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Mit festem Schritt näherte sich Cora dem Flughafengebäude. Es war früher Nachmittag und ein milchiger Dunst verdeckte die Sonne. Sie überquerte die stark befahrene Straße, schob sich an einem rauchenden Taxi-Fahrer vorbei und betrat das Terminal. Im Gehen blickte Cora auf ihre Armbanduhr. Sie lag gut in der Zeit.

Es herrschte reger Betrieb in der Halle, und vor den Schaltern der Fluggesellschaften bildeten sich lange Schlangen. Auf einer Anzeigetafel suchte Cora nach ihrem Flug. Als sie ihn gefunden hatte, presste sie die Daumenbeugen gegen die Riemen ihres Rucksacks und ging weiter. Den Rucksack trug sie nur zum Schein. Er war leer, abgesehen von ihrem Reisepass und einer Jacke, die den Hohlraum ausbeulen sollte. Cora schloss zu einer losen Traube Reisender auf und verlor sich in der Menge.

Sie hatte auf unauffällige Kleidung geachtet: flache Schuhe, dunkle Stoffhose, eine Bluse, darüber einen schiefergrauen Blazer. Sie trug dezentes Make-up und Ohrstecker, das lange Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden. Sie unterschied sich nicht von den Geschäftsfrauen, die ihr im Terminal immer wieder begegneten. Am Morgen hatten sie zu dritt vor ihrem Kleiderschrank gestanden und über die passende Garderobe diskutiert. Eine Dreiviertelstunde hatte es gedauert, bis alle mit dem Ergebnis zufrieden waren. Allein die neuen Schuhe drückten unangenehm. Cora blieb stehen, schob einen Finger hinter die Ferse und versuchte, das Kunstleder zu weiten. Als sie aufsah, kam ihr eine Polizeistreife entgegen. Die Männer trugen olivfarbene Schutzwesten und langläufige Schusswaffen. Wie an einer Felsformation teilte sich der Menschenstrom an ihnen. Die Blicke der Streife trafen Cora und glitten über sie hinweg. Sie strich sich über die Augenbrauen und senkte den Blick. Sie verbarg ein Lächeln.

Die Sicherheitskontrolle verlief reibungslos. Es war ohnehin ausgeschlossen, dass sie etwas an ihr entdeckten. Cora schob ihren leeren Rucksack auf das Fließband. Mit verschränkten Armen wartete sie, bis sie durch den Metalldetektor gerufen wurde. Sie betastete den Dutt, der sich wie ein Geschwür an ihrem Kopf anfühlte. Nahid hatte ihn am Morgen gebunden, mit konzentriertem Blick und den Haarnadeln zwischen den Lippen. Gesprochen hatten sie wenig. Der Kaffee, den Nahid für alle gemacht hatte, stand unberührt in den Tassen. Faiz telefonierte im Nebenraum. Seine Stimme drang dumpf durch die geschlossene Tür. Cora nippte an dem inzwischen kalten Kaffee und blickte zum Hinterhof hinaus, der im Licht der aufgehenden Sonne lag. Sie ignorierte ihre schmerzende Kopfhaut. »Entschuldige«, murmelte Nahid und schob ihr die letzte Nadel ins Haar.

Eine Sicherheitsbeamtin winkte Cora mit ihrer behandschuhten Rechten durch den Metalldetektor. Sie schritt hindurch, nahm auf der anderen Seite ihren Rucksack entgegen und reihte sich in die nächste Schlange vor der Passkontrolle. Cora hatte keine Angst. Selbst das bittere Gefühl, einem ungewissen persönlichen Schicksal entgegenzugehen, schreckte sie nicht. Sie schob ihren Pass durch den Schlitz und der Grenzbeamte nahm ihn wortlos entgegen. Er blätterte ihn mit blinden Augen durch, legte die laminierte Seite auf einen Scanner. Der Beamte schob den Pass zurück und die letzte Schranke öffnete sich.

Im Wartebereich saß Cora einer jungen Mutter gegenüber. Sie trug ein buntgemustertes Kleid, wie es in den Afro-Shops am Stadtrand verkauft wurde. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn aufgestützt, den Blick gedankenverloren auf das Rollfeld gerichtet. In der Hand hielt sie einen leeren Pappbecher. Neben ihr saß ein Mädchen mit abstehenden Zöpfen, dessen Füße nicht auf den Boden reichten. Mit großen Augen sah sich das Mädchen in der Abflughalle um. Cora hoffte, dass es niemanden gab, der die beiden in Khartum erwartete. In dem nachdenklichen Blick der Frau suchte Cora den Beweis zu sehen, dass sie den Flug ohnehin nicht antreten wollte. Cora nahm ihre Tasche und spazierte durch die Duty-Free-Läden, bis ihr Flug aufgerufen wurde.

