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Das Rattern der Maschinengewehre durchbrach die Stille. Er nahm den Finger vom Abzug, wartete einige Sekunden und betätigte ihn erneut. Selbst durch die Ohrenschützer drang das Stakkato des Dauerfeuers. Vincent kauerte auf dem Boden und blickte durch das Visier seiner MG34. Hinter dem Fadenkreuz lag eine Strohpuppe, weiß und gesichtslos. Auch links und rechts von ihm wurde geschossen, das Stakkato schwoll an und hielt sich auf hohem Niveau. Er spielte Szenen aus Actionfilmen in seinem Kopf ab, Filme, die er nie sonderlich gemocht hatte, bis er selbst eine MG34 in den Händen hielt. Er leckte sich über die trockenen Lippen und setzte weitere Schüsse ab. Als er wieder die Augen vom Visier nahm, lag der Schutzwall hinter der Puppe in Wolken – all die Fehlschüsse, die dort eingingen, ließen Staubsäulen in die Luft steigen. Vincent versuchte, sich an die Anweisungen des selbsternannten Sergeants zu erinnern, der in wirschem Tonfall und nachlässigem Englisch zu ihnen gesprochen hatte, doch er erinnerte sich allein an die Mahnung, Pausen zwischen den Feuerstößen zu lassen.

»Du darfst nicht zu lange schießen, sonst –« Mangels Vokabular hatte er abgesetzt und mit den Händen einen Gewehrlauf geformt, der sich verbog. »Sonst wird zu heiß und kaputt.«

Vincent blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und setzte von Neuem an. Er nahm seine Puppe ins Visier, deren Kopf bereits in Fetzen hing und massiv Stroh verlor. Er durchlöcherte den Rumpf, bis die Puppe in Einzelteilen da hing. Als seine Finger den Abzug gedrückt hielten, ohne dass etwas passierte, war der Spaß vorbei.

Er stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose und sah sich nach Héctor um. Dieser fotografierte gerade ein junges Paar, das bereits mit der Übung fertig war. Sie hatten je eine Hand um die Hüfte ihres Partners gelegt, in der anderen hielten sie ihr Maschinengewehr. Vincent hoffte, dass die Waffen gesichert waren.

Der Sergeant rief indes die Gruppe zusammen. Die Teilnehmer bildeten einen Halbkreis um die Maschinengewehre, die auf Dreibeinen standen und eine lange Reihe bildeten. Milo, der noch nichts zu übersetzen gehabt hatte und deshalb mit verschränkten Armen an der Seite stand, trat neben ihn.

»Und, gefällt’s dir?«, flüsterte Vincent.

»Ihr spielt hier Krieg. Man müsste euch eure Privilegien in den Hals stopfen, damit ihr daran erstickt.«

Vincent riss die Augen auf.

»Ich übertreibe«, sagte Milo. »Ein wenig.«

»Héctor und ich sind aus rein journalistischen Gründen hier. Teilnehmende Beobachtung und so.«

»Euch beide nehme ich raus, da bin ich großzügig.«

Der Sergeant demonstrierte indes sein Können, indem er eines der Maschinengewehre nahm, das Dreibein löste und stehend die Puppe eines Teilnehmers ins Visier nahm, die weitgehend unversehrt geblieben war. Mit gezielten Feuerstößen zerstörte er zuerst den Kopf, das Herz und zuletzt den Schritt. Seine fleischigen Wangen zuckten unter dem Lächeln, mit dem er sich wieder der Gruppe zuwandte. Er legte das Gewehr zurück und führte die Teilnehmer zur nächsten Station.

Auf dem weitläufigen Gelände verteilten sich Scheunen und Schießstände, über denen die Luft flimmerte. Einige Teilnehmer tauchten Tücher unter das Wasser einer Pumpquelle, bevor sie sich den nassen Stoff um den Kopf banden. Nach den Maschinen- und Sturmgewehren sollten sie nun die Möglichkeit bekommen, Handfeuerwaffen zu testen. Der Sergeant geleitete sie zu einem überdachten Schießstand, und Vincent nutzte die Zeit, um mit den Teilnehmern ins Gespräch zu kommen. Zwölf Personen befanden sich in ihrer Gruppe, sieben Männer und fünf Frauen. Er steuerte auf ein Ehepaar mittleren Alters zu, das ihn bereits bei der Vorstellungsrunde neugierig und mitteilungsbedürftig angesehen hatte. Der Mann war Schulpsychologe, seine Frau arbeitete für eine Werbeagentur.

