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Die Jahre im Heim vergingen und Juliane zog sich immer weiter zurück. Auch die letzten Kontakte zerrissen und als sie die Einrichtung endlich mit achtzehn Jahren verlassen durfte, blickte die junge Frau in eine ungewisse Zukunft. Juliane war aufgeregt und überglücklich, die tristen Mauern hinter sich zu lassen aber ebenso auch unsicher und angsterfüllt. In den vorangegangenen Monaten hatte sie sich um einen Ausbildungsplatz als Näherin in einer kleinen Nähstube im Ort bemüht. Juliane war angenommen worden, aber die Unsicherheit über ihre Zukunft blieb und zerfraß jede aufkeimende Hoffnung.

Juliane hatte mit der Heimleitung abgesprochen, dass sie noch ein paar Wochen in ihrem alten Zimmer wohnen durfte. Allerdings sah sie diesen Umstand nur als Notlösung. Sie wollte so schnell wie möglich aus der Beengtheit ihres kleinen Zimmers hinaus, die schlechten Erfahrungen hinter sich lassen und selbstständig sein.

Der Beginn der Lehrzeit war einer der schönsten Abschnitte in Julianes Leben. Ihre alte Lehrmeisterin zeigte der jungen Frau alles, was sie wissen musste und noch mehr. Zwischen den beiden entstand eine innige Beziehung auf der Ebene ehrlicher Zuneigung. Die Frau, sie zählte weit über achtzig Jahre, bezeichnete Juliane öfter als ihre Tochter, was ihre leiblichen Kinder nicht allzu gerne hörten. Hinzu kam, dass Juliane eines der Hinterzimmer der Schneiderei bewohnen durfte, ohne dafür Miete zahlen zu müssen. Die Schneidermeisterin hatte es nicht übers Herz gebracht “ihrem Mädchen“, wie sie Juliane nannte, etwas von dem verdienten Geld wieder abzunehmen. Juliane liebte die Lehrmeisterin und bemühte sich, alles so gut es ging aufzunehmen, was sie ihr beibrachte. Sie wollte die alte Dame auf keinen Fall enttäuschen.

Dann standen die Prüfungen an und Juliane lernte fleißig, was ihr keine Schwierigkeiten bereitete. Als der große Tag gekommen war, zahlte sich ihr Durchhaltevermögen aus. Juliane bestand die praktische Prüfung mit einer glatten Eins und die theoretische Arbeit mit der Note zwei.

Voller Stolz zeigte sie das Abschlusszeugnis ihrer Lehrmeisterin, die anerkennend nickte und Juliane liebevoll mit dem Handrücken über die gerötete Wange strich. Insgeheim hatte die alte Frau nichts anderes erwartet, da sie wusste, wie gut Juliane mit Nadel und Faden umging.

»Warte einen Moment, ich habe etwas für dich.« Langsam wackelte sie in den Nebenraum und Julianes Aufregung wuchs noch ein wenig. Nach einer kleinen Weile kehrte sie zurück und hielt etwas, das liebevoll in Seidenpapier eingeschlagen war, in ihren Armen.

»Herzlichen Glückwunsch mein Kind! Ich hoffe es gefällt dir.« Die sonst so resolute Frau, die sich zu jeder Zeit und in jeder Situation durchzusetzen vermochte, schluckte. So hatte Juliane sie noch nie gesehen. Der Moment ging der alten Frau zu Herzen, das machte ihn für die Schülerin noch bedeutsamer und das Geschenk umso wertvoller. Mit zitternden Händen schlug Juliane das federleichte Papier vorsichtig zur Seite. Darunter zum Vorschein kam eine kunstvoll gefertigte Jacke aus feinster, cremefarbener Wolle. Sie war reich mit Blüten unterschiedlichster Art verziert. Über die gesamte Rückseite, die fast bis zu den Kniekehlen reichen musste, wanden sich Ranken in mehreren Grüntönen, deren Auswüchse ebenfalls in farbenfrohen Blüten endeten. Juliane faltete das Kunstwerk auseinander und hielt den Atem an. Sie brachte keinen Ton heraus, konnte den Blick nicht von diesem wunderbaren Geschenk nehmen. Niemals hatte sie etwas Wertvolleres besessen. Unwillkürlich dachte sie an ihre Zeit in den Kinderheimen und erschauerte.