Eine Stewardess in blauem Kostüm und mit geknotetem Halsband bot den Passagieren eine Schale Lutschpastillen. Cora nahm dankend an und bog in den Rumpf der Kabine. Sie ließ ihren Blick wie beiläufig über die Sitzreihen streifen und entdeckte die Gruppe am anderen Ende des Flugzeugs. Man hatte die beiden Männer getrennt von den anderen Passagieren einsteigen lassen. Die beiden Zivilpolizisten, die sie begleiteten, saßen auf den Gangplätzen und versperrten ihnen den Weg. Cora versuchte, ihre Blicke einzufangen, doch die Rücken der einsteigenden Gäste schoben sich immer wieder dazwischen. Es war ohnehin klüger, nicht erkannt zu werden. Vor der ihr zugewiesenen Sitzreihe blieb sie stehen und rutschte zum Fensterplatz durch. Sie zog das Bordmagazin aus dem Gitternetz und las einen Beitrag über andalusischen Wein.

Die Kabinentüren schlossen sich mit einer Verspätung von zehn Minuten. Das Flugzeug wurde rückwärts aus der Parkposition gezogen, und die Stewardessen gingen durch die Reihen und schlossen die Ablagefächer. Cora dachte daran, wie sie das Ticket vor zwei Tagen an einem Schalter der Fluggesellschaft gekauft hatte. »Ich brauche nur einen Hinflug«, hatte Cora gesagt und sich gefühlt, als habe sie sich dadurch bereits verraten. Doch der Angestellte registrierte ihre Antwort mit einem kaum merklichen Nicken. Schweigend starrte er auf den Bildschirm, bis ein Drucker die Buchungsbestätigung ausgab. Cora bezahlte in bar. Von der Leichtigkeit des Vorgangs etwas betäubt, aber nicht minder entschlossen, radelte sie nach Hause. Jetzt saß sie hier und wartete auf den richtigen Moment. Sie betrachtete das Terminal, das an ihrem Fenster vorbeizog, die Wartungshallen, die Futtermaisfelder. Sie zählte von Zehn rückwärts und öffnete bei Eins den Gurt.

Sie bat ihre Sitznachbarinnen, ihr Platz zu machen und schob sich an den beiden älteren Damen vorbei. Sie musste sich an den Rückenlehnen der vorderen Sitze festhalten, um nicht umzufallen – die Geschwindigkeit, mit der das Flugzeug zur Landebahn rollte, war höher als gedacht. Cora trat auf den Gang und setzte sich auf den Boden. Einige Köpfe drehten sich zu ihr um. Cora umschloss zu beiden Seiten die Metallstreben, an denen die Sitzreihen verankert waren. Sie saß entgegen der Fahrtrichtung, blickte den Gang hinunter wie eine Rodelbahn. Mittlerweile hatte sie die Aufmerksamkeit eines guten Dutzends Passagiere erregt. Eine Stewardess, halb versteckt hinter dem Vorhang zur Bordküche, bemerkte das Geschehen. Sie schnallte sich ab und eilte den Gang hinauf. Vor Cora ging sie in die Hocke.

»Madame, haben Sie ein gesundheitliches Problem?«

»In diesem Flugzeug befinden sich Personen, die nicht transportiert werden möchten, und ich werde mich nicht bewegen, bis diese Personen das Flugzeug verlassen dürfen.«

Die Stewardess wich zurück. Sie kräuselte die Stirn und blickte um sich, als suche sie Zeugen, die ihr bestätigten, was sie soeben gehört hatte.

»Madame, Sie müssen auf Ihren Platz zurück, sonst können wir den Flug nicht fortsetzen.«

Cora wusste nicht, was sie dem Offensichtlichen entgegnen sollte, und schwieg.

