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Vincent verbrachte den ersten Morgen in Thikro damit, sich ohne einen Plan durch die Nachbarschaft treiben zu lassen. Er gefiel sich als Flaneur, der sich seine Umgebung und damit den Gegenstand seiner journalistischen Arbeit mit einer gewissen Distanz erschloss. Die Möglichkeiten der Recherche waren begrenzt und die besten Geschichten fanden sich immer noch durch Zufall. Er hielt sich vom Boulevard fern und stellte fest, dass Thikro abseits dessen eine normale Stadt war. Er blickte in fremde Hinterhöfe und wechselte ein paar Worte mit Kindern, die kichernd ihr Schulenglisch an ihm erprobten. In den Straßen wurden die Rollläden hochgezogen und der Duft von frisch gebackenem Brot hing in der Luft. Vincent suchte nach einem Café, in dem er frühstücken konnte, als sein Telefon klingelte. Es war Héctor, sein Fotograf. Vincent zog sich in eine Häuserschlucht zurück und presste den Finger gegen sein linkes Ohr.

»Du lebst noch!«

»Gerade so«, sagte Héctor und lachte. »Entschuldige, dass ich mich so spät melde. Ich war bis gestern in irgendwelchen Tälern ohne Internetempfang.«

»Wo bist du jetzt?«

»In einem Hotelzimmer in Jammu, und ich habe nicht vor, es so schnell zu verlassen. Ich blättere gerade durch die Flyer der Lieferdienste. Wusstest du, dass es hier Domino’s gibt?

»Die gibt’s doch überall.«

»Gelobt sei der freie Markt, die ganze Welt kommt in den Genuss von Chicken BBQ Pizza. Bist du schon in Thikro?«

»Seit gestern.«

»Dein erster Eindruck?«

»Durchgeknallt«, sagte er und fühlte dem Wort nach, das er gewählt hatte. Er gab sich damit zufrieden. »Ja, durchgeknallt. Vor der Mauer reiht sich eine Bar an die andere, und ein paar Kilometer weiter schlagen Granaten ein. Amgar, die Rebellenhochburg, hast du davon gehört? Du kannst sie von hier aus sehen, es gibt eine Aussichtsplattform dafür. Es ist absurd, aber das Konzept geht auf. Dieses dekorative Elend, ein bisschen Exotik, ein bisschen Gefahr. Aber mit den Annehmlichkeiten eines All-Inclusive-Urlaubs … wann kommst du denn in Thikro an? Ich kann dich von der Busstation abholen.«

»Deswegen rufe ich an«, sagte Héctor in einem unguten Tonfall.

»Sag nicht –«

»Mir täte eine Auszeit gut. Das waren ein paar harte Wochen. Wenig Schlaf, immer auf Hochspannung.« Er setzte kurz ab. »Ich möchte nicht in die Details gehen, aber, naja … ich habe viel Blut gesehen.«

Sie schwiegen eine Weile. Vincent blinzelte zum Himmel hinauf, der sich als schmaler Streifen zwischen den Häuserwänden abzeichnete.

»Brauchst du ausgerechnet mich?«, fragte Héctor. »Der Volxmund hat doch selbst gute Leute. Was ist mit Christina?«

Christina war zu anständig – das war der erste Gedanke, der Vincent in den Sinn kam, und diese Tatsache schockierte ihn selbst ein wenig.

»Kannst du dir Christina auf Streife mit den Söldnern vorstellen? Oder bei Recherchen in einer Drogenküche?«

»Klar. Sie ist ein Profi.«

»Christina geht keine Risiken ein.«

»Und ich schon?«

»Du wägst Risiken ab und entscheidest dich dafür oder dagegen, das ist der Unterschied.«

»Was ist mit Liam?«

»Der ist doch ein Depp.«

Vincent lehnte die Stirn an die kalte Wand und schloss die Augen. Er sah bereits seine gesamte Reportage in sich zusammenstürzen.

»Bist du schon an was dran?«, fragte Héctor, um das Thema zu wechseln.

»Nicht wirklich. Ich komme erst mal an, sehe was sich ergibt. Kommende Woche habe ich ein Interview mit Chris Varga, dem Mann, der das ganze Geld in die Stadt pumpt. Aber du weißt ja, wie das ist. Am Ende fliegst du mit völlig anderen Geschichten zurück als erwartet.«

Auf der Straße ratterte ein Obstkarren übers Pflaster, die Warnrufe des Fahrers eilten ihm voraus. Passanten sprangen zur Seite und drückten sich zu Vincent in die Häuserspalte. Es handelte sich um die entscheidenden Minuten ihres Gesprächs, und die Störung erfüllte ihn mit einem kurzen, irrationalen Hass. Er drehte ihnen den Rücken zu und suchte nach den richtigen Worten.