›Damals wäre es ganz sicher jemandem gelungen, dieses traumhaft schöne Geschenk zu zerstören.‹ Für eine Sekunde verkrampfte sie ihre Finger in das Material, das sich so weich anfühlte. Dann entspannten sich Julianes Züge wieder und ein befreiendes Lächeln umspielte ihre Augen. Sie war in Sicherheit. Niemand konnte ihr hier noch etwas antun.

Die junge Frau erinnerte sich daran, dass ihre Lehrmeisterin manchmal davon erzählte, wie gerne sie früher gestrickt hatte. In jeder freien Minute hatte sie die Nadeln »fliegen lassen«, wie sie es nannte.

Während sie es erzählte, begannen ihre milchigen Augen zu glänzen. Doch dann hatte ihr die Gicht diese Freude genommen. Die Finger waren immer steifer geworden und das Stricken bereitete irgendwann solche Schmerzen, dass sie es ganz aufgegeben hatte.

»Willst du sie nicht anprobieren?« Die Lehrmeisterin hielt ihr das Kleidungsstück hin, damit Juliane hineinschlüpfen konnte. »Sie ist zum Tragen gedacht, nicht zum Ansehen.« Ein verschmitztes Lächeln ließ die Falten um ihre Augen noch etwas tiefer werden. Vorsichtig schlüpfte Juliane in das Kleidungsstück. Es schmiegte sich an ihren schlanken Körper wie eine wärmende Decke. Ehrfurchtsvoll strich sie langsam mit den Händen über die Wolle und fuhr mit den Fingerspitzen die Muster der Blüten entlang.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte sie. Dann, noch bevor ihre Lehrmeisterin etwas entgegnen konnte, sprang sie der alten Frau entgegen und schloss sie in ihre Arme.

»Danke, danke, ... ich danke dir von ganzem Herzen!«, schluchzte Juliane unter Tränen. Die kleine Frau in ihren Armen hob eine Hand, um ihr behutsam über den Kopf zu streichen.

»Es ist alles in Ordnung. Es gibt niemanden auf dieser Welt, der sie mehr verdient als du.«

Erst später, in ihrer Stube, wurde Juliane bewusst, was es für die alte Frau bedeutet haben musste, eine solche Jacke zu stricken. Sie stellte sich vor, wie sie tausende von Maschen unter Schmerzen verbunden hatte, um ihr dieses Geschenk machen zu können. Juliane hütete die Jacke wie einen Schatz und zog sie nur ganz selten an, um sie zu schonen.

Bereits gegen Ende der dreijährigen Lehrzeit hatte sich der gesundheitliche Zustand der alten Frau zusehends verschlechtert. Die Augen bereiteten ihr schon geraume Zeit Sorgen und der krumme Rücken war bereits vor Jahrzehnten zu ihrem Markenzeichen geworden. Als Juliane sie eines Tages zusammengekrümmt, mit verkrampften Armen auf dem Boden liegend fand, ahnte sie Schlimmes.

Der Notarzt brachte die Greisin umgehend ins Krankenhaus und diagnostizierte bereits auf dem Weg dorthin einen Herzinfarkt. Als sie zwei Wochen darauf nach Hause entlassen wurde, geschah das nur mit dem ausdrücklichen Hinweis des Arztes, dass sie sich unbedingt schonen müsse.

»Schonen, pah! Wenn der Deckel sich schließt, dann werde ich mich schonen!«, waren die Worte, die dem Arzt in den Ohren klingelten, als seine Patientin das Sprechzimmer verließ.