»Madame!«, insistierte die Stewardess und zog schwach und ohne Überzeugungskraft an ihren Handgelenken. Einer der Passagiere fragte laut vernehmbar, was los sei, und lenkte damit weiteres Interesse auf die Situation. Die Stewardess stand sichtlich ratlos vor ihr und entschied sich für einen vorläufigen Rückzug. Die ältere Dame, die neben Cora gesessen hatte, berührte sie an der Schulter und fragte, was los sei. Cora begegnete der freundlich gestellten Frage mit derselben Freundlichkeit und erklärte erneut, dass sich in diesem Flugzeug Personen befänden, die nicht transportiert werden wollten, und dass sie sich nicht bewegen würde, bis diese Personen das Flugzeug verlassen durften.

Es dauerte nicht lange, bis die Stewardess in Begleitung eines männlichen Flugbegleiters zurückkam. Sie waren mittlerweile auf dem Rollfeld zum Stehen gekommen. Auch die beiden Männer in der hintersten Reihe hatten von der Aktion erfahren. Sie reckten ihre Hälse und verfolgten das Geschehen, blieben aber ruhig. Es war sicherlich das vernünftigste Verhalten in ihrer Situation. Der junge Flugbegleiter ging vor Cora in die Hocke. Er war offensichtlich gerufen worden, um mehr Eindruck zu schinden als seine weiblichen Kolleginnen. Sein zierlicher Körper strahlte keine Dominanz aus, doch eine gewisse rhetorische Fähigkeit konnte ihm Cora nicht absprechen. Er sprach von den rechtlichen Konsequenzen ihrer Aktion, von Strafverfahren mit hohen Geldbußen, von lebenslangen Flugverboten und Schadensersatzforderungen. Er bekräftigte gleichzeitig die Rechtmäßigkeit ihres politischen Anliegens, doch ihr Aktionismus sei in diesem Fall aussichtslos. »Sie können diesen Menschen nicht helfen. Wenn sie heute nicht fliegen, werden sie in die nächste Maschine gesetzt. Ersparen Sie sich und uns allen den Ärger. Eine junge Frau wie Sie sollte sich nicht die Zukunft verbauen.«

Cora starrte an ihm vorbei. Keine Diskussionen, darüber hatten sie immer wieder gesprochen. Sie schwieg, bis der Flugbegleiter von ihr abließ und sich flüsternd mit seiner Kollegin beratschlagte. Unter den übrigen Passagieren wurden Stimmen laut, die das Geschehen kommentierten. Ein Mann in der Reihe vor ihr beugte sich vor und suchte ihren Augenkontakt. »Ich weiß nicht, was sie dir über unser Land erzählt haben, Mädchen. In den Tod fliegen diese Leute aber nicht. Der Rest von uns sitzt doch freiwillig in diesem Flugzeug. Meinst du, wir würden hier sitzen, wenn es so gefährlich wäre?«

Cora dachte an Faiz, um sich abzulenken. Sie dachte an Faiz und an Nahid, und sie dachte an ihren Bruder, der heute seine Stelle als Assistenzarzt antrat – ein Gedanke an eine gänzlich andere Welt. Die beiden Flugbegleiter verschwanden in Richtung des Cockpits. Ihr Gegenüber setzte gerade zu einer neuen Argumentation an, als sich ein fülliger Geschäftsmann von seinem Platz erhob. Sein grauer Anzug spannte über dem Bauch. Er blickte herausfordernd um sich, als spräche er zu der versammelten Menschenmenge.

»Bringt jetzt endlich jemand die Fotze zur Vernunft?«

Die Luft schien wie eingesogen. Gespräche verstummten und wichen einer abwartenden Stille. Der Zorn saß Cora glühend heiß in der Brust. Sie schnellte hoch, ohne ihren Griff von der Strebe zu lösen.

»Halt’s Maul, Arschloch!«

Der Mann drängte sich an seinem Nachbarn vorbei. Seine schwerfälligen, gleichzeitig energischen Bewegungen versprachen eine Hitzköpfigkeit, die ihr nur entgegenkommen konnte. Er ging auf sie zu, drohend den Finger ausgestreckt. Besser konnte es für Cora nicht laufen. Die Situation eskalierte.