»Wir wollten etwas Aufregendes erleben, etwas Einmaliges«, sprach der Mann in Vincents Diktiergerät. »Am Strand rumzuliegen ist nicht unser Ding. Dann haben wir das Angebot für das Schieß- und Überlebenstraining entdeckt.«

»Sie sind explizit für das Training angereist?«

»Genau, wir haben auch Privatstunden hinzugebucht. Ein halber Tag reicht ja nicht, um wirklich was zu lernen.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Definitiv. Es ist wirklich beeindruckend, was der Sergeant alles erlebt hat. Auf der Homepage steht seine ganze Geschichte, wie er den Aufstand gegen die Rebellen angezettelt hat, wie er später in der SU gedient hat. Dass uns so jemand an der Waffe ausbildet, das ist schon eine Ehre.«

Dann drängte sich seine Frau vors Mikrofon. »Wir kommen selbst aus der Union, da finde ich es gut, unser Geld bei unseren neuen Brüdern und Schwestern zu lassen. Das ist ja auch eine Form von Entwicklungshilfe. Unser Taxifahrer hat mir erzählt, dass die Stadt richtig aufblüht, seit die Touristen kommen, das freut mich, da bin ich gerne ein Teil davon.«

»Werden Sie neben dem Schießtraining noch etwas unternehmen?«

»Natürlich sehen wir uns die Grenze an und klopfen unseren Jungs dort auf die Schulter. Aber dann geht’s nach Hause, am Montag müssen wir wieder arbeiten.«

Vincent dankte den beiden und beendete die Aufnahme. Er sah sich nach seinem nächsten potenziellen Interviewpartner um und bemerkte, wie die Blicke der übrigen Teilnehmer zu Boden wanderten. Als Journalist löste er häufig diese Reaktion aus. Dabei warteten die meisten Menschen insgeheim darauf, ihre Geschichte erzählen zu dürfen – man musste sie nur richtig anpacken. Er sprach einen jungen Mann mit Kinnbart an, den er eher in einem Hipster-Café als auf einem Schießstand erwartete hätte und der allein deshalb eine Geschichte versprach.

»Ich studiere Politikwissenschaften und Geschichte und beschäftige mich seit Langem mit der Region. Ich bin so froh, endlich vor Ort zu sein und alles mit eigenen Augen zu sehen, nachdem ich Tausende Seiten darüber gelesen habe.«

»Wie lange bleibst du in Thikro?«

»Zwei Wochen. Es sind gerade Semesterferien, und das Leben hier ist ja wirklich billig.«

»Warum bist du heute an den Schießstand gekommen?«

»Wir betrachten Konflikte immer aus einem sehr akademischen Blickwinkel, immer vom Schreibtisch aus. Das verfälscht die Realität. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, das zu ändern.«

»Was meinst du damit?«

»Ich wollte wissen, wie sich eine Waffe in der Hand anfühlt. Wie es ist, auf den Feind loszurennen. Den Tod vor Augen zu haben. Und dabei wirklich meinen Schweiß zu spüren, meine Angst, meine Erschöpfung, meine schmerzenden Muskeln. Das muss ich doch mal erlebt haben, wenn ich über den Krieg schreibe, ich muss doch wissen, wovon ich spreche.«

Vincent fragte sich, wie authentisch es war, mit einem Gewehr auf eine Strohpuppe zu schießen, die keinerlei Gegenangriff erwarten ließ. Er wagte gar nicht erst, zu Milo hinüberzusehen, der neben ihm herging und das Gespräch mitanhören musste.