»Héctor, die Bedingungen sind wirklich ideal. Du musst kein Geld für eine Unterkunft ausgeben, du schläfst in meinem Gästezimmer und kannst solange bleiben, wie du möchtest. Und der Volxmund zahlt gut, das weißt du. Ich nehme dir ein Video für meine Kanäle ab, und wenn es mit dem Intruder klappt, kriegst du auch dort noch Bilder unter. Um die Verwertung musst du dir also keine Gedanken machen. Das sind echte Traumbedingungen.«

Héctor sagte nichts.

»Nimm dir ein paar Tage Auszeit in Thikro. Du musst nicht sofort anfangen, es gibt auch keine Deadline. Ich muss sowieso noch einiges an Recherche erledigen. Du kannst dich in der Zwischenzeit ausruhen und die Sonne genießen, oder ein bisschen Party machen, oder beides. Wenn du soweit bist, starten wir.«

Er spürte der Stille in der Leitung nach. Héctor schien zu überlegen.

»Du bist der beste Fotograf, den ich kenne«, fügte er hinzu, weil er wusste, dass es ihn überzeugen würde, und weil es stimmte. »Komm schon, Héctor, bist du dabei?«

Die Altstadt war ein System an Kapillaren. Es war zu feingliedrig, um den Wegen einen Namen zu geben, und es genügte eine geringe Anzahl an Menschen, um es zu verstopfen. Nur selten traten die Berge zwischen den Häusern hervor und gaben ein wenig Orientierung. Vincent hatte sich verlaufen, aber das war nicht weiter schlimm. In Hochstimmung über die gerettete Reportage lief er einfach weiter, bis er auf eine Straße stieß, die er wiedererkannte. Er deckte sich mit Lebensmitteln ein und traf auf dem Rückweg die Haushälterin bei der Gartenarbeit. Er tippte ihr eine Nachricht in den Google Übersetzer. Ich bekomme einen Gast. Er reist Mittwoch an. Die Frau wischte ihre Finger an der Schürze ab und nahm das Telefon entgegen. Sie tippte eine Antwort ein. Ich beziehe das Bett am Nachmittag.

Vincent hievte die Einkaufstüten in den dritten Stock, stellte die Klimaanlage auf höchste Stufe und setzte Kaffee auf. Er würde den Tag damit verbringen, alte Texte zu redigieren, Rechnungen zu schreiben und bei Redaktionen nachzuhaken, die ihm eine Veröffentlichung oder zumindest ein Ausfallhonorar schuldeten. Er konnte nun die Rückstände der letzten Wochen abarbeiten, ohne in Zeitdruck zu geraten. Sein Aufenthalt in Thikro war großzügig berechnet. Für die Recherchen hatte er drei Wochen veranschlagt und er hatte einen Monat dran gehangen, als er von den billigen Mieten in der Stadt erfuhr. Das Devisengefälle drückte die Preise zusätzlich. Seine Wohnung hatte er überteuert zur Zwischenmiete ausgeschrieben und tatsächlich jemanden gefunden, der ihm den hohen Preis zahlte. Zu dem Zeitpunkt, als Vincent ins Flugzeug stieg, hatte er bereits mehr Geld verdient als mit dem Schreiben einer Reportage.

Er setzte sich an den Schreibtisch und begann zu arbeiten. Regelmäßig wanderte sein Blick auf sein Smartphone, ob er eine Nachricht von Nina erhalten hatte. Genau das hatte er vermeiden wollen. Er wollte sich nicht durch emotionalen Ballast von seiner Arbeit ablenken lassen, und doch fand er keinen Frieden damit, der Böse in dieser Geschichte zu sein, der kräftig Staub aufwirbelte und dann einfach verschwand. Er durchforstete Ninas Social-Media-Kanäle nach einem Anzeichen für ihre Stimmung und fand heraus, dass sie sein erstes Video von der Grenze retweetet hatte. Vincent nahm es als Beweis dafür, dass es um ihr Verhältnis so schlecht nicht stehen konnte, und wandte sich wieder seinen Texten zu.

