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Vincent lag im Bett und platzierte sein Smartphone auf Stirn und Nasenspitze. Er starrte auf das dunkle Display, spürte dessen sanften Druck auf seinem Gesicht und wartete auf einen Anruf von Nina, den er wohl nicht mehr empfangen würde. Es war bereits kurz vor Mitternacht, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie jetzt noch zurückrufen würde, sank mit jeder Minute. Er nahm das Telefon vom Gesicht und schrieb ihr bei WhatsApp, dass er gut angekommen war. Er schickte einige Fotos vom Boulevard und von den Grenzanlagen hinterher und wünschte ihr eine gute Nacht. Er legte das Smartphone zurück auf die Stirn und wartete auf eine Antwort. Er sehnte sich nach einem vertrauten Menschen, dem er von seinen Eindrücken erzählen konnte und dessen Worte seine fiebrigen Wangen streicheln würden. Bislang war Nina dieser Mensch gewesen, doch die vergangene Nacht hatte die Risse in ihrem Verhältnis offenbart.

Eine eingehende Nachricht ließ sein Smartphone vibrieren, und Vincent erschreckte sich derart, dass ihm das Telefon von der Nase glitt und auf den Boden fiel. Ninas Antwort bestand aus zwei Emojis: Daumen hoch, Smiley. Sie war direkt nach dem Versenden offline gegangen. Vincent warf das Smartphone seufzend beiseite und zog die Bettdecke über den Kopf.

Niemand kannte ihn und seine beruflichen Ambitionen besser als Nina. Bis zu ihrer Trennung hatte sie all seine Selbstzweifel, seine Rückschläge und Erfolge begleitet. Ihr verdankte Vincent auch sein erstes großes Thema: Geldtransfers von Migranten in ihre Heimatländer, Summen in Milliardenhöhe, die in manchen Ländern ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmachten. Nina hatte eine Podiumsdiskussion zu dem Thema organisiert und ihn mit den Rednern in Kontakt gebracht, darunter eine Vertreterin der Weltbank. Schon nach den ersten Gesprächen hinter der Bühne hatte Vincent gewusst, dass das Thema brannte. Er wollte nicht nur den Geschäftspraktiken von Western Union und Moneygram nachgehen, die bei jeder Überweisung bis zu zehn Prozent der Überweisungssumme einbehielten, sondern wollte auch jenen Gesicht und Stimme geben, die am anderen Ende der Überweisung standen. Er legte eine Reiseroute fest und bewarb sich mit der Idee um ein Recherchestipendium. Vincent wartete schon lange auf eine Gelegenheit, seine Festanstellung bei einer Lokalredaktion zu kündigen. Er wollte die Entscheidung vom Erhalt des Stipendiums abhängig machen, und als sein Antrag abgelehnt wurde, kündigte er trotzdem.

Er flog auf eigene Kosten nach Abuja und mietete sich zwei Wochen in einem Hotelzimmer ein. Er nahm sich keine freien Tage, recherchierte tagsüber und schrieb nachts. In den Slums entdeckte er Werbeplakate, die ein Anbieter von Geldtransfers geschaltet hatte, um die Bewohner wenig subtil zur Flucht zu motivieren. Wir glauben an Menschen, die in Bewegung bleiben, um ihre Träume zu verwirklichen, man wollte kotzen, wenn man das las, wenn man selbst mit Männern gesprochen hatte, die in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt waren, ohne einen Fuß nach Europa zu setzen; die den direkten Augenkontakt mieden, immer zu Boden starrten und nur die Hälfte dessen erzählten, was sie erlebt hatten, von Schmugglern und Polizei misshandelt, vergewaltigt, in der Wüste ausgesetzt, verschuldet. Vincent schrieb mit Wut im Bauch, und seine Reportagen gelangen ihm gut. Er brachte sie in verschiedenen Medien unter, noch während er in Abuja war. In den wenigen freien Stunden saß er in einem Internetcafé und berichtete Nina von seinem Tag. Sie las seine Texte gegen und fand die richtigen Worte, wenn er an ihnen zweifelte. Als er zurückkam, holte sie ihn vom Flughafen ab, mit einem breiten Lächeln und einer Ausgabe der Tageszeitung, in der eine seiner Reportagen erschienen war.

Thikro würde seine zweite große Recherchereise werden, und er hatte im vergangenen Jahr genügend Beziehungsarbeit gepflegt, um seine Texte auch in größeren Blättern unterzubringen. Der Volxmund zahlte ihm gar einen Spesenzuschuss, was selten genug vorkam. Vincent spürte dieselbe Aufregung wie damals, dieselbe Gewissheit, dass das Thema einschlagen würde. Da sein Zwischenmieter bereits die Wohnung bezogen hatte, fragte er Nina, ob er in der Nacht vor dem Abflug bei ihr unterkommen konnte. Seine Ex-Freundin um einen Schlafplatz zu bitten, war ihm selbstverständlich vorgekommen. Immerhin hatte er seinen Abschied zu feiern, den hoffentlich nächsten großen Sprung auf der Karriereleiter, und mit wem sollte er das feiern, wenn nicht mit ihr.

»Gern«, schrieb sie zurück, einen Tag, nachdem die Häkchen blau geworden waren.

