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Die Maschine setzte unsanft auf, aber die Passagiere applaudierten trotzdem. Einer pfiff sogar durch die Finger. Er stieß seinem Sitznachbarn den Ellbogen in die Rippen und zeigte ihm, wie man besonders kräftig in die Hände klatschte. Hinter den Fenstern zog sandsteinfarbene Steppe vorbei, mit Stacheldraht von der Landebahn abgegrenzt. Eine Stimme vom Tonband wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Vincent konnte es nicht erwarten, das Flugzeug zu verlassen. Er rieb sich die müden Augen und nahm sich vor, in der Wohnung einen Mittagsschlaf zu machen.

Der Flug war um 6:45 Uhr gestartet. Die frühe Uhrzeit hatte manche nicht davon abgehalten, noch vor dem Abflug ihr erstes Bier zu trinken. Vincent hatte zwei Männer beobachtet, die Sombreros trugen und an einem Stehtisch beisammenstanden. Draußen war es noch dunkel gewesen, und die Panoramafenster hatten das hellerleuchtete Terminal gespiegelt. Einer der Männer knabberte Nüsse aus einer Schale, der andere blickte verschlafen vor sich hin. Sein Weißbierglas war noch fast voll.

»Was ist denn mit dir?«, sagte sein Kumpel mit Blick auf das Glas.

»Ist schon bisschen früh, ne …«

»Also Tommi, sag mal.« Er klopfte dem anderen aufmunternd auf die Schulter. »Was muss, das muss. Könnte ja dein letztes sein.«

»Sag so was nicht!«

Tommi bekreuzigte sich und lachte. Er nahm einen demonstrativen Schluck von seinem Bier.

»Wer weiß. Vielleicht hat einer von denen noch ’nen Mörser rumliegen. So lang ist es nicht her. Kriegt ’nen Flashback und schon hast du ’n Loch im Kopf.«

»Bei ’nem Mörser hast du mehr als nur ’n Loch im Kopf.«

»Oder, noch besser, die sehen so ein großes Ding vom Himmel kommen und denken: Oh Scheiße, was kommt da denn runter? Und werfen sich alle zu Boden.«

Er streckte die Hände von sich und bewegte seinen Oberkörper auf und ab, als bete er zu einer Gottheit. Er ließ ein gackerndes Lachen los, das von hartnäckigem Tabakkonsum gezeichnet war, und schob sich den Sombrero zurück auf den Kopf. Vincent saß in der Nähe und notierte die Szene mit.

Ein heißer Wind drückte Vincent ins Gesicht, als er das Flugzeug verließ. Über das Rollfeld liefen sie auf ein heruntergekommenes Gebäude zu. Wirklich neu schien nur der Schriftzug auf dem Dach zu sein: Thikro International Airport. Vincent folgte den übrigen Passagieren ins Innere und stellte sich vor das Gepäckband, das sich ruckend in Bewegung setzte. Von einer letzten Schraube gehalten, hing eine Uhr kopfüber von der Wand. Die Batterie war noch intakt, sodass sich der Sekundenzeiger ungeachtet weiterdrehte. Er griff seinen Rucksack und steuerte auf den Ausgang zu.

Unmittelbar nach der Passkontrolle wurden sie von Soldaten in Empfang genommen. Die Männer trugen Tarnmuster und beigefarbene Schirmmützen. Sie zählten je zwanzig Personen ab, die sie unter Waffenschutz zum Ausgang begleiteten. Einer der Soldaten erklärte das Vorgehen, zuerst in gebrochenem Englisch, dann pantomimisch. Er zog mit seinem Gewehrlauf einen Kreis über ihre Köpfe und machte eine Bewegung, als werfe er eine Angelschnur aus. Ein verständiges Nicken ging durch die Menge. Vincent wurde einer Gruppe zugeteilt, in der sich Abiturienten, Senioren in Sandaletten und ein Mann mit Hakenkreuz-Tattoo befanden. Vincent überlegte, ob er bereits einige O-Töne sammeln sollte, aber er war müde und ließ es bleiben.