Am Nachmittag hatte er den Großteil seiner Arbeit erledigt. Die Haushälterin klopfte, um das Gästebett für Héctor zu beziehen, und Vincent machte eine Pause auf dem Flachdach. Er hob den Aschenbecher auf, der dort auf dem Boden lag, und spazierte über die ungenutzte Fläche. Die Sonne reflektierte unangenehm von den hellen Fliesen. Er stellte sich ans Geländer und schirmte seine Augen mit der Hand ab. Unter dem Halbrund seiner Finger ging der Blick kilometerweit. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete vergeblich auf einen erfrischenden Windstoß. Vincent erinnerte sich an einen Sommertag, den er mit Nina verbracht hatte. Sie waren durch einen entlegenen Teil des Stadtparks spaziert, der von Teichen und hüfthohen Gräsern durchzogen war. Sie hatten sich eine Bahn durch das Gras geschlagen und mit ihrem Handtuch eine Liegefläche plattgedrückt. Über ihnen der Himmel, begrenzt von einer Korona aus Schilfrohr. Nina hatte ihm einen geblasen, aber er hatte keine wirkliche Freude daran gehabt. Die Luft hatte sich im Gras gesammelt und auf ihnen gelegen wie eine kratzige Wolldecke.

Er drückte die Zigarette nach der Hälfte aus und ging in die Wohnung zurück. Die Haushälterin war bereits verschwunden. Es war kurz nach sechzehn Uhr, der Tag halb angefangen und nicht zu Ende gebracht. Er nahm die Milch aus dem Kühlschrank und trank direkt aus der Flasche, bevor er sie in eine Schüssel goss. Er setzte sich in Unterhosen auf die Ledercouch, die unangenehm an seiner Haut klebte, aß Cornflakes und verfolgte die Nachrichten auf CNN.

Am Abend gestand er sich ein, dass er sich langweilte. Das Wissen, dass sich in der ganzen Stadt Menschen für den Freitagabend verabredeten, machte ihn unruhig. Er fühlte sich in die Pubertät zurückversetzt, als wartete er auf die Einladung zu einer Party, die er gar nicht besuchen wollte. Er saß am Fenster und blickte auf die Stadt, deren Berge einen rosafarbenen Glanz annahmen. In den dunkelnden Straßen leuchteten Reklamen auf. Er betrachtete einen Berghang, der jenseits der Grenze aufragte. Ein verlorenes Stück Erde, dachte er.

Vincent verließ das Apartment und ließ sich durch die Straßen treiben. Menschen, Gespräche und hellerleuchtete Geschäfte zogen an ihm vorbei. Ihm wurden Armbanduhren und einzelne Taschentuchpackungen angeboten, ein Straßenmetzger köpfte vor den Augen schaulustiger Touristen ein Huhn. Im Gedränge vor einer Straßenkreuzung hörte er ein eilig gezischtes Hasch. Er nickte dem Mann zu, der es ausgesprochen hatte, und der Mann deutete an, ihm zu folgen. Vincent wurde aus dem Getümmel der Altstadt zu einem nahegelegenen Mietshaus geführt. Die beiden sprachen kein Wort miteinander. Der Mann schob ein Eisentor auf, das den Zugang zum Innenhof versperrte, und führte ihn an einen Tisch. Leselampen waren auf die Tischplatte gerichtet, um das Sortiment in der Dunkelheit erkennen zu können. Er gab dem Verkäufer ein Zeichen und kehrte wieder um.

»Guten Abend, mein Freund, wie geht es dir?«, sagte der Verkäufer und aschte selbstvergessen in einen Marlboro-Aschenbecher. Vincent murmelte eine Antwort und trat näher. Gras- und Haschsorten lagen in aufgekrempelten Plastiktüten bereit. In einer Schüssel häuften sich kleine Tüten mit bunten Tabletten, daneben wurden Poppers, Viagra und verschieden befüllte Ampullen geboten. Vincent war nicht der einzige Kunde. Neben ihm stand eine Männergruppe in Sommersakkos, die ihren heutigen Rausch beratschlagten. Einer hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und beugte sich über den Tisch wie über eine Käseplatte. Der Verkäufer scherzte mit ihnen und erklärte die Unterschiede zwischen den Sorten. Er strahlte den Stolz eines Sammlers aus, der seine besten Stücke präsentierte.

