seinen Spaziergang fort.

Die Stadt entsprach recht genau den Vorstellungen, die er von ihr gehabt hatte. Allein die Besucherschichten waren heterogener als angenommen – Partyvolk war hier ebenso vertreten wie urbanes Bildungsbürgertum, was es schwieriger machen würde, seine Kritik eindeutig zu adressieren. Auch Söldner entdeckte Vincent immer wieder unten den Passanten. Sie trugen ihre Uniformen selbst in der Freizeit und präsentierten sich mit kaum verhohlenem Stolz. Die Männer gehörten nicht den Streitkräften der Union an, sondern einer paramilitärischen Einheit, die den Grenzverlauf in und um Thikro kontrollierte. Die Solidarische Union – kurz SU genannt – war weltweit in Krisengebieten aktiv. Die Finanzierung der Miliz war undurchsichtig und führte in rechtsradikale Milieus. Vincent beobachtete eine Gruppe Söldner und beschloss, ihnen eine Weile zu folgen. Regelmäßig bildeten sich Trauben um die Männer. Passanten klopften ihnen auf die Schulter oder wollten ihnen die Hand schütteln, viele baten um ein Foto. Es schien nicht wenige zu geben, die sich ihretwegen auf den Weg nach Thikro gemacht hatten. Die Präsenz der Miliz in den sozialen Netzwerken war vorbildlich. Sie versorgte eine wachsende Zahl an Followern mit Bildern und Videos ihrer Einsätze. Ihre Beiträge waren patriotisch, mitunter witzig, und strotzten vor heroischen Posen. Die Söldner stammten aus allen Ländern der Welt und rekrutierten sich vornehmend aus Soldaten, die vorzeitig aus dem Militär geschieden waren. Manche der dreihundert Mann starken Truppe waren zu Internetberühmtheiten avanciert, darunter Frédéric Llosa, der sich nicht selten mit nacktem Oberkörper und seiner M60 fotografierte. Seinen privaten Accounts allein folgten beinahe so viele User wie der gesamten Truppe. Es kursierte ein Kartenspiel, das neben Llosa einunddreißig weitere Milizionäre abbildete, ein kurzlebiger Internethype, ausgelöst von einem Fan, dem die Verbreitung nach einem Rechtsstreit untersagt worden war.

Die Söldnergruppe nahm in einer Bar Platz, und Vincent verlor das Interesse an ihnen. Er war mittlerweile vor der Aussichtsplattform angelangt. Eine Treppe führte vom Boulevard zu einem der Wachtürme hinauf. Stege bogen links und rechts am Turm vorbei und mündeten in einer Plattform, die in das Kriegsgebiet hineinragte. Vor dem Kassenhäuschen verdichtete sich die Menge, ein Bildschirm wies den nächsten freien Slot in einer Stunde aus. Vincent zupfte an seinem Hemd, das durchgeschwitzt an seiner Brust klebte. Er hatte keine Lust, so lange zu warten. Der Boulevard hatte ihn ausgelaugt und die Sinne müde gemacht. Er beschloss, sich nach einem Taxi umzusehen, und sein suchender Blick blieb nicht unbemerkt. Er wimmelte einen Mann ab, der ihm einen früheren Slot für den Plattformbesuch verkaufen wollte, und einen anderen, der ihm Sugar anbot, was auch immer das sein mochte. Vincent schob sich durch die Menge und ließ den überfüllten Boulevard hinter sich. Zwischen den Hotelanlagen, die am Rande der Flaniermeile in die Höhe schossen, wurde es ruhiger. Er spürte, wie der Lärm in ihm nachhallte und die schmucklosen Zweckbauten der Stadt seine Augen entspannten. In einer Seitenstraße fand er einen Taxi-Fahrer und ließ sich in sein Apartment bringen.

Getriebene

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