Sie hatte gekocht, sehr aufwendig. In ihrer neuen Küche staute sich der Dampf, alle Herdplatten waren belegt. Die Zucchini hatte sie in dünne Streifen gehobelt, sodass man sie zusammen mit den Tagliatelle auf die Gabel drehen konnte. Sie demonstrierte es ihm auf einem leeren Teller. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie sich wieder den dampfenden Töpfen zuwandte. Vincent begann, sich unwohl zu fühlen. Er musste an Sartres Schmutzige Hände denken, an Olga und ihren ehemaligen Verlobten, der überraschend aus dem Krieg zurückkehrt. Die beiden stehen betreten voreinander, und Olga fragt, ob sie ihm ein Essen richten soll. Ach, antwortet der verprellte Verlobte, es ist so bequem, wenn man etwas geben kann; damit hält man sich die Leute vom Leibe.

Vincent wurde es kalt, als er an die Zeile dachte. Er hatte Nina selbst in der Rolle der Olga gesehen, eingerahmt von einem kubischen Bühnenbild, das fortwährend über die Bühne geschoben wurde und den Verfall strukturalistischer Weltbilder symbolisierte, wie sie sagte. Wunderschön war sie gewesen, talentiert. Er betrachtete ihre hektischen Bewegungen vor den Herdplatten und fragte sich, ob er sich zum Rauchen auf den Balkon entschuldigen sollte, aber da servierte Nina bereits das Essen. Auch der Wein war sehr teuer, was es nur schlimmer machte – er schmeckte ausgezeichnet.

Vincent erzählte von den kommenden Wochen in Thikro und hörte sich selbst nicht richtig zu. Er blickte sich in der Wohnung um, die er zum ersten Mal sah, seit er ihr beim Umzug geholfen hatte. Die beiden verband weiterhin eine Freundschaft, zumindest tagsüber und an neutralen Orten. Mit einem Mal kam ihm seine Anwesenheit wie ein fürchterlicher Fehler vor. Er hätte seine Selbsteinladung gerne ungeschehen gemacht, aber nun saß er schon hier.

»An was denkst du?«, fragte Nina, ihre geschminkten Lippen am Weinglas. Sie blickte ihn fast schon herausfordernd an, als überließe sie ihm die Entscheidung, ob sie offen miteinander reden sollten oder nicht. Vincent brachte sich zu einem Lächeln.

»Ich denke an Sizilien«, sagte er. Es war ein durchschaubarer Trick, aber sie wollten beide, dass er funktionierte. Mit Anekdoten aus ihrer Vergangenheit brachten sie einander zum Lachen, und als sie mit dem Wein auf den Balkon wechselten, hatten sie gar ein paar Stunden miteinander, in denen alles war wie früher. Sie tauchten unter die Oberflächlichkeit des Smalltalks, erzählten von Freunden und Familienmitgliedern, die der jeweils andere seit der Trennung nicht mehr gesehen hatte, teilten ihre Gedanken der letzten Wochen und stritten über Politik. Es war schön. Sie saßen länger beisammen, als es sein frühmorgendlicher Flug eigentlich erlaubt hätte. Vincent stellte sich gar die Frage, ob Nina noch immer die Pille nahm, bis sie die Weingläser in die Spüle stellten und über seinen Schlafplatz diskutierten. Er hatte bis dahin keinen Gedanken daran verschwendet. Vincent legte sich auf die Couch und stellte fest, dass sie um die entscheidenden Zentimeter zu kurz war. Nina bot an, selbst die Couch zu nehmen – sie sei klein genug, um sich dort ausstrecken zu können. Es war ihm jedoch unangenehm, sie aus ihrem Bett zu vertreiben, also richtete sich Vincent einen Schlafplatz auf dem Boden. Er breitete eine dicke Wolldecke als Unterlage aus und wusste, dass er mit Rückenschmerzen aufwachen würde. Er hatte wohl einen Moment zu lange auf den Boden gestarrt, jedenfalls bat Nina ihn, zu ihr ins Bett zu kommen. Die Diskussion um seinen Schlafplatz hatte bereits mehr Raum eingenommen, als es angenehm war, also warf er sein Bettzeug neben sie und löschte das Licht. Sie hatte ein schweres Kissen neben sich aufgebaut, das oberhalb der Hüfte jeglichen Körperkontakt verhinderte. Vincent wusste selbst nicht, was er sich von dem Abend erwartet hatte – das Kissen war es jedenfalls nicht gewesen.

Vincent lag lange wach und achtete auf Ninas Atemzüge. Sie schlief nicht. Es machte ihn nervös, dass sie nebeneinander lagen und nicht schliefen, aber auch nicht miteinander redeten. Er starrte zur dunklen Decke hinauf, bis er nicht mehr wusste, ob er die Augen geöffnet oder geschlossen hatte. Erst, als er ihre tiefen und regelmäßigen Atemzüge hörte, glitt er in einen leichten Schlaf.

Als sein Wecker um halb fünf klingelte, wachte Vincent mit Rückenschmerzen auf, eingezwängt zwischen Kissen und Bettkante. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er hatte darauf bestanden, dass Nina liegen bleiben solle, und das tat sie auch. Er putzte sich die Zähne, nahm seinen Rucksack und schloss hinter sich die Tür.

Getriebene

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