Der Soldat, nicht älter als achtzehn, führte sie durch die verwaiste Ankunftshalle. Im Gegensatz zu anderen Flughäfen, in denen sich Großfamilien in die Arme fielen und Taxifahrer lautstark ihre Dienste anboten, empfing sie hier lediglich Stille. Bauschutt lagerte hinter den Schaufenstern der Geschäfte, Stromkabel hingen von der Decke. Vincent hörte ihre Schritte widerhallen.

Vor dem Gebäude stand bereits ein Bus mit laufendem Motor, der ebenfalls von Soldaten mit Maschinengewehren bewacht wurde. Ihre Gesichter waren hinter den großen Sonnenbrillen nicht zu erkennen. Sie bildeten einen Korridor, der vom Gebäude zum Buseingang führte und erzeugten damit das wohlige Gruseln, das sich die Touristen von ihrem Ausflug versprachen. Mit nervöser Eile wurden sie in den Bus getrieben. Ein paar Reihen vor ihm gingen Tommi und sein Freund, sie waren an ihren Sombreros leicht zu erkennen. Vincent fragte sich, ob sie die Hüte während des gesamten Flugs getragen hatten.

Vincent rutschte zu einem Fensterplatz durch. Er hatte Lust auf eine Zigarette und schob sich stattdessen ein Pfefferminz in den Mund. Er beobachtete die Soldaten, die sich wie sonnenbebrillte Sphinxen gegenüberstanden und weiterhin Passagiere in den Bus leiteten. Die Bedrohungslage war größtenteils inszeniert. Die Männer waren nicht mal ausgebildete Sicherheitskräfte, sondern Laien-Schauspieler, die aus den naheliegenden Dörfern eingesammelt wurden – das hatte ihm zumindest sein Dolmetscher in einem Vorgespräch berichtet. Vincent warf einen zweifelnden Blick auf die Gewehre. Womöglich waren sie nicht mal geladen.

Als sich die letzten Plätze gefüllt hatten, stiegen zwei der Schauspieler zu ihnen in den Bus. Sie kontrollierten wahllos Handgepäckstücke, bevor sie sich in die erste Reihe setzten und ihre langläufigen Gewehre zwischen die Beine nahmen. Die Hydraulik schnaufte schwer, als der Busfahrer die Türen schloss, und einige Fahrgäste zuckten erschreckt zusammen. Eine Anspannung lag in der Luft, die manche mit ihren Handykameras einzufangen versuchten. Der Bus ließ das Flughafengelände hinter sich und bog auf eine Ausfallstraße, die in gerader Linie nach Thikro führte.

Vincent hatte im Zuge seiner Recherchen mehrere Stunden Filmmaterial gesichtet – es schien ihm, als kehre er nach Thikro zurück, obwohl er noch nie dort gewesen war. Die Stadt lag in einem Talkessel, eingerahmt von leicht geschwungenen Bergen. Die Häuser waren schmucklos und einfarbig und zogen sich in dichten Reihen die Hänge hinauf. Vor dem Krieg hatten etwa dreißigtausend Menschen hier gelebt. Ein Durchlass zwischen den Bergen verband zwei Täler miteinander, und dieses Nadelöhr hatte aus der Stadt eine strategisch bedeutsame Stellung gemacht. Ihre Belagerung und die damit verbundenen Todesopfer waren nicht zuletzt der eigentümlichen Geographie geschuldet.

Seit sich die Rebellen aus der Stadt zurückgezogen hatten und Thikro der Union zugeschlagen worden war, verlief dort eine internationale Grenze. Der Durchlass zwischen den Bergen wurde mittlerweile von einer Mauer versperrt. Sie schnitt durch die Stadt und zog sich in einem teils waghalsigen Winkel die Hügelgrate hinauf. Was sich jenseits der Mauer befand, wurde in einem nicht enden wollenden Bürgerkrieg zerrieben; ganze Städte lagen dort in Schutt und Asche und wurden allmählich vom Wind abgetragen.

Vincent drückte sein Gesicht gegen die Scheibe. Trostlose Hügel und Felder zogen an ihm vorbei, und er dachte daran, nach einer Nachricht von Nina zu sehen. Beim Gedanken an die gestrige Nacht verkrampften sich seine Eingeweide. Er hatte den halben Flug damit verbracht, sich die passenden Worte zusammenzulegen und hatte doch keine gefunden. Unschlüssig hielt er sein Telefon in der Hand, und seine trüben Gedanken lichteten sich erst, als sie die Stadt erreichten.