»Also gefällt es dir?«

»Sehr. Die Leute hier machen eine wichtige Arbeit.«

Im überdachten Schießstand bekamen sie eine P30 von Heckler & Koch in die Hand gedrückt. Die Waffe war schwerer, als Vincent gedacht hatte. Sie standen in voneinander abgetrennten Bahnen und wurden von Mitarbeitern eingewiesen, die ihre Körperhaltung korrigierten und die Waffentechnik erklärten. Bei Vincents erstem Schuss war der Rückstoß so stark, dass seine rechte Schulter zurückgerissen wurde. Er erschrak, und der Sergeant, der zufällig in der Nähe stand, lachte trocken auf. Er packte Vincent an den Schultern, drückte ihm die Faust in den Rücken und korrigierte seine Haltung, dann forderte er ihn auf, nochmal zu schießen. Vincent brauchte einige Anläufe, doch dann traf er die inneren Ringe der Scheibe. Das Gefühl, eine todbringende Waffe abgefeuert und das Ziel getroffen zu haben, war überraschend berauschend. Gerade nach dem Wortwechsel mit Milo schämte er sich, so zu denken, aber es war nicht zu leugnen. Auch die Übung mit dem Maschinengewehr hatte ihm Spaß gemacht. Der Sergeant ließ die Zielscheibe mit einem Knopfdruck zu sich fahren und überreichte sie ihm feierlich.

»Die darfst du behalten.«

Er zwängte eine neue Pappe in die Halterung und ließ sie in größerer Entfernung zurückfahren. Seine Schüsse gingen nun allesamt daneben. Vielleicht war das auch besser so, dachte Vincent.

Bei der nächsten Pause bat er den Sergeant um ein Interview. Der Mann entsprach mit seinem aufgepumpten Oberkörper und den kurz geschorenen Haaren jeglichen Militärklischees. Er führte sie aus dem Schießstand und in den Schatten einer nahegelegenen Zeder, wo sie auf Kühlboxen Platz nahmen. Milo übersetzte die Worte des Sergeants in der ersten Person, noch bevor Vincent ihn darum gebeten hatte.

»Die Leute sollen ihren Spaß haben. Das ist das wichtigste, die sind ja in ihrem Urlaub … Aber wir bringen ihnen auch etwas bei. Jeder Mensch sollte mal eine Waffe in den Händen gehabt haben und wissen, wie man damit umgeht … Die Leute werden ja immer weicher, gerade die Männer. Von denen weiß ja kaum einer mehr, wie man schießt … Die lehnen sich zurück und denken, denen passiert schon nichts, jemand anderes wird es schon richten. Aber das kann gefährlich sein und mitunter tödlich … Der Terrorismus lauert überall, das ist bei euch nicht anders als hier. Es geht hier um Selbstverteidigung, nicht um Angriff … Wenn da ein Irrer kommt und deine Frau vergewaltigt und deine Kinder vergewaltigt, vor deinen Augen, oder wenn er eine Bombe zündet, dann stehst du nicht daneben und sagst: Bitte nicht… Ich war selbst während der Belagerung in der Stadt, habe von innen heraus die Truppen der Union unterstützt, ich weiß, wovon ich spreche … Ja, den Schießstand habe ich selbst aufgebaut, und die Nachfrage ist wirklich immens … Wir machen auch Seminare, die gehen ein oder zwei Wochen lang, da ist die Gangart schon härter … Schießtraining, Nahkampf, Selbstverteidigung, Überlebenstraining in der Natur, auch Grundlagen asiatischer Kampfsportarten … Dafür kommen Gruppen aus allen Teilen der Welt, die wissen, dass wir hier Expertise haben … Aber das hier, diese Tagesseminare für Touristen, da steht wirklich der Spaß und das Ausprobieren im Vordergrund …«

Nach einer halben Stunde beendete Vincent das Gespräch. Er hatte einige großartige O-Töne aufgenommen, die er im Kopf bereits zu Teasern formte. Er dankte Milo für die Übersetzung und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Während des Interviews war die Gruppe zur nächsten Station weitergezogen, und der Sergeant brachte sie in einem Golfwägelchen dorthin.

Die Teilnehmer waren in Teams aufgeteilt worden und probten eine Gefechtssituation. Zwei verwinkelte Rohbauten dienten ihnen als Parcours. Sie jagten sich über das Geländer und schossen mit Farbpatronen aufeinander. Wer getroffen wurde, musste auf dem Boden liegen bleiben und tot spielen.

Milo und Vincent stiegen aus dem Wagen und traten neben Héctor, der die Szene aus der Ferne verfolgte. Sie sahen den Teilnehmern dabei zu, wie sie ihre Paintball-Gewehre schulterten und sich aus dem zweiten Stock des Gebäudes abseilten. Die Mitarbeiter des Schießstands brüllten ihnen Anweisungen zu, während andere direkt aus dem Fenster sprangen und auf Schaumstoffmatten das Abrollen probten. Héctor trommelte mit den Fingern auf seine Kamera und sah zu den beiden hinüber.

»Ich glaube, wir sind hier fertig.«

Vor dem Eingang zum Schießstand warteten sie darauf, dass die Teilnehmer ihr Programm beendeten und der Bus sie zurück nach Thikro brachte. Vincent und Héctor saßen auf dem Bordstein und schirmten das Kameradisplay vor der Sonne ab. Sie gingen die Aufnahmen durch und trafen eine erste Vorauswahl. Beide waren müde, aufgekratzt und glücklich. Sie teilten sich eine Zigarette und spürten das Adrenalin langsam abflauen.

»Habt ihr Zeit für einen kleinen Ausflug?«, fragte Milo, der sich vor ihnen aufgebaut hatte. Die beiden blickten zu ihm auf.

»Wohin soll es denn gehen?«

»Das ist eine Überraschung.« Er hielt die Hände in den Hosentaschen vergraben und grinste. »Journalisten fahren in fremde Länder, um das Schlechte zu finden. Ich zeige euch etwas Schönes, einverstanden?«

Vincent warf einen Blick zu Héctor, dem er eine frühe Heimkehr versprochen hatte, doch Héctor zuckte nur mit den Schultern und nickte. Milo verschwand in den Straßen des Dorfes, das an den Schießstand grenzte, und kam eine Viertelstunde später in einem alten Peugeot Viersitzer zurück. Er saß auf dem Beifahrersitz und kurbelte das Fenster hinunter.

»Ist das ein Taxi?«, fragte Vincent.

»Nein, das ist Josua.«

Der Mann hinter dem Steuer trug einen staubigen Anzug und hob grüßend die Hand. Milo nannte ihnen den Preis, den er ausgehandelt hatte, und Vincent reichte ihm die entsprechenden Scheine weiter. Josua steckte sie in seine Jackentasche, räumte einen Kindersitz und Plastikflaschen von der Rückbank, und sie stiegen ein.

Sie waren erst wenige Minuten gefahren, als Josua den Blinker setzte und am Straßenrand hielt. Milo kurbelte das Fenster hinunter und eine alte Frau streckte ihren Kopf ins Wageninnere. Sie hatte ein fadenscheiniges, weißes Tuch um die Haare gebunden. Nach einem kurzen Wortwechsel löste Milo seinen Gurt. Er kletterte zwischen den Sitzen hindurch und pferchte sich zwischen Vincent und Héctor auf die Rückbank.

»Wir nehmen sie ins nächste Dorf mit. Sie steht schon eine Weile an der Straße.«

»Warum fährt sie denn per Anhalter?«

»Das macht ihr nichts aus. Es ist nicht gefährlich, sagt sie. Schon als junges Mädchen ist sie die Strecke getrampt.«

Vincent drückte seine Beine zur Seite, damit sich Milo anschnallen konnte, und stellte fest, dass das nicht möglich war. »Du hast ja gar keinen Gurt, Milo.«

»Schon okay, solange die beiden Ausländer angeschnallt sind. Ich kann nicht zulassen, dass einer von euch stirbt. Das gibt schlechte Publicity für die Stadt.«

»Wir können tauschen!«, sagte Héctor, der sich noch nicht an Milos Humor gewöhnt hatte, und Milo gab sich keine Mühe, darauf zu antworten. Die alte Frau hatte indes auf dem Beifahrersitz Platz genommen und drehte sich zu ihnen um. Sie hatte kein Gebiss mehr, Ober- und Unterlippe waren eingefallen. Sie streckte jedem einzelnen die Hand entgegen und murmelte einen Dank, den Milo nicht zu übersetzen brauchte. Ihre Hände waren so dünn und leicht wie Hühnerknochen.

Während der Fahrt wurden Vincent und Héctor zu Zaungästen eines Gesprächs, das die Einheimischen untereinander führten. Auch wenn es die zitternde Stimme der Alten nicht vermuten ließ, gab sie anscheinend ein Bonmot nach dem anderen zum Besten. Milo und Josua brachen regelmäßig in Gelächter aus.

»Was erzählt sie denn?«, flüsterte Vincent.

»Sie flirtet mit uns«, sagte Milo. »Sie sagt, sie ist froh, mit vier so hübschen jungen Männern zu reisen, die anderen Großmütter würden sicher eifersüchtig. Daraufhin Josua: ›Muttchen, ich mache mir Sorgen um deine Augen, ich bin doch hässlich wie die Nacht.‹ Daraufhin sie: ›Lass dir nichts einreden, so riesig ist dein Zinken nicht, wie alle immer sagen, und ein Auto hast du auch noch‹ …«

Durch die Flüsterübersetzung erneut auf die Ausländer aufmerksam geworden, drehte sich die Alte zu ihnen um. Ihre Augen waren glasklar und blau wie der Himmel. Sie sagte etwas und blickte Milo in Erwartung einer Übersetzung an.

»Sie möchte wissen, woher ihr kommt«, sagte Milo und übernahm es selbst, die beiden Männer vorzustellen. Héctor zog sich an der Nackenstütze nach vorne und suchte Milos Blick.

»Frag sie mal, wen sie hübscher findet, mich oder Vincent.«

Vincent senkte beschämt die Augen und lachte. »Tu das nicht, Milo.«

»Doch, frag sie mal!«, beharrte Héctor und stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. Milo stellte die Frage und die Alte hörte aufmerksam zu. Ihre Antwort brachte die Einheimischen wieder zum Lachen. Milo übersetzte: »Wenn du so fragst, den anderen.«

Als sie das Haus der Alten erreicht hatten, küsste Josua ihren Handrücken und drückte ihn an die Stirn. Alle im Wagen taten es ihm gleich. Sie bogen zurück auf die Straße, die sich immer steiler die Berge hinaufwand, und waren schon bald von dichten Wäldern umgeben. Auf einer gekiesten Fläche mitten im Nirgendwo kamen sie zum Stehen. Über zwanzig Wagen parkten dort bereits.

»Wir haben eine Stunde, dann bringt er uns zurück nach Thikro.«

Es duftete schwer nach Piniennadeln, als sie aus dem Wagen stiegen, und Milo führte sie auf einen Trampelpfad. Durch die Höhenlage und die schattenspendenden Bäume war das Klima angenehmer als unten im Tal. Nach dem Rattern der Maschinengewehre waren die Vogelsänge eine wahre Entspannung, und sie sprachen kaum ein Wort miteinander. Mit einer letzten Kletterpartie, bei der heraustretendes Wurzelwerk als Stufen diente, erreichten sie einen kreisrunden See. Ein dünner Wasserfall ergoss sich darin. In dem Becken, nicht größer als zehn mal zehn Meter, tummelten sich dutzende Menschen. Es war so voll, dass die Badenden ihre Arme nicht hätten ausstrecken können, ohne einander zu berühren. Sie schwammen nicht, sondern tauchten nur unter oder schöpften Wasser mit ihren Händen, das sie sich über die Köpfe gossen. Vincent war von der Schönheit des Ortes berührt und empfand die Menschenmassen gleichermaßen als surreal – es sah aus, als stünden sie in einem Kochtopf. Héctor schien ähnliche Assoziationen zu haben, jedenfalls holte er seine Kamera hervor und entfernte sich wortlos.

»Hast du Hunger?«, fragte Milo und führte ihn zu einem Bretterschlag zwischen den Bäumen. Dort saß eine Frau vor gewölbten Stahlschalen, unter denen ein Feuer brannte und auf deren Oberflächen sie dünne Fladenbrote buk. Während Milo bestellte, wandte sich Vincent wieder dem Becken zu. Das menschliche Suppengrün bewegte sich in konzentrischen Kreisen, als würde es langsam gerührt. Bisweilen verließ eines den Kreis und stakste tropfend das Ufer hinauf.

Milo drückte ihm drei Dosen Fanta in die Hand, und sie setzten sich auf einen flachen Stein ans Wasser. Sie entdeckten Héctor auf der anderen Seite, halb verborgen zwischen Bäumen und Familien, die dort auf Picknickdecken saßen. Héctor und er waren die einzigen Ausländer.

Milo faltete das ölige Papier auseinander und riss die Fladenbrote in dampfende Stücke. Er leckte seine Fingerkuppen ab und nahm einen Anruf entgegen, der sich vibrierend in seiner Westentasche bemerkbar gemacht hatte. Mit dem wachsenden Respekt, den Vincent ihm gegenüber empfand, lauschte er den fremdartigen Klängen von Milos Muttersprache. Dieser beendete das Gespräch und schob das Handy in seine Westentasche zurück.

»Wie kommt es, dass du so gut Englisch sprichst?«, fragte Vincent.

»Filme und Bücher, und ein gewisses Sprachtalent, nehme ich an.«

»Keine Auslandsaufenthalte?«

»Ich habe mein ganzes Leben in Thikro verbracht.«

Ob darin Stolz oder Bedauern mitschwang, konnte Vincent schwer sagen. Milo stupste ihn mit der Schulter an.

»Na, bist du zufrieden mit deinen Interviews?«, fragte er.

»Sehr zufrieden. Ich dachte, auf den Schießständen wären nur Proleten unterwegs, stattdessen habe ich mit klugen, reflektierten Menschen gesprochen. Moralisch fragwürdig, aber nicht dumm. Es ist immer gut, von den eigenen Recherchen überrascht zu werden.«

Milo lachte. »Wenn wir von unseren Recherchen nicht überrascht werden, sollten wir den Job wechseln. Sonst machen wir ja keinen Journalismus mehr, sondern schreiben entlang unserer Vorurteile.«

»Machen wir das nicht alle ein Stück weit?«

»Umso stärker müssen wir dagegen ankämpfen.«

Vincent fand das ein wenig naiv, und er erinnerte sich daran, wie jung Milo noch war. Er hatte kein Interesse, seinen Idealismus auseinanderzunehmen und schob sich stattdessen eines der Brotstücke in den Mund. Sie waren mit Schafskäse und Spinat gefüllt und schmeckten ausgezeichnet.

»Ich gehe morgen auf die Party einer Amerikanerin, für die ich arbeite«, sagte Milo. »Die gesamte Expat-Gemeinde der Stadt wird versammelt sein, Entwicklungshelfer, Menschenrechtler, Wissenschaftler … falls du noch Kontakte brauchst.«

»Sehr gerne«, sagte Vincent und notierte sich den Termin in seinem Kalender. »Diese Freundin, von der du erzählt hast, Cora. Ist sie auch dabei?«

»Ich kann sie fragen.«

Héctor setzte sich zu ihnen und präsentierte seine Aufnahmen. Vincent gab ihm das Lob, das er hören wollte, und tat sich nicht schwer damit – es waren wirklich großartige Bilder. Sie tauchten die Füße ins Wasser und streckten ihre Gesichter der Sonne entgegen. Der Krieg, die hechelnde Gier der Stadt waren weit weg. Sie saßen beisammen, bis einige Meter entfernt Josua ans Ufer trat. Sie zogen sich die Strümpfe über die nassen Füße und folgten ihm zurück zum Parkplatz.

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