Vincent betrachtete das Mietshaus, das sich von allen vier Seiten um den Innenhof schloss. Die Flure waren dem Hof zugewandt, Wäsche hing über den Geländern zum Trocknen. Hinter den Fenstern ging das Leben ungerührt weiter. Aus der Dunkelheit löste sich die Gestalt einer alten Frau, die Tee brachte. Sie stemmte sich das Tablett gegen den Bauch, als sie das leere Teeglas des Verkäufers gegen ein volles tauschte. Sie bot auch Vincent ein Glas, und er griff aus Höflichkeit zu. Der Verkäufer verabschiedete derweil die Männergruppe. Er winkte ihr hinterher, nahm seine Zigarette auf und wandte sich Vincent zu.

»Mein Freund, was kann ich für dich tun?«

Vincent begnügte sich mit zwei Grassorten in geringen Mengen. Der Verkäufer, der sich als Sam vorstellte, beschrieb ihm die Nuancen ihrer Wirkung und schüttelte die Pollen auf eine Grammwaage. Vincent klemmte ihm die Geldscheine unter die Keramikschüssel. Er hätte gleich gehen wollen, aber der Tee zwang ihn, noch eine Weile zu bleiben. Er war zu heiß, um ihn in einem Schluck hinunterzustürzen.

»Bist du alleine unterwegs, mein Freund?«

Vincent nickte.

»Du bist für die Mädchen hier«, sagte er und grinste Vincent zu, in einer Geste der Verbrüderung. »Ich würd’s sofort mit zehn Verschiedenen treiben, aber ich darf nicht.« Er hielt ihm seinen Ehering vors Gesicht. Er drückte die Tütchen mit dem Gras zu und schob sie über den Tisch.

»Wo kommst du her?«

Vincent nannte ihm seine Heimatstadt. Sam machte eine Bewegung, als würde er vor Kälte zittern und lachte. Er war in Plauderlaune und Vincent schimpfte sich selbst, dass er das nicht früher genutzt hatte. Er machte sich locker und warf einen zweiten Blick über den Tisch. Er tat, als wolle er etwas Neues ausprobieren, und ließ sich den Inhalt der Ampullen erklären. Er machte Sam ein Kompliment für sein großes Angebot.

»Du hast wirklich alles, oder?«

»Nicht alles, nein, aber ich kann alles besorgen.«

»Du machst die Leute glücklich, so einen Job hätte ich auch gerne.«

Sam lachte. Er war dicklich, sein Gesicht rund und bärtig. Mit seinem College-Pullover sah er aus wie der Kumpel von nebenan. Vincent nahm einen Schluck von seinem Tee. »Baust du selbst an?«

»Wir haben mehrere Fußballfelder, meine Jungs und ich.«

Sam löste sein Smartphone von dem Ladekabel, das an einer Mehrfachsteckdose unter dem Tisch hing, und tippte etwas ein. Er reckte Vincent das Display hin und wischte mit dem Finger durch eine Galerie. Die Bilder zeigten eine Marihuana-Plantage in den Bergen. Inmitten der Plantage stand Sam, die Pflanzen reichten ihm bis zur Brust. Er feixte in die Kamera und hielt die Arme ausgestreckt, als wolle er sagen: Alles meins.

»Wir sind ein Familienbetrieb. Wenn wir im Herbst ernten, steht die ganze Familie im Feld, vom Neffen bis zur Großmutter. Wir halten zusammen.«

Er scrollte weiter durch die Bildergalerie, die in leichter Variation dasselbe Motiv zeigte: Cannabispflanzen, dicht gedrängt, meterhoch.

»Ist das hier, in Thikro?«

»In den Bergen, nicht weit von hier.«

Er kam zu einem Bild, auf dem ein schwarzer Land Rover zu sehen war. Sam stand mit Arbeitshandschuhen auf der Ladefläche und nahm geerntete Marihuana-Stauden entgegen. Sie waren mit Schnüren zusammengebunden und erinnerten Vincent an Weihnachtsbäume.