Mehrstöckige Betonbauten, an denen zerschossene Werbereklamen hingen, säumten die Straße. Die ersten Passagiere entdeckten die Mauer, die sich als grauer Streifen über die Hügel zog, und deuteten mit den Fingern darauf. Die Anspannung, die in der monotonen Vibration der Busfahrt spürbar nachgelassen hatte, regte sich wieder. Manche standen von ihren Sitzen auf, um durch die Windschutzscheibe einen besseren Blick auf die Mauer zu bekommen. Die falschen Soldaten ließen sie gewähren.

An einem Kreisverkehr im Stadtzentrum kamen sie zum Stehen. Die Ankunft des Busses hatte die Aufmerksamkeit fahrender Händler erregt. Noch bevor sich die Türen öffneten, strömten Menschen zusammen, die den Touristen ihre Dienstleistungen anbieten wollten. Einer der Soldaten stieg aus und trieb sie mit dem Gewehr auseinander. Sie wichen um die Länge des Gewehrlaufs zurück, um sich gleich wieder nach vorne und in die erste Reihe zu drängeln. Sie boten Taxifahrten, Unterkünfte oder geführte Touren durch die Grenzanlagen. Auch ein bettelnder Junge war darunter. Er zupfte an den Ärmeln der aussteigenden Besucher und hielt ihnen die offene Handfläche hin. Der Soldat schlug ihm mit dem Gewehrlauf auf die Finger und schrie ihm einen Fluch hinterher, sodass die Sehnen an seinem Hals zutage traten. Vincent verfolgte die Szene mit Befremden und wollte den Soldaten zurechtweisen, wurde aber abgedrängt und mit den anderen Fahrgästen zu den Schaltern der Reiseleiter gelotst. Er scherte aus und zog sich unter den Schatten einer Platane zurück. Die Mittagshitze lag wie ein Bleigürtel auf seinen Schultern.

Vincent zündete sich eine Zigarette an und besah sich die Umgebung. Der Platz wurde von einem Obelisken überragt, der sich inmitten des dreispurigen Kreisverkehrs befand. Ein unansehnlicher Steinpfeiler, der unter den Touristen kaum Beachtung fand. Es war dieser Obelisk, an dem vor fünf Jahren ein Dutzend Jugendlicher festgebunden und erschossen worden war. Den Bewohnern war nicht erlaubt worden, die Leichen zu bestatten. Vincent erinnerte sich an ein entsprechendes Bild in den Zeitungen. Es zeigte Pendler, die mit ihren Einkaufstüten auf den Bus warteten und versuchten, die in den Seilen hängenden Leichen zu übersehen. Das Bild hatte ein französischer Fotograf geschossen, der später selbst in Gefangenschaft geraten und ermordet worden war.

Vincent recherchierte das Original auf seinem Handy und versuchte, den genauen Standort zu finden, von dem aus der Franzose sein Bild geschossen hatte. Er drückte sich durch die Menschenmenge, die von ihren Reiseleitern mittlerweile auf Kleinbusse verteilt wurde. Als Vincent den Standort gefunden hatte, holte er seine Kamera hervor. Er wartete, bis ihm einige Touristen vor die Linse traten und drückte ab. Das Bild war nicht perfekt, aber es konnte dem Fotografen, der kommende Woche anreiste, eine Orientierung geben. Eine Gegenüberstellung der historischen und aktuellen Aufnahme war sicher ein guter Aufhänger für die Reportage.

Er packte seine Kamera ein und winkte einen Jungen heran, der Wasser aus einem Bauchladen verkaufte. Vincent drückte sich die kalte Flasche gegen die Stirn, bevor er daraus trank. Ein weiterer Bus vom Flughafen fuhr ein. Die fliegenden Händler formierten sich um und lösten sich von der mittlerweile ausgedünnten Touristengruppe. Auch der Junge, der ihm das Wasser verkauft hatte, steckte eilig sein Geld ein und lief zu den Neuankömmlingen.

Vincent hob sich den Rucksack auf den schweißnassen Rücken. Er tastete nach seinem Portemonnaie, um sich zu vergewissern, dass der Junge ihn nicht bestohlen hatte, und ging los.

Getriebene

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