»Du kleine Fotze gehst jetzt auf deinen Platz«, sagte er und packte sie an den Beinen. Cora schrie aus vollen Kräften und versuchte, seine Hände abzustrampeln. Ein Raunen schwoll in der Kabine an. Mehrere Passagiere erhoben sich von ihren Plätzen, unschlüssig, ob sie eingreifen sollten oder nicht. Der Hitzkopf versuchte, sie über den Gang zu schleifen, und Cora musste alle Kraft aufwenden, um sich an den Metallstreben zu halten. Von der Hüfte abwärts hing sie in der Luft. Die Männer in der letzten Reihe protestierten lautstark und konnten von ihren Betreuern nur mühsam in Zaum gehalten werden. Stimmen überlagerten sich, immer mehr Menschen drängten sich auf den Gang. Ein Mann mit kahlgeschorenem Kopf kämpfte sich zu ihnen vor. Er packte den Angreifer an den Schultern und redete in dessen Landessprache auf ihn ein. Die beiden führten ein heftiges Streitgespräch, das den Hitzkopf nicht davon abhielt, weiter an Coras Beinen zu zerren. Ihre Muskeln brannten und begannen schwach zu werden. Sie hörte weitere Schritte auf sich zukommen und hoffte auf Unterstützung, doch die Person, die nun hinter ihr kniete, versuchte ihr die Finger von den Metallstreben zu lösen. Cora beschimpfte die Person lautstark, doch es half nichts. Ein Finger nach dem anderen wurde ihr umgebogen, bis sie den Halt ihrer linken Hand verlor und seitlich einknickte. Der Hitzkopf schleifte sie einige Meter über den Gang, bis ihre Hände erneut eine Metallstrebe fanden. Eine herbeigeeilte Stewardess stand hilflos vor der Szene und presste sich die Hand vor den Mund. Cora strampelte mit einem letzten hysterischen Aufbäumen ihrer Kräfte, bis die Hände ihres Kontrahenten von ihr ließen. Ihr kahlgeschorener Helfer und die Stewardess nutzten den Moment und stellten sich schützend vor sie. Der Hitzkopf schnaufte wie ein Stier, seine Brust hob und senkte sich. Er spuckte vor Cora auf den Boden und murmelte einen Fluch. Die Stewardess forderte mit zitternder Stimme alle Beteiligten auf, zu ihren Plätzen zurückzukehren, als sich das Flugzeug mit einem Ruck in Bewegung setzte. Die Stewardess musste sich an einer Stuhllehne festhalten, um nicht zu stürzen, und alle, die sich erhoben hatten, kehrten schwankend auf ihre Plätze zurück. Cora starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke und ignorierte die schrillen Beschimpfungen, die ihr entgegengeschleudert wurden. Ihre um die Metallstreben verkrampften Finger lockerten sich. Sie nahm ihr klopfendes Herz wahr, das sie bis in die Schläfen hinein spürte. Sie überhörte darüber fast die Durchsage des Kapitäns, der den Passagieren mitteilte, dass der Flug aus Sicherheitsgründen abgebrochen werde und sie nun zum Flugsteig zurückkehrten. Aus der Ferne hörte sie Flüche und leisen Jubel aufbranden. Cora leerte ihre Gedanken, bis sie der grauen Decke über ihr gehörten und der sanften Vibration unter ihrem Rücken.

Cora leistete keinen Widerstand. Nachdem die beiden Männer das Flugzeug verlassen hatten, nahm sie ihren Rucksack und folgte den Polizisten zum Ausgang. Sie passierte dabei den Piloten, der vor seine Kabine getreten war. Er hielt die Arme verschränkt, musterte Cora von oben bis unten und verabschiedete sie mit einem verächtlichen Schnalzen der Zunge. In der Fluggastbrücke wurden ihr Handschellen umgelegt. Cora blickte durch einen schmalen Spalt zwischen Brücke und Maschinenrumpf nach draußen. Einsatzwagen hatten das Flugzeug umstellt, Blaulicht flackerte über das Rollfeld. Die Polizisten nahmen Cora in einen schmerzenden Griff und brachten sie ins Terminal. Sie wurde einen Flur entlanggeführt, der von den wartenden Passagieren nur durch eine Glaswand getrennt war. Hunderte Augenpaare richteten sich auf sie. Cora suchte sich selbst in den Blicken dieser Menschen zu erkennen. Ein blondes Mädchen im Polizeigriff war nicht das, was sie erwarteten. Sie drehte sich ein letztes Mal nach dem Flugzeug um, bevor sie von den Beamten zurückgerissen und weitergeschleppt wurde. Was auch immer jetzt geschah, der Flug würde ohne die beiden Männer stattfinden. Im schmerzenden Griff der Beamten begann sie zu lächeln.

Getriebene

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