»Der Land Rover ist nur für die Arbeit. Ich habe noch einen zweiten Pick-Up, einen Mercedes.«

Er zeigte ihm noch den Mercedes, dann steckte Sam das Handy zurück an das Ladekabel.Vincent deutete auf die Schüssel mit den Tabletten. »Und was ist damit? Da braucht es doch Maschinen und Labore und so was.«

»Dafür haben wir Leute«, sagte Sam kurz angebunden und Vincent verstand, wo dessen Grenzen lagen. Er überspielte den kurzen Einbruch, indem er Sam mit gefälligen Fragen fütterte, und sie kamen auch auf die Polizei zu sprechen. Sam antwortete bereitwillig und ließ Vincent einen zweiten Tee bringen. Die Polizisten seien wie Brüder und verdarben einem nicht das Geschäft, solange man diskret blieb. Man kenne sich in der Stadt und wisse, womit die Leute ihr Geld verdienten. Eine Krähe hacke der anderen nicht das Auge aus, nicht nach dem Unglück, das über die Stadt hereingebrochen war, nicht nach dem, was sie alle durchgemacht hatten. Die Welt habe im Livestream zugesehen, wie die Rebellen sie als lebende Schutzschilde missbrauchten, jede Familie habe Tote zu beklagen, aber das sei für die Geschichtsbücher. Ihre Zeit sei gekommen, ein bisschen was vom Glück abzuhaben, die Stadt blicke nun in die Zukunft.

»Ich gebe dir noch was mit. Ein Geschenk, zum Ausprobieren.«

Er streckte ihm ein Tütchen hin mit einer einzigen blassgelben Tablette.

»Wenn du mal Party machen möchtest. Hält dich wach, macht dich stark und euphorisch. Wie Hulk. Auch untenrum ist mehr los. Keine Sorge, du läufst nicht automatisch mit einem Ständer rum, aber wenn du’s treibst, kannst du länger und öfter.«

Vincent dankte und steckte das Teilchen ein. Sie gaben sich die Hand und Sam hielt den Handschlag aufrecht. Er blickte Vincent in die Augen, als spreche er zu seinem zukünftigen Schwiegersohn. »Wenn du etwas willst, das ich nicht habe, sagst du es mir, ja? Dann besorge ich es.« Vincent nickte. »Klopf das nächste Mal am Tor und frag nach Sam, dann macht dir jemand auf. Mach’s gut, mein Freund.«

Sam zog die Hand zurück und legte sie sich auf die Brust. Vincent tat es ihm gleich und verließ den Innenhof.

Die Straßen waren voller geworden. Er wich einem Junggesellenabschied aus, bei dem man den Bräutigam in ein pinkes Tutu gesteckt hatte, und bog auf den Boulevard. Vincent schob die Hände in die Taschen und spazierte die Mauer entlang, die in orangefarbenes Scheinwerferlicht getaucht war. Das Gefühl, ein Ausgestoßener zu sein, verschwand nicht. Die anderen waren ihm fremd, aber ihre Geschlossenheit machte ihn eifersüchtig. Vincent fragte sich, was er mit dem Abend anfangen sollte, und ließ sich zu einer Bar navigieren, die er online entdeckt hatte. The Garden erhielt in den Reiseforen wenige, aber durchweg positive Bewertungen. Die Bar hatte schon vor dem Krieg existiert. Ein User beschrieb sie als Oase in der Stadt der Idioten, und Vincent war ihr verfallen, ohne sie betreten zu haben.

Die Bar lag am anderen Ende der Stadt, wo die Straßen breiter und die Grundstücke großzügiger wurden. Wie von einem Asthma befreit schien die Stadt erstmals zu atmen. The Garden lag in einem Hinterhof, in dem der Geruch von Marihuana wie eine Dunstglocke zwischen den Bäumen hing. Sessel und Sofas gruppierten sich um niedrige, aus Paletten gezimmerte Tische. Vincent ließ sich nieder und notierte sich Details aus dem Gespräch mit Sam, bevor er sie vergaß.

Er packte sein Gras aus und drehte es in Ermangelung eines langen Zigarettenpapiers in ein kurzes. Die Bar war angenehm voll, aber nicht überfüllt. Katzen strichen um die Füße der Gäste und bettelten um Essensreste. Er beobachtete ein Pärchen, das zu zweit in einer Hängematte lag und regelmäßig einen Arm herausstreckte, um sich vom Boden abzustoßen. Er war in die Stadt gegangen, um sich weniger einsam zu fühlen und hatte das genaue Gegenteil erreicht. Um ihn herum saßen hippe Mittzwanziger, die sich in Fremdsprachen unterhielten und regelmäßig in Gelächter ausbrachen. Vincent war der einzige, der alleine an einem Tisch saß. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Héctor in wenigen Tagen kam. Gemeinsam würden sie all den Spaß haben, den seine Mitmenschen gerade hatten.

Er nahm den fertig gerollten Joint auf, gab sich Feuer und ließ langsam den Rauch aus seinem Mund steigen. Das Gras war stark und gut. Er lehnte sich zurück und beobachtete zwei junge Frauen, die am Nachbartisch saßen. Er schätzte sie auf neunzehn oder zwanzig. Unter einem Vorwand sprach Vincent die beiden an und setzte sich zu ihnen. Die eine trug Federschmuck im Haar, die andere fiel durch ihre anorektischen Handgelenke und eine senkrechte Körperhaltung auf, die auf frühe Ballettstunden hindeuteten. Ihre Namen hatte Vincent bereits vergessen, als er ihre Hände losließ. Sicherlich belächelten sie die untersetzten und sonnenverbrannten Touristen, die Fotos mit den Söldnern schossen, und kamen sich selbst ganz anders vor. Er bot ihnen den Joint, den sie dankend annahmen.

Die beiden waren am Vortag in Thikro gelandet. Sie erzählten ihm von einer Partyreihe, die in wechselnden Bauruinen der Stadt veranstaltet wurde. Nebelmaschinen und Laser setzten die Ruinen aufwendig in Szene. Vincent reichte das Handy zurück, auf dem sie ihm entsprechende Bilder gezeigt hatten. Er fragte sie, ob es nicht ein merkwürdiges Gefühl sei, an solchen Orten feiern zu gehen, zumal wenige Kilometer weiter noch immer ein Krieg tobte. Die Balletttänzerin schüttelte den Kopf. Die Leute würden sich durchaus Gedanken zu diesen Fragen machen, genau deswegen seien sie ja hier. Sie hätten auch nach Barcelona oder Ibiza fliegen können, aber wem wäre damit geholfen? Die Leute hier konnten das Geld gut gebrauchen. Wer in Thikro einen Abend feiern gehe, habe für diese Region mehr geleistet als alle, die jetzt betroffen zu Hause säßen. Diese Antwort schien Vincent gar nicht so dumm, zumindest reflektierter, als er erwartet hätte. Er nahm den Joint auf, der zu ihm zurückgewandert war.

»Bist du alleine hier?«, fragte die mit dem Federschmuck.

»Ich bin zum Arbeiten in Thikro. Ich bin Journalist.«

In jahrelanger Praxis hatte sich Vincent die Worte zurechtgelegt, mit denen er von seiner Arbeit erzählte. Er glaubte, selbst nicht sonderlich interessant zu sein, aber sein Beruf war es zweifellos. Er erzählte von seiner Recherchereise nach Abuja und die beiden schienen durchaus beeindruckt.

»Wie ist denn die Lage in Abuja?«, fragte die Balletttänzerin und lieferte ihm damit eine Steilvorlage. Vincent griff wie beiläufig nach seiner Bierflasche und fällte eine differenzierte, aber durchweg düstere Prognose über die Entwicklung der Region. Er gab sich betont abgeklärt, denn abgeklärt konnte nur sein, wer viel gesehen hatte. Er wählte einfache Beispiele, die im Kleinen die großen Zusammenhänge erklärten, und unterstrich sie mit Details, die nur Ortskundigen bekannt sein konnten. Vincents Wissen wurde selten von seinen Gesprächspartnern geprüft, da kaum jemand über diesen Teil der Welt nachdachte, und so stand sein Urteil stellvertretend für die Realität. Er ging noch auf ein oder zwei Nachfragen ein, bevor er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und das Thema wechselte. Er hatte Ahnung von Dramaturgie und wusste, wann die Klimax einer Geschichte erreicht war. Er ließ die Aura des Exotischen über sich leuchten und stellte zufrieden fest, dass die Musik aufgedreht wurde. Gespräche verstummten oder wurden in doppelter Lautstärke geführt. Vincent nutzte die Gelegenheit, um näher an die Balletttänzerin zu rücken und beim Sprechen sanft ihre Schulter zu berühren. Sie warf ihrer Freundin einen Blick zu, den diese fast unmerklich abnickte, und klatschte sich auf den Oberschenkel.

»Wir müssen jetzt weiter«, sagte sie und nahm ihren Longdrink in die Hand. »Schönen Abend noch.«

Vincent hob einen Finger zum Abschied und sah den beiden hinterher. Sie waren schneller verschwunden, als sich sein ohnehin ramponiertes Ego eingestehen mochte. Er blieb noch eine Weile sitzen, als genieße er es, alleine unter den vielen Menschen zu sein, und beglich dann seine Rechnung.

Getriebene

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