Читать книгу Das geschenkte Universum - Arnold Benz - Страница 11
Rationalität der Natur
ОглавлениеWarum fallen interstellare Molekülwolken unter ihrer eigenen Schwere nicht zusammen, wie es Newton postulierte? Die Masse aller Moleküle in den Wolken übersteigt jene der Sonne um das Hundert- bis Millionenfache. Würde eine solche Wolke zusammenfallen, entstünde kein Stern mit möglichen Planeten, sondern ein Schwarzes Loch,5 aus dem kein Licht entweichen könnte. Die Kollapszeit von Molekülwolken wäre weniger als eine Million Jahre, und damit viel kürzer als das Alter unserer Galaxie. Würden die Wolken einfach kollabieren, gäbe es in unserer Galaxie schon lange keine Materie mehr für neue Sterne. Newtons Vorstellung von interstellaren Wolken war zu stark von irdischen Wolken geprägt. Er wusste nicht, dass Molekülwolken ständig in chaotischer Bewegung sind. Wolkenteile bewegen sich in allen Richtungen, schießen aneinander vorbei und fallen nicht einfach zusammen. In einer statischen Wolke, wie sie sich Newton vorstellte, wäre die Schwerkraft gegen das Zentrum gerichtet. Die gegenseitige Anziehung der verschiedenen Wolkenteile geht jedoch in einem Tohuwabohu von Bewegungen unter.
Chaos stabilisiert die Molekülwolken, wenn auch nicht vollständig. Die Turbulenz gibt Molekülwolken eine Lebenszeit von einigen zehn Millionen Jahren. In dieser Zeit bilden sich an bestimmten Stellen in der Wolke lokale Verdichtungen, die ungefähr die Masse der Sonne aufweisen, die Wolkenkerne. Infolge der ungeordneten Wirbelströmungen teilt sich eine Wolke in Hunderte von Komponenten auf. Computersimulationsrechnungen zeigen, dass sich zufällige Dichtekonzentrationen zu Wolkenkernen verstärken, aus denen, wie wir später sehen werden, schließlich Sterne entstehen. Während das turbulente Chaos der Klumpen die Molekülwolke stabilisiert, lässt es auch zu, dass lokal – in kleinen, dichten Gebieten – Neues entsteht. Während der Lebenszeit einer Molekülwolke werden höchstens 10 Prozent ihrer Materie in Sterne umgesetzt.6 Dann wird die Strahlung der jungen Sterne so stark, dass der Staub verdampft, die Moleküle aufbrechen und Sternwinde die Wolke auseinanderreißen. Der Rest der Wolke verliert sich in den Weiten unserer Galaxie. Das Alte vergeht, es entstand etwas Neues und tritt an seine Stelle: ein Sternhaufen.
Newtons Stabilitätsproblem hat eine rationale Erklärung gefunden in der Dynamik der Molekülwolken. Beim genaueren Hinsehen entpuppt sich die Wirklichkeit anders als die besten Vorstellungen und als erstaunlich vielfältiger. Die Komplexität hat ihren Grund: Es spielen viele Prozesse und verschiedene Teile in das Geschehen hinein. Was an einem Ort in der Molekülwolke passiert, hat einen Einfluss an den anderen Orten. Je nach den Umständen verhindert der erste Stern vielleicht das Entstehen eines weiteren Sternes an einer bestimmten Stelle und fördert es an einer anderen. Sterne entstehen nicht isoliert. Schon bei ihrer Entstehung sind sie vernetzt mit einer Umgebung von Hunderten von Lichtjahren. Von den vielen Vorgängen, die ineinandergreifen, damit ein Stern entsteht, werden wir im nächsten Kapitel einige beispielhaft herausstellen. Bemerkenswert ist: Newtons Hypothese, dass Gott dort zu finden ist, wo unser Verstehen aufhört, hat sich nicht bestätigt.
Wir wissen nicht, wie Molekülwolken entstehen. Sie bilden sich vermutlich, wenn die Dichte von Wasserstoffatomen und Staub im interstellaren Raum aus irgendeinem Grund etwas höher ist. Es gibt rund 6000 riesige Molekülwolken in unserer Galaxie, in jeder sind Tausende bis Millionen von Sternen im Stadium des Entstehens. In weniger als 10 Millionen Jahren verschwinden die Wolken wieder und neue entstehen. Was in den Molekülwolken vor sich geht, verstehen wir ebenfalls noch nicht vollständig, und je mehr wir verstehen, desto mehr Unbekanntes erscheint. Die Brutstätte der Sterne bleibt im Grunde rätselhaft wie vor Jahrhunderten. Das rationale Erforschen der Vorgänge hat sie nicht enträtselt, nur die Grenze unseres Wissens verschoben. Wenn ich im Gewirr einer dunklen Molekülwolke bläulich funkelnde junge Sterne umgeben von heißem rötlichen Gas sehe, spricht mich nicht nur das Unbekannte und Rätselhafte an. Noch mehr staune ich über die Vielfalt und Zweckmäßigkeit der uns bekannten Vorgänge, die Neues entstehen lassen. Rationalität behindert das Staunen nicht.
Abbildung 3: Dunkle Molekülwolken im Rosettennebel, dreitausend Lichtjahre entfernt, sind von einem zehntausend Grad heißen, leuchtenden Gas umgeben. In den Molekülwolken sind neue Sterne am Entstehen (Foto: N. Wright, UCL, IPHAS collaboration).