Während ihre Chefin sich im Krankenhaus befunden hatte, war Juliane nach besten Kräften im Laden eingesprungen. Sie hatte die Kunden bedient, Ware bestellt und natürlich die Aufträge ausgeführt und abgerechnet. Als die Besitzerin aus dem Krankenhaus zurückkehrte, betrat sie einen Laden der vor Sauberkeit blitzte und strahlte. Juliane legte ihr das Auftragsbuch vor und die Lehrmeisterin nickte zufrieden, als sie die vollen Seiten überflog. »Du hast sehr viel und sehr gut gearbeitet, mein Kind!« Mit einem Seufzer ließ sie sich auf einen wurmstichigen Holzschemel fallen, der in einer Ecke des Ladens stand. »Setz dich zu mir, ich muss mit dir reden.« Juliane überkam ein bedrückendes Gefühl, als sie den Stuhl hinter dem Kassentisch hervorzog und sich hinsetzte. Die gebrechliche Frau beugte sich vor und nahm die Hände ihrer Schülerin in ihre eigenen faltigen, die mit Altersflecken übersät waren. Sie sagte nichts, sah nur mit versunkenem Blick auf die junge, glatte Haut Julianes hinunter, die sie zärtlich mit ihren Fingern streichelte.

»Weißt du, ich habe nachgedacht.« Julianes Herz wurde immer schwerer, aber sie beherrschte sich und schluckte. »Das war nicht mein erster Herzinfarkt. Letzten Sommer ging es mir schon einmal sehr schlecht, aber ich habe dir nichts gesagt, weil ich nicht wollte, dass du dir Sorgen machst.« Juliane setzte an, um etwas zu erwidern, doch die resolute Frau unterbrach sie mit einer kurzen Bewegung ihrer Hand.

»Es ist wichtig, dass du mir zuhörst.« Sie hob den Kopf und sah nun direkt in Julianes besorgte, weit geöffnete Augen. »Ich gehe auf die neunzig und meine Zeit ist bald gekommen. Doch bevor ich gehe, möchte ich, dass du eines weißt.« Sie unterbrach sich erneut und atmete schwer.

»Ich habe einige Näherinnen ausgebildet, viele Mädchen kommen und gehen gesehen, du bist die beste von allen. Du weißt nicht nur mit dem Garn und den Stoffen umzugehen, kennst nicht nur die Muster und Schnitte. Du liebst die Arbeit. Ich bin sehr froh, dass du mich gefunden hast, bevor ich gehen muss. Ich habe einen Wunsch und würde mich sehr freuen, wenn du ihn mir erfüllst.« In Julianes Augen spiegelten sich Gefühle wie Angst, Verwunderung und Dankbarkeit und sie merkte, wie ihr die Tränen kamen.

»Ich wünsche mir, dass du meinen kleinen Laden übernimmst, wenn ich nicht mehr da bin.« Die junge Frau rutschte vom Stuhl auf die Knie, legte ihren Kopf auf den Schoß ihrer Lehrmeisterin und schluchzte. Die Tränen liefen ihre Wangen hinab und wurden vom schweren Stoff des Rocks der alten Dame aufgesogen. Sie ließ ihre zittrigen Hände zärtlich über die langen, braunen Haare Julianes gleiten. Eine Zeitlang saßen die beiden still beisammen und gaben sich der gegenseitigen, tief empfundenen Zuneigung hin. Dann richtete Juliane sich langsam auf und sah der alten Frau in die milchig, wässrigen Augen.

»Ich habe mich in meinem Leben niemals so wohl gefühlt wie bei dir«, kam es über ihre Lippen. »Du hast mich aufgenommen und bei dir fühle ich mich zuhause. Ich bin so froh und danke dir von Herzen!« Juliane schniefte kurz und setzte dann mit fester Stimme hinzu, »Ich werde alles dafür tun, dich stolz zu machen.«

»Aber das bin ich doch längst, mein Kind«, die alte Frau zwinkerte Juliane zu. »In den nächsten Tagen werde ich alle Unterlagen zum Notar bringen, der wird dann die Papiere ordnen und du wirst sie unterschreiben. Damit wird alles festgeschrieben und niemand kann mehr etwas daran ändern.« Die Alte schlug sich wie zur Bestätigung, mit der vor Gicht gekrümmten Hand, auf den Oberschenkel.

